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Wahlen in Sachsen und Thüringen: Wie sich die Demokratie gegen Rechtsextremismus verteidigen kann
Wahlen in Sachsen und Thüringen: „Der Kontrollverlust gehört mittlerweile zur DNA des Ostens“
Die Wahlbeteiligung ging hoch – und ebenso der Zuspruch zur AfD. Wie ist der Zustand der Demokratie und wie viel Ostdeutschland steckt in den Wahlergebnissen? Der thüringische Bürgerrechtler Ralf-Uwe Beck fordert ein Demokratie-Update – und mehr Mut zum Experimentieren. Ein Interview.
Noch nie in der Bundesrepublik Deutschland war eine rechtsextreme Partei als stärkste Kraft aus einer Wahl hervorgegangen – bis zum vergangenen Sonntag. In Thüringen kam die AfD unter Landeschef Björn Höcke deutlich vor der CDU und den anderen Parteien ins Ziel. Dort und bei der Landtagswahl in Sachsen erhielt sie jeweils fast ein Drittel der abgegebenen Stimmen. Wie viel Ostdeutschland steckt in diesen Ergebnissen – und was bedeuten sie für unsere Demokratie?
RiffReporter sprach darüber mit dem Bürgerrechtler Ralf-Uwe Beck. Der Thüringer ist Pastor, Umweltschützer und Demokratie-Aktivist. Als Bundesvorstandssprecher der zivilgesellschaftlichen Initiative Mehr Demokratie setzt er sich für eine stärkere Beteiligung der Bevölkerung an politischen Entscheidungen ein. Ein Gespräch über die Frage, wie eine „Vorwärtsverteidigung“ der Demokratie jetzt aussehen könnte.
Herr Beck, bei den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen gab es eine hohe Wahlbeteiligung von deutlich über 70 Prozent. Zugleich entfiel fast jede dritte Stimme auf eine rechtsextreme Partei. Was lässt sich daraus für den Zustand der Demokratie ableiten?
Die Menschen haben zweifellos ein Interesse an Politik und daran, ihre demokratischen Rechte zu nutzen. Natürlich gibt es auch diejenigen, die von allem die Schnauze voll haben und ihre Unzufriedenheit ausdrücken wollen – einige von ihnen wählen dennoch und machen ihr Kreuz dann bei der AfD. Wobei der Anteil an Proteststimmen bei der AfD in den vergangenen Jahren mit jeder Wahl zurückging …
… Befragungen zufolge haben jetzt erstmals die meisten Wähler:innen die AfD nicht aus Protest, sondern aus Überzeugung gewählt. Spricht das für verbreitete rechtsradikale Einstellungen – oder für eine programmatische Leere der anderen Parteien?
Ich fürchte, wir erleben tatsächlich einen zunehmenden Werteverfall und einen wachsenden Anteil an Menschen, die sich rechtsextrem orientieren.
Manche Kommentator:innen sehen in den AfD-Erfolgen ein ostdeutsches Phänomen. Andere verweisen darauf, dass rechte Parteien in anderen Staaten wie Österreich oder Frankreich schon seit langem großen Zulauf haben. Wer hat Recht?
Das Phänomen AfD gibt es auch im Westen. Aber die Wahlergebnisse jetzt stechen heraus, insofern steckt da schon ein Teil Ostdeutschland mit drin. Der Osten hat dem Westen eines voraus: Die Menschen haben gemeinschaftlich ein Regime aus dem Sattel gehoben – ein Schlüsselerlebnis der Selbstwirksamkeit, wie sie sich größer wohl kaum erfahren lässt. Im Herbst 1989 sind die Menschen ins Innere aufgebrochen: Sie haben sich um ihre eigenen Angelegenheiten gekümmert, sie sind den Erklärungsmustern der Partei- und Staatsführung nicht mehr gefolgt, sondern haben sich ihr Land zu eigen gemacht. Diese Erfahrungswelt ist viel zu schnell leergesaugt worden durch die Deutung, dieser Aufbruch habe sich mit der Deutschen Einheit erfüllt. Das ist falsch. Ich will die Einheit nicht schmälern, sie war Wunder und Wahnsinn und hat großes Leid von geteilten Familien beendet. Aber wir sind dem Freiheitsbegriff des Westens aufgesessen.
Was meinen Sie damit?
In der friedlichen Revolution sind wir aufgebrochen, uns von diktatorischen Verhältnissen zu befreien und haben eine Freiheit entdeckt, die wir vor allem als Gestaltungsfreiheit erlebt haben. Nach dem Fall der Mauer trat an die Stelle der Gestaltungsfreiheit die Konsumfreiheit. Von der revolutionären Kraft des Ostens ist einiges in den Supermarktregalen des Westens hängengeblieben. Die Ostdeutschen hatten sich immer als Deutsche zweiter Klasse gefühlt, und die Vorsilbe „West“ war für uns identisch mit „besser“: Das West-Auto, die West-Kaugummis, die West-Zahnpasta. Die Einheit war also das Upgrade in die erste Klasse – das jedenfalls war die Hoffnung. Doch sie hat sich nur teilweise erfüllt. Was verloren gegangen ist, ist der Strang aus dem Herbst 1989: Das Gefühl der Selbstwirksamkeit hat keine Rolle mehr gespielt. Der Kontrollverlust gehört mittlerweile zur DNA des Ostens.
Das Gefühl, selbst etwas verändern zu können, ging verloren?
Für die Menschen im Westen hat sich mit der Wende nur die Postleitzahl geändert, für die Menschen im Osten das ganze Leben. Aber wenn über diese Anpassungsleistung gesprochen wird, dann wird meistens von den Ostdeutschen verlangt, dass sie sich beim Westen bedanken sollen für die blühenden Landschaften, die Helmut Kohl besungen hat. Aber die entsprechen ja nicht der Realität: Wir haben immer noch ein massives Lohngefälle, die Ossis sind unterrepräsentiert in Führungspositionen. Aus dieser Erfahrung hat sich eine große Transformationsmüdigkeit entwickelt. Die Vorsilbe „West“ hatte uns damals angesaugt. Was uns ab den 1990er-Jahren abgestoßen hat, ist die Nachsilbe „-wende“. Das Wendeerlebnis war für viele sehr schmerzhaft, und von daher sind diese ganzen Begriffe „Zeitenwende“, „Energiewende“ oder „Mobilitätswende“ nicht gerade hoffnungsbesetzt. Hinzu kommt: Das große Versprechen der Demokratie ist, dass die Menschen die Dinge, die sie betreffen, selbst beeinflussen können. Das fühlt sich für viele Ostdeutsche nicht mehr so an. Die Demokratie ist weiterhin hochgeschätzt, die meisten in West wie Ost sagen: Auf dem Papier ist das die beste Regierungsform. Aber die meisten Ostdeutschen sagen inzwischen: Die real existierende Demokratie ist nicht mehr in Ordnung.
Warum führt das zu Stimmen für rechtsextreme Parteien – gerade, wenn es nicht nur um Protest geht?
Die AfD bietet die scheinbar einfachsten Lösungen an und liefert Feindbilder gleich mit. Die Sündenbock-Saga funktioniert seit Urzeiten: Sie erklärt jemanden für schuldig, zum Beispiel Migranten, und befasst sich überhaupt nicht mehr mit den Menschen hinter diesem Etikett. Das ist das Perfide, was die AfD tut – und viele, die ihr nacheifern. Wir erleben gerade, dass nach dem schrecklichen Attentat in Solingen auch andere Parteien Migranten pauschal unter Generalverdacht stellen und grundsätzlich als Angriff auf unsere Sicherheit sehen.
Die AfD hat etwa drei Mal so viele Stimmen erhalten wie die Ampelparteien, die im Bund immerhin die Regierungsmehrheit stellen. Dazu kam das BSW aus dem Stand auf zweistellige Ergebnisse. Ist das auch eine Reaktion der Ostdeutschen darauf, in der Bundespolitik noch immer nicht ausreichend vertreten und gesehen zu werden?
Das geht mir zu weit. Es ist Fakt, dass die Ostdeutschen in der Bundespolitik zu wenig wahrgenommen werden – aber eine Quittung haben die Menschen der Ampel aus anderen Gründen ausgestellt. Was ich dieser Koalition vorwerfe: Sie hätte viel tun können, um dem Populismus den Boden entziehen – nämlich viel mehr mit den Menschen ins Gespräch zu gehen. Dass ausgerechnet ein grüner Minister ein Heizungsgesetz ohne jede Bürgerbeteiligung vorlegt, das verstehe ich nicht. Dass die SPD die Kontroverse über die Stationierung von US-amerikanischen Mittelstreckenraketen innerhalb von zwei Tagen beendet, war ebenfalls nicht klug. Das Thema treibt die Ostdeutschen um – und dann entscheidet der Kanzler einfach im Alleingang, ohne jeden Bundestagsbeschluss. Dass die Menschen das merkwürdig finden, ist doch klar. Durch solche Versäumnisse sind sie anfälliger für die Angebote der AfD und auch des BSW. Ich habe mir den Gründungsparteitag und mehrere Wahlveranstaltungen angesehen. Sahra Wagenknecht macht eigentlich nur eines: Sie stellt eine Tonne nach der anderen auf und gibt den Leuten die Möglichkeit, dort hineinzukotzen. Das ist wenig konstruktiv, verfängt aber.
Bleibt die CDU bei ihrer erklärten Linie, wird die AfD in beiden Bundesländern nicht an einer Regierung beteiligt. Welchen konkreten Einfluss kann sie dennoch haben? In Thüringen hat die Partei im Landtag immerhin eine Sperrminorität erreicht – kann das die Demokratie substanziell verändern?
Ein Beispiel: In Thüringen obliegt es einem Richterwahlausschuss, die Richter auf Lebenszeit zu bestellen. Dieser Ausschuss wird mit Zweidrittelmehrheit gewählt. Er wird eine wichtige Rolle spielen, weil in den nächsten Jahren altersbedingt 400 Richterstellen neu besetzt werden müssen. Die AfD erhält hier ein großes Erpressungspotenzial, weil ohne ihre Stimmen keine Richter bestellt werden können. Entweder werden die anderen Parteien ihr also Ämter gewähren müssen, die Programmatik der AfD wird zur Verhandlungsmasse. Oder die AfD setzt weiter alles daran, funktionierende parlamentarische Strukturen zu sabotieren, um das als Beleg für das Versagen der anderen Parteien heranzuziehen. Wenn man das weiterspinnt: Die AfD könnte die Bestellung von Richtern blockieren, was den ohnehin schon vorhandenen Personalmangel an den Gerichten verschärfen würde, was letztlich am Funktionieren und am Ansehen des Rechtsstaates kratzt. Dass die Folgen einer Sperrminorität so weit reichen, ist aber auch ein Versagen des Landtags.
Inwiefern?
Er hat es versäumt, die Demokratie vor der Wahl durch Verfassungsänderungen zu schützen. Bisher kann der Ministerpräsident im Alleingang Medienstaatsverträge kündigen – dieses Recht hätte man an den Landtag binden können. Bisher ist die Wahl des Ministerpräsidenten geheim und nicht offen, das hätte man ändern können. Und auch bei der Demokratieentwicklung wurde viel diskutiert, aber wenig umgesetzt. Die CDU hatte in Thüringen vor einigen Jahren sogar ein fakultatives Referendum nach Schweizer Vorbild ins Gespräch gebracht, dann aber nichts mehr davon wissen wollen.
Welches Update braucht unsere Demokratie, um sich besser vor Rechtsextremismus schützen zu können?
Die AfD lebt von der Darstellung: Die da oben machen, was sie wollen – und wir hier unten haben keine Chance, uns dagegen zu wehren. Die ehrlichste Antwort darauf wäre der Ausbau direkter Demokratie. Dann können die Menschen Dinge selbst bewegen. Bisher gibt es in Thüringen nur auf kommunaler Ebene gute Möglichkeiten für Bürgerbegehren, auf Landesebene nicht, in Sachsen ebenso und auf Bundesebene fehlt die direkte Demokratie gänzlich.
Volksentscheide fordert auch die AfD – viele würden angesichts der Wahlergebnisse in Sachsen und Thüringen wohl eher sagen: Bloß nicht.
Die AfD spielt dieses Thema, versteht darunter aber etwas ganz anderes. Sie will die direkte Demokratie in Stellung bringen gegen die parlamentarische Demokratie. Dabei geht sie von einer homogenen Volksmasse aus, die in einer Volksabstimmung mal eben ihre Meinung artikuliert, die die Führer des Volkes dann umsetzen. Grundrechte- und Minderheitenschutz will sie abschaffen. Echte direktdemokratische Beteiligung ist etwas ganz anderes. Hier werden die Sachfragen von unten an die Politik herangetragen. Wer eine Volksabstimmung initiiert, muss auf der Straße in mehreren Stufen um Unterstützung werben. Das ist ein langer Prozess, mit den Menschen ins Gespräch kommen – also ein Mittel, mit dem man versachlichen und Populismus entlarven kann. Grund- und Minderheitenrechte anzutasten, ist dabei tabu. Fatal war und ist es, dieses Thema der AfD zu überlassen, anstatt es so zu besetzen, dass die direkte Demokratie die parlamentarische Demokratie stärkt und nicht etwa schwächt.
Der Präsidentschaftswahlkampf in den USA hat durch Verzicht von Amtsinhaber Joe Biden eine neue Dynamik gewonnen. Die demokratische Kandidatin Kamala Harris hat in kurzer Zeit einen Stimmungsumschwung erreicht. Können wir uns in Deutschland etwas abschauen, um eine ähnliche Begeisterung für demokratischen Wettstreit zu entfachen?
Begeisterung entsteht durch Beteiligung, dafür gibt es genug Ideen. Wir brauchen jetzt eine Vorwärtsverteidigung der Demokratie, einen Innovationsschub und viel mehr Mut, ins Experiment zu gehen. Das beginnt beim Wahlrecht: Wir könnten eine Proteststimme einführen, mit der die Menschen bei einer Wahl ankreuzen können, dass sie keine geeignete Partei gefunden haben. Wir könnten auf kommunaler Ebene ausprobieren, ob wir die Briefwahlunterlagen und Informationen über sämtliche Kandidaten einfach ungefragt an alle Wahlberechtigten schicken. Wir brauchen auf allen Ebenen direkte Demokratie, damit die Menschen auch selbst verbindliche Entscheidungen treffen können, wenn es ihnen zu bunt wird. Und wir müssen es als staatliche Aufgabe verstehen, das Informationsdefizit über die längst bestehenden Möglichkeiten der Mitgestaltung zu beseitigen. Hier brauchen wir einen Kulturwandel bei Politik und Verwaltungen: Es darf nicht mehr sein, dass eine Verwaltung zu Tricks greift, damit ein Bürgerbegehren nicht zugelassen wird. Sie muss die Menschen aktiv einladen, diese Möglichkeiten zu nutzen, und dabei helfen, dass das Begehren zulassungsfähig wird. Experimentieren, einladen und einmischen, das ist das Programm, das auf diese Landtagswahlen folgen muss.
Vielen Dank für das Gespräch.
Transparenzhinweis: Martin Rücker ist förderndes Mitglied im Verein Mehr Demokratie.