Wie der Kolonialismus bis heute nachwirkt: Über das Verhältnis zwischen Afrika und Europa
Interview mit Dr. Boniface Mabanza und Olaf Bernau im Rahmen der digitalen Veranstaltungsreihe „Afrika inspiriert“ des Kölner Rautenstrauch-Joest-Museums.
Bettina Rühl: Wir sprechen heute über ein hochaktuelles Thema, nämlich über das Verhältnis zwischen Afrika und Europa sowie die Frage, wie der Kolonialismus bis heute nachwirkt. Ich freue mich sehr, dass ich zu diesem Thema Dr. Boniface Mabanza und Olaf Bernauauf dem digitalen Podium begrüßen darf.
Im Vorgespräch zu dieser Veranstaltung habe ich mit Dr. Mabanza darüber gesprochen, was Afrika von Europa erwartet. Er hat mich an ein Video erinnert, das kurz vor der Pandemie in Kenia extrem populär war, das aber tatsächlich schon einige Jahre früher entstanden ist. Diesen Videoclip will ich Ihnen nicht vorenthalten.
Herr Dr. Mabanza, was haben Sie gedacht, als Sie das Video zum ersten Mal gesehen haben?
Boniface Mabanza: Ich habe das Video zum ersten Mal gesehen, als ich voll in der Arbeit zur Entwicklungspolitik war. Ich habe Entwicklungspolitik in einer Einrichtung unterrichtet, die es in der Form in der Bundesrepublik nicht mehr gibt. Jemand machte mich auf dieses Video aufmerksam. Ich dachte: Wow, eine bessere Art, das zu vermitteln, was wir hier auch immer wieder zu thematisieren versuchen, gibt es nicht. Geradezu brillant finde ich den Satz „Wir wollen nach Norwegen gehen, um einen Unterschied zu machen“. Das transportiert so viel: Wir gehen in ein Land, das wir nicht kennen. Den Kontext kennen wir nicht, die Traditionen nicht, die Sprache möglicherweise auch nicht. Aber wir beanspruchen für uns, dorthin gehen und Unterschiede machen zu können. Und das nicht nur bezogen auf einen einzigen Aspekt, beispielsweise bezogen darauf, dass die Menschen frieren. Sondern eine grundsätzliche Veränderung in der Gesellschaft zu bringen. Und das ist das, was Europäerïnnen in unterschiedlichen Formen individuell, aber auch in organisierten Strukturen seit Jahrzehnten machen. Im Grunde genommen seit Jahrhunderten, weil die Prozesse, die in Afrika gelaufen sind – Formen von Versklavung, aber vor allem später Kolonialismus – auch auf diesem Glauben beruhen: Wir wissen besser als Menschen, die dort leben, was für sie gut ist. Und wir gehen hin und zeigen ihnen, wo es langgeht.
Vielen Dank, Herr Dr. Mabanza. Sie haben schon die Europäer angesprochen – Herr Bernau, als Koordinator von Afrique-Europe-Interact versuchen Sie, Menschen auf dem afrikanischen Kontinent zu unterstützen. Finden Sie das Video lustig, oder finden Sie, dass es sogar als Satire allzu vereinfachend ist?
Olaf Bernau: Ich kann gar nicht viel hinzufügen. Als ich das Video das erste Mal gesehen habe, fand ich es lustig. Ich hatte das Gefühl, die Leute haben so richtig den Schalk im Nacken, auch wenn man das noch ein bisschen weiter guckt bis zum Ende: da singen sie und haben richtig Spaß daran, die Perspektive umzudrehen. Alles, was Boniface Mabanza schon ausgeführt hat, bringt das auf den Punkt. Ich habe allerdings ein „Aber“, und das geht in die Richtung, dass man es sich bei der Kritik der Entwicklungszusammenarbeit aber nicht zu leicht machen darf. Das ist jetzt keine Kritik an dem Video. Aber ich glaube, es kommt immer ein bisschen drauf an, aus welcher Perspektive man Entwicklungszusammenarbeit kritisiert. Und ich glaube, dass es viele gute und wichtige Gründe gibt, sie zu kritisieren. Aber es gibt auch falsche Gründe, sie zu kritisieren, beispielsweise neoliberale Gründe: „Alle sollen sich bitte selbst helfen!“ Oder chauvinistische Gründe: „Wir haben genug Probleme hier in Europa!“ Und ich glaube, dass man ein bisschen gucken muss, dass so ein Video nicht den Beifall von der falschen Seite bekommt. Das ist aber, glaube ich, im kenianischen Kontext kein Problem. Ich glaube, da wissen alle, wie sie es einzuordnen haben oder wo sie stehen. Auf europäischer Seite wäre ich mir da nicht so sicher.
Ich möchte noch einen Moment lang bei der Frage bleiben, welche Perspektive wir auf Afrika haben. Es gibt noch ein anderes Element, das ich aus dem Vorgespräch mit Dr. Mabanza habe. Er hat mir nämlich auch von einer Videoreihe erzählt, die Studierende aus verschiedenen afrikanischen Ländern in den USA vor 15 Jahren zum ersten Mal produziert und ins Internet gestellt haben. Die Videos heißen „The Africa that you never see in TV“, und davon gibt es mittlerweile einige. Sie sind ein bisschen langatmig, deshalb zeige ich Ihnen stattdessen ein paar Fotos, die im Wesentlichen die gleichen Seiten von Afrika zeigen.
Es geht also um ein städtisches Afrika. Vielen kommen da vielleicht auch die Adjektive, in Anführungszeichen, „entwickelt“ oder „modern“ in den Sinn. Herr Dr. Mabanza, was bedeutet es, dass solche Bilder von Afrika tatsächlich seltener in westlichen Medien gezeigt werden?
Boniface Mabanza: Ich glaube, das Thema des heutigen Abends bringt auf den Punkt, was das bedeutet: nämlich dass die Vergangenheit nachwirkt. Es gibt bestimmte Konstruktionen von Afrika, und ein städtisches passt nicht zu diesen Bildern. Ich muss zu diesem Thema immer an ein Zitat von Julius Nyerere denken, dem ersten Präsidenten von Tansania. Er hat einmal gesagt: „Manchmal erwecken Europäerïnnen den Eindruck, dass wir keine gemeinsame Geschichte mit ihnen haben. Und manchmal wollen sie auch den Eindruck erwecken, dass wir uns dafür schämen sollten, dass wir Afrikanerïnnen sind und eigene Kulturen, Traditionen haben.“ Beides sollten wir nicht tun, weil diese rund 500 Jahre der gemeinsamen Geschichte zwar sehr schmerzhaft waren, aber sie gehören zu unserer Geschichte dazu.
Ich glaube, dass für mich die Bedeutung dieser Video-Serie deutlich wurde als ich anfing, an einigen Projekten in Schulen zu arbeiten. Wir haben dabei versucht, Schülerïnnen von den Klischees wegzubringen, die in der Einführung erwähnt wurden: In Afrika gebe es nur Kriege, Krankheiten und so weiter. Wir wollten mit unserer Arbeit die Afrikabilder diversifizieren und auch zeigen, welche Beiträge Afrika zur Weltgeschichte, zur Weltwirtschaft, zur Weltpolitik und zum Frieden geleistet hat. Aber all diese Botschaften blieben bei den Schülerïnnen in unseren Projekten nicht hängen. Was bei ihnen den größten Lerneffekt verursacht hat war eins dieser Videos. Als wir die Schülerïnnen am Ende der Stunde fragten was sie gelernt haben sagten sie: „Heute haben wir gelernt, dass es auch schöne Häuser in Afrika gibt. Heute haben wir gelernt, dass es schöne Landschaften, schöne Gärten undsoweiterundsofort.“ Das zeigt: Wenn Menschen aus Europa nach Afrika gehen nehmen sie nur das wahr, was völlig anders ist als das hier. Sie sehen nur das, was ihren Erwartungen entspricht.
Boniface Mabanza: Aber diese Videos sind sehr, sehr klischeehaft. Sie zeigen eigentlich Mimetismus, also Nachahmung nach dem Motto: „Wie können auch, was ihr seid, was ihr könnt!“ Wenn diese Studierenden zum Beispiel Tata Somba aus dem Benin gezeigt hätten: Das ist lokale Architektur aus lokalen Materialien. Das Wissen, die Traditionen für den Bau dieser Häuser sind alle lokal, und sie haben einen großen Vorteil: Für diese Häuser braucht man keine Heizung. Man braucht auch keine Klimaanlage, die Temperatur wird reguliert. Als das ist auch klimapolitisch, ökologisch gesehen eine unglaublich tolle Innovation, die sehr alt ist in Afrika. Aber wenn die Studierenden so etwas in ihren Videos gezeigt hätten, hätten sie nicht den Effekt erzielt, den sie bei ihren Kommilitoninnen in den USA erzielen wollten. Und in Europa mache ich die gleichen Erfahrungen.
Dieser Nachahmungseffekt ist mir bei den Videos auch besonders aufgefallen. Da fehlt jedes afrikanische Element. Aber ich würde gerne mit Ihnen auf diesen Begriff „Entwicklung“ zurückkommen, der steckt ja auch hinter diesen Nachahmungsversuchen. Entwicklung scheint zunächst ein relativ harmloser Begriff zu sein, wir benutzen ihn ständig: Man redet ja auch von Stadtentwicklung oder von der persönlichen Entwicklung. Aber im Verhältnis zwischen Afrika und Europa hat er seine Unschuld verloren und steht jetzt im Zentrum der Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit. Warum ist das so?
Boniface Mabanza: Der Begriff ist auch in Bezug auf die Annahme mit Ideologie behaftet, dass Entwicklung nur erreicht werden kann, wenn wir den Marktfundamentalismus akzeptieren, den der Westen hat. Die Annahme: Wer nicht akzeptiert, was der Markt zu bieten hat, kann keinen Fortschritt erreichen. Negiert wird die Idee, sozialer Fortschritt oder die Gestaltung von Veränderungen, die Gesellschaften brauchen, könnten unter unterschiedlichen Strategien laufen. Das gehört zum Charakter der Ideologie, dass alle anderen Möglichkeiten negiert werden. Und dann die Idee von der Bildung von Nationalstaaten als dem einzigen Weg. Alle anderen Organisationsformen, die es woanders vor der Begegnung im Kontext von Kolonialismus gegeben hatte, spielten keine Rolle mehr.
Verschleierung von Machtinteressen
Dann gibt es den zweiten Grund, das ist die Verschleierung von Machtinteressen. Man spricht über Entwicklung, aber wenn man genau analysiert, worum es geht, sieht man, dass die Durchsetzung von geostrategischen Interessen immer schon im Vordergrund stand. Die Bundesrepublik Deutschland hat Ländern, die die DDR anerkannten, keine Entwicklungshilfe gewährt. Und das kann man übertragen auf alle anderen Länder. Die Entwicklungszusammenarbeit wird genutzt, um Zugang zu Rohstoffen zu kriegen und Agrarmärkte zu schaffen, auch Absatzmärkte: Ich gewähre dir Hilfe, zum Beispiel Traktoren, damit du Landwirtschaft betreibst, aber unter der Bedingung, dass du die Traktoren bei einer deutschen oder einer französischen Firma kaufst. Und so weiter und so fort.
Entwicklungsbegriff verbunden mit kapitalistischem Wirtschaftsmodell
Der dritte Grund ist, dass dieser Entwicklungsbegriff nicht zu trennen ist von einem auf Ausbeutung und Dominanz beruhenden Wirtschaftsmodell. Dazu kommt die Entstehungsgeschichte des Begriffs, die total eurozentrisch ist. Das gesamte Denken beruht auf Ideen, die im Westen populär waren, beispielsweise zur Zeit der Aufklärung. Dieses Denken wurde auf Kulturen übertragen, auf die diese Idee von Entwicklung kulturell nicht übertragbar ist.
Was Sie gesagt haben führt sehr gut zu dem Quiz, das wir als nächstes vorbereitet haben. Die Frage ist, woher das Konzept der Entwicklungshilfe kommt. Wer hat es erfunden? Es gibt drei Möglichkeiten, stimmen Sie gerne mit. Antwort eins: Ein Berater von Harry Truman, einem ehemaligen Präsidenten der USA. Oder zweitens: Kwame Nkrumah, der ersten Präsidenten Ghanas. Oder von Eglantyne Jebb, einer britischen Sozialreformerin und Gründerin von Save the Children. Also, was meinen Sie?
Die Idee der Entwicklung ist immer noch in aller Munde, zur Zeit alsSustainable Development Goals der Vereinten Nationen. Das sind 17 Ziele, unter anderem das Ende des Hungers, ein Ende der Armut, weniger Ungleichheit und so weiter.
Das Neue an diesen Zielen ist, dass sie für alle Länder gelten sollen, also auch für die Industrieländer. Damit werden wir im Grunde alle zu Entwicklungsländern. Herr Dr. Mabanza, haben wir als Weltgemeinschaft mit diesen SDGs jetzt einen Weg gefunden, wie wir auch die Lebensverhältnisse in Afrika verbessern können, unbelastet von der kolonialen Vergangenheit?
Boniface Mabanza: Wenn man die Präambel der SDGs liest stellt man fest, dass die Staats- und Regierungschefs, die sich in New York damals getroffen haben, die Probleme der Welt zur Kenntnis nehmen. Und dazu gehören Probleme wie extreme Armut, aber auch ökologische Belastungen, Klimawandel – all dieser Probleme haben sie wahrgenommen und wollen mit diesem Instrumentarium dazu beitragen, sie zu lösen.
Denn es gibt bei den SDG ein Festhalten am bestehenden kapitalistischen Modell. Man erkennt das auch daran, dass zum Beispiel die Beziehung zu Privatunternehmen sehr positiv ist, obwohl die eigentlich Teil der Probleme sind, und zwar durch die Art von Handel, den sie betreiben. Oder durch Kapitalabflüsse, die von Eliten verursacht werden. Die SDGs lösen nicht den grundsätzlichen Konflikt zwischen Nachhaltigkeit und dem Bewusstsein um die Grenzen des Wachstums – und Wachstum. Im Alltag erleben wir, dass der Konflikt, den es da gibt, zugunsten von Wachstum gelöst wird.
SDGs sind unverbindlich
Zudem sind die SDGs beliebig und nicht verbindlich. Es gibt für niemanden Sanktionsmechanismen. Letztlich setzen sich also die Ziele durch, die die stärksten soziale Akteurinnen und Institutionen hinter sich haben. Und das sind die Wirtschaftsinteressen. Sie werden nicht eingesetzt zugunsten von Afrika oder Südamerika oder irgendwelche anderen ärmeren Weltregionen, sie werden eingesetzt zugunsten derer, die die die Macht haben, um die Prozesse zu deren Gunsten zu lenken.
Wie würden Sie das Verhältnis zwischen Afrika und Europa neu denken?
Boniface Mabanza:Vermutlich sind jedem die Schocks bekannt, die der afrikanische Kontinent erlebt hat: der Handel mit versklavten Menschen von diesem Kontinent, was unglaublich viele Prozesse zerstört hat, auch im Sinne von Innovation, von Organisationsprozessen. Es gibt weitere Beispiele: Kolonialismus, Neokolonialismus und so fort. Daraus ist eine Asymmetrie der Kräfteverhältnisse entstanden, und oft wird diese Asymmetrie der Kräfteverhältnisse dadurch verschleiert, dass man viel zu schnell von einer Partnerschaft spricht, einer „Partnerschaft auf Augenhöhe“.
Aber eine Partnerschaft auf Augenhöhe kann es zwischen zwei so ungleichen Räumen nicht geben. Das bedeutet nicht, dass Beziehungen nicht möglich sind. Gerechte Beziehungen können unter Berücksichtigung der Kräfteverhältnisse, die ungleich sind, aufgebaut werden. Das würde bedeuten, dass mit Blick auf entscheidende Sektoren wie Handel, Finanzströme, Schulden, Rohstoffpolitik und so weiter die Rahmenbedingungen unter Berücksichtigung der Kräfteverhältnisse so gestaltet werden müssten, dass die schwächere Seite zu ihren Rechten kommt. Aber daran müsste man bewusst arbeiten, statt die Verhältnisse durch eine Rhetorik der Partnerschaft zu verschleiern. Viele Akteurïnnen, besonders unter den Jugendlichen in Afrika, glauben sowieso nicht mehr daran.
Vielen Dank. Ich würde gerne an dieser Stelle zum ersten Mal Raum für Fragen geben. Frau Kaebelmann, gibt es schon Fragen aus dem Publikum?
Iris Kaebelmann: Es gib einen Kommentar und eine erste Frage, und zwar: Wie geht Afrika mit den Erkenntnissen um, die aus der Kolonialisierung durch Europa gewonnen wurden? Mit Blick auf die aktuellen chinesischen Aktivitäten. Eine Frage von Birgit Tafel.
Boniface Mabanza:Vielen Dank für die Frage, die eine sehr wichtige Frage ist. Aber wenn Sie mir erlauben, würde ich mit einem Kommentar zu dieser Frage beginnen, bevor ich sie beantworte. Und der Kommentar ist der: Ich bin seit mehr als zehn Jahren in der Bildungsarbeit, in der Lobbyarbeit in Deutschland.
Und ich habe die Erfahrung gemacht, dass jedes Mal, wenn wir über die Beziehungen zwischen Europa und Afrika sprechen, spätestens die dritte Frage die ist nach China. Ich verstehe das auch. Aber oft bringt das ein bisschen mehr weg vom Feld der Auseinandersetzung mit den Europa-Afrika-Beziehungen. Jetzt aber die Antwort auf Ihre Frage: Die chinesische Präsenz in Afrika wird unterschiedlich gelesen, sehr kontrovers gelesen. Das ist auch innerhalb der verschiedenen afrikanischen Länder der Fall.
Chance auf Diversifizierung von Partnerschaften
Viele setzen das Verhältnis sofort mit Kolonialismus gleich. Das ist eine Lesart, die ich nicht teile, auch wenn es in diesen Beziehungen Dynamiken gibt, die mit Dynamiken aus dem Kolonialismus des Westens vergleichbar sind. Aber wenn man die positive Seite zunächst nimmt könnte man sagen – und zumindest in einigen Ländern kann man das beobachten: Das Auftreten von China – und nicht nur von China, sondern auch von der Türkei, von arabischen Ölstaaten, von Russland, Brasilien – in den afrikanischen Ländern bietet zum ersten Mal in ihrer Geschichte eine Möglichkeit, ihre Partnerschaften zu diversifizieren und wegzukommen von dieser Fixierung auf die Koalition EU-USA. Aber eine Diversifizierung von Partnerschaften ist kein Segen per se. Sie kann nur ein Segen werden, wenn jedes afrikanische Land ein Konzept von sich selbst entwickelt nach dem Motto: Das sind wir. Wir haben diese Potenziale, wir haben dieser Bedarfe. Und das ist das, was wir von den USA, von China, von der EU brauchen. Das ist das, was wir selbst machen wollen. Und das ist der Rahmen, den wir bilden, in den alle, die zu uns kommen, sich einfügen müssen.
Afrikanische Länder zur Spielwiese reduziert?
Leider haben viele Länder so ein Konzept nicht, und in Ermangelung eines Konzeptes laufen sie natürlich Gefahr, in einer immer größer werdenden Konkurrenz zwischen den Großen zur Spielwiese reduziert zu werden. Wenn wir dieses Thema hier in Europa diskutieren, haben wir oft den Eindruck, China sei eine Herausforderung nur für Afrika. Nein, China ist eine Herausforderung für alle. Ich lebe in Baden Württemberg – 20 Prozent der Anteile von Daimler sind in chinesischer Hand. In Frankreich gibt es im Weinsektor – einem Sektor, der seit Jahrhunderten in französischen Händen war – da gibt es jetzt Investoren aus China.
Letztlich sind die europäischen Interessen in China größer, als die europäischen Interessen in Afrika. Und die chinesischen Interessen in Europa sind größer als die chinesischen Interessen in Afrika. Am Ende des Tages kommt das auf dieses Sprichwort aus Ostafrika hinaus in dem es heißt: „Wenn sich zwei Elefanten bekämpfen, leidet das Gras drumherum. Aber wenn sich zwei Elefanten lieben, leidet das Gras noch mehr.“ Aber vor allem kommt es darauf an, dass die afrikanischen Länder – und ein paar haben das verstanden – für sich definieren, was sie wollen. Das ist keine chinesische Aufgabe, das ist eine afrikanische Aufgabe.
Vielen Dank. Es gibt eine zweite Frage, aber die hebe ich auf, weil Olaf Bernau auch noch viel Spannendes zu sagen hat. Herr Bernau, wir haben bis jetzt immer von Afrika als Kontinent gesprochen. Ich würde gerne mit ihnen zusammen genauer auf eine Region gucken, nämlich Westafrika. Sie haben sich in Ihrem Buch damit ausführlich beschäftigt. Und zwar auch mit den vorkolonialen Reichen. Hier haben wir eine Karte dazu, die habe ich dem Buch von Olaf Bernau entnommen: Brennpunkt Westafrika. Warum war es Ihnen so wichtig, diese Karte zu zeigen?
Olaf Bernau:Sie haben nicht nur ihre Gebäude bezogen – das wäre noch harmlos gewesen -, sondern sie haben im Grunde genommen diesen zentralistischen und teilweise auch despotischen Regierungsstil fortgesetzt, auch in Ermangelung von Alternativen. Und wenn jetzt immer – und zwar zu Recht – von schlechter Regierungsführung die Rede ist, dann muss man sich vor Augen halten, dass das eine historische Ursache hat. Nämlich dass man die Strukturen, die es vor dem Kolonialismus gab, sehr nachhaltig zerschlagen hat.
Räuberische Eliten
Von schlechter Regierungsführung in Afrika wird übrigens nicht nur hier in Europa gesprochen, sondern auch auf dem afrikanischen Kontinent. Beispielsweise von meinen Kolleginnen in Westafrika. Sie sagen: Natürlich sind Kolonialismus und Neokolonialismus ein Problem. Aber unser primäres Problem sind unsere eigenen korrupten und räuberischen Eliten, die schlechte Regierungspolitik machen. Und deshalb spielt für mich auch in meinem Buch der senegalesische Ökonom Felvine Sarr eine wichtige Rolle, der dieses sehr bekannte Buch „Afrotopia“ geschrieben hat. Und da redet er unter anderem davon, dass die afrikanischen Länder oder Gesellschaften erstmal Zukunftsmetaphern entwickeln müssten, auch unter Rückbesinnung auf das, was vor der Kolonialzeit war. Er sagt: Solange nicht klar ist, wo wir hinwollen, solange wir uns auf den Entwicklungspfaden bewegen, die uns von außen aufgezwungen wurden, solange können wir uns gar nicht entwickeln. Das hat ja Boniface Mabanza vorher auch ausgeführt.
In Ihrem Buch zeigen Sie auch die wirtschaftliche Seite davon. Sie gehen zum Beispiel aufdie Situation in Gaoein. Das ist der malische Ort, der jetzt noch relativ häufig in den Schlagzeilen ist, weil die Bundeswehr dort im Rahmen einer UN-Mission stationiert ist.Mali seit vielen Jahren in einer sehr komplexen Krise. Sie schildern Gao als einen blühenden Ort. Was ist da zwischenzeitlich passiert?
Olaf Bernau: Vielleicht ein bisschen präziser als einen „ehemals blühenden Ort“, und da kommt ein bisschen das Gleiche ins Spiel, was ich eben schon gesagt habe, nämlich dass hierzulande viel zu selten gesehen wird, was vor der Kolonialzeit war. Da gab es nämlich etwas, was hier aber weitgehend unbekannt ist. Also wenn wir über den Sahel reden, ist es ja oft so, dass er als das Armenhaus der Welt dargestellt wird. Wenn man mit dem Begriff Sahel überhaupt etwas anfangen kann, dann kann man sich vielleicht an die Dürren und Hungerkatastrophen seit den Sechzigerjahren erinnern, auch in den 70er und dann noch mal in den Achtzigerjahren. Oder jetzt eben diese Gewalteskalation. Aber die ganze lange Geschichte des Sahel und seiner Städte wird ausgeblendet. Und was vor allem ganz oft aus dem Blick gerät ist, dass der Sahel ursprünglich das ökonomische Zentrum von Westafrika war.
Sahel einst wichtiges Handelszentrum
Die Küstengebiete, also dort, wo heute die ganzen bekannten Megastädte wie Lagos, wie Accra, Abidjan, oder Dakar sind, da war Wald. Da waren Mangroven, da haben nicht viele Menschen gelebt. Die ganzen ökonomischen Aktivitäten fanden eigentlich in den sogenannten Binnenländern, die heute viele als Armenhaus der Welt bezeichnen. Und das hatte was mit dem Saharahandel zu tun: Seit dem achten Jahrhundert gab es ganz viel Handel, ausgehend von Nordafrika mit Subsahara-Afrika. Die Wüste war keine Blockade, keine unüberwindbare Hürde, sondern sie war eine ganz wichtige Verkehrsader der Weltökonomie. Und da hat seit dem achten Jahrhundert eben Sahara-Handel stattgefunden. Die ersten Orte, die die Händler aus den nordafrikanischen Ländern oder nordafrikanischen Regionen erreichten, waren eben die Städte, die unmittelbar südlich der Sahara liegen, also unter anderem Gao oder Timbuktu oder Djenné. Von dort aus haben sich Handelswege in konzentrischen Kreisen über den ganzen westafrikanischen Raum bis in die Waldregionen weiterentwickelt.
Umkehr der wirtschaftlichen Schwergewichte
Also dass man da erst mal sehen kann: Durch den Trans-Sahara-Handel war der Sahel im Zentrum zwischen Nordafrika und den schwach bewohnten Waldgebieten der Küstenregionen. Und das hat sich dann historisch Stück für Stück umgedreht. Das fing schon mit dem Sklavenhandel an, weil mit dem Sklavenhandel kamen Schiffe, mit den Schiffen kam mehr Abtransport von Waren über die Meere statt über die Wüste. Und die Kolonialmächte oder die Versklavungsmächte wollten vor allem mehr und mehr Sklavïnnen haben. Dafür haben sie die ganzen Handelswege quasi umgedreht. Sie waren nur noch auf die Küste konzentriert, um eben die versklavten Menschen in die neuen Amerika abtransportieren zu können.
Binnenländer wurden ökonomisch abgehängt
Damit begann ein Prozess, in dessen Verlauf die Binnenländer ökonomisch immer mehr abgehängt wurden. Und genau diese Entwicklung wurde von den Kolonialmächten dann noch mal zugespitzt, weil die Kolonialmächte entdeckt haben, dass an den Küsten ein Klima herrscht, das den Anbau von agrarischen Rohstoffen erlaubt. Das hat dann dazu geführt, dass eben diese Küstengebiete sehr weitgehend entwaldet wurden, um dort dann eben Kakao- und Kaffeeplantagen anlegen, Palmöl und Holzprodukte gewinnen und abtransportieren zu können.
Ich fand in ihrem Buch auch das Beispiel der Textilindustrie in Nigeria interessant. Da hat ja die britische Kolonialmacht ringen müssen, um überhaupt die wirtschaftliche Überlegenheit zu bekommen. Können Sie das uns das bitte noch mal schildern?
Olaf Bernau:Ja, es gibt eine ganz lange Geschichte der Textilindustrie und der Textilherstellung in Afrika. Auch das ist viel zu wenig bekannt. In Bezug darauf gibt es ebenfalls eher die Idee: Die Europäerïnnen haben Maschinen erfunden, mit denen Stoffe und so weiter hergestellt werden können. Aber das ist nicht wahr. Also man kann ganz weit zurückgehen, teilweise sogar bis in die sogenannte vorchristliche Zeit, aber spätestens seit dem neunten Jahrhundert ist es auch von Historikerïnnen dokumentiert, dass es durchgehende Textilproduktion gerade auch in Westafrika gegeben hat. Das war teilweise in der Region des Tschadsee, also dem heutigen Osten von Niger, im Tschad und im Norden von Nigeria. Das war im Bereich des Senegalflusses, aber auch im Bereich des heutigen nördlichen Nigerias, wo schon sehr früh Textilien verarbeitet wurden. Teilweise wurde auch schon sehr früh Baumwolle angebaut. Das Interessante ist, dass bereits in der Sklaverei diese Stoffproduktion eine ganz wichtige Rolle gespielt hat, denn erst einmal sind die Europäerïnnen eingestiegen und haben eigene, aber vor allem Stoffe aus Indien verkauft, und haben damit dann eben auch Sklavïnnen einkaufen können.
Westafrikanische Stoffproduktion vom Markt gedrängt
Und dann hat aber bereits schrittweise eine Tendenz eingesetzt – und spätestens mit der Industrialisierung in England hat es sich dann richtig durchgesetzt -, dass eben die ganz alte Stoffproduktion, die im gesamten westafrikanischen Raum schon lange bestand, buchstäblich vom Markt gefegt wurde. Es hat sich dann zwar Stoffproduktion und der Anbau von Baumwolle immer noch gehalten, aber auf einem viel niedrigeren Niveau. Aber das hat Boniface Mabanza ja vorher auch schon mal erwähnt, dass die ganze Sklaverei und dann auch der Kolonialismus als eine ganz starke Blockade gewirkt hat, so dass sich solche Techniken nicht nach selbstbestimmten Kriterien weiterentwickeln konnten. Und gerade im Norden von Nigeria, aber auch in der heutigen Elfenbeinküste haben die dortigen Gouverneure damals gesagt und entsprechend verfügt: Wir wollen, dass die Leute Baumwolle anbauen, aber wir wollen, dass die Textilien in den sogenannten „Mutterländern“ weiterverarbeitet werden. Sie haben dann ganz gezielt die Produktion von Baumwolltextilien verhindert und dafür gesorgt, dass nur noch Baumwolle hergestellt wurde, die dann eben auch exportiert werden musste.
Alte Tradition nicht wieder aufgegriffen
Und das wirklich Tragische ist, dass nach der Unabhängigkeit diese alte Tradition, die schon Jahrhunderte schon vor dem ersten Kontakt mit Europäerinnen, also vor den ersten Handelskontakten im 15. Jahrhundert begonnen hat, also diese alte Tradition wurde nicht wieder aufgenommen. Es wurde zwar eine Textilindustrie eigentlich in ganz vielen westafrikanischen Ländern aufgebaut, aber spätestens mit den Strukturanpassungsprogrammen in den 80er und 90er Jahren wurden viele dieser Textilfabriken wieder vom Markt gefegt. Denn in der Verschuldungskrise dieser Zeit wurden die Länder durch diese Strukturanpassungsprogramme gezwungen, ihre Märkte zu öffnen, sich zu liberalisieren, sich der weltweiten Konkurrenz auszusetzen. Wenn wir noch mal über Nigeria als Ausgangsbeispiel reden: Da gab es noch Mitte der 80er Jahre 175 Textilfabriken. Anfang der 2000er Jahre waren es nur noch 20. Da kann man sehen, wie die ganzen 80er und 90er Jahre wie eine De-Industrialisierungswelle gewirkt haben. Und dann stellt sich Europa hin und sagt: „Wir müssen jetzt den afrikanischen Ländern bei der Industrialisierung helfen!“, ohne eben zu berücksichtigen, dass sie auf unterschiedliche Art und Weise die Industrialisierung teilweise systematisch verhindert haben. Oder dort, wo sie sehr wohl bereits vorhanden war, sie systematisch zerschlagen haben.
Ich würde mit Ihnen gerne auch noch kurz auf das südliche Afrika gucken. Gab es da am Vorabend der Kolonialzeit ähnliche Reiche wie in Westafrika?
Boniface Mabanza: Ja, das ist eine sehr interessante Frage, und die Problematik, die Olaf skizziert hat mit Blick auf Westafrika gilt auch im südlichen Afrika. Diese Region ist für uns hier vielleicht bekannter, weil sie stärker als alle andere Regionen Afrikas heute diese Strukturen einer besonderen Form von Kolonialismus trägt. Im südlichen Afrika gab es vor allem Siedlerkolonien. Und Siedlerkolonien bedeutet: Die Europäerïnnen kommen hin siedeln Menschen um, damit sie sich selbst ansiedeln können. Diese Umsiedlungen und das Ansiedeln von Menschen aus England, Deutschland oder Frankreich hat einen Versuch mit sich gebracht, bestimmte Narrative zu verbreiten. Nach dem Motto: Bevor wir kamen, gab es hier nichts, alles war leer. Deswegen haben wir uns niedergelassen.
Vielfalt an politischen Räumen
Aber wie Olaf das mit Blick auf Westafrika betont hat, gab es auch im südlichen Afrika eine unglaublich große Vielfalt von politischen Räumen. Und wenn ein Aspekt der afrikanischen politischen Geschichte hier im Westen nicht bekannt ist, dann ist das die Vielfalt der politischen Systeme. Das hat damit zu tun, dass der Kolonialismus das Interesse hatte, dieses einheitliche Bild zu vermitteln: Jeder Afrikaner, jede Afrikanerin hatte einen eigenen Häuptling, und der war ein Diktator. Was eine totale – wirklich totale – Verzerrung der Geschichte ist, weil es vor der Kolonialzeit verschiedene politische Systeme mit ganz aufblühenden Organisationsformen gab.
Aber wenn man dem Narrativ der Europäer glaubt, dann haben erst sie Simbabwe entdeckt.
Vielen, vielen Dank, das war sehr eindrücklich. Jetzt würde ich sehr gerne Raum geben für Fragen aus dem Publikum. Eine hatten wir noch aufgehoben, Frau Kaebelmann, haben Sie die noch präsent?
Iris Kaebelmann:Genau, Frau Werner hatte vorhin schon eine Frage gestellt an Herrn Mabanza. Sie selbst arbeitet auch in einer kirchlichen Hilfsorganisation und sie fragt Herrn Mabanza, wie Sie es einschätzen, wie kirchliche Hilfsorganisationen heute Afrika vermitteln. Ich denke, die Frage geht in die Richtung des Videoclips, den wir am Anfang gesehen haben.
Boniface Mabanza: Ich würde sagen: Es gibt große Unterschiede in der Bildsprache der kirchlichen Organisationen. Einige bemühen sich, Bilder zu vermitteln die zeigen, dass es um Menschen geht. Menschen, die Subjekte der eigenen Geschichte sind. Die anpacken, die versuchen, Lösungen zu finden, Lösungen zu entwickeln und die auch angesichts der zum Teil problematischen staatlichen Strukturen, die Olaf zu Recht erwähnt hat, Unterstützung auch von außen bräuchten. Die sind leider die Ausnahme. Aber dazu muss man auch sagen, dass diese Problematik nicht nur kirchliche Strukturen betrifft. Das betrifft die Entwicklungshilfe, Organisationen, Agenturen insgesamt. Auch die, die sich als säkular bezeichnen. Wenn man dagegen ihre Bildsprache betrachtet, setzen sie auf die Verletzlichkeit. Zum Teil findet man die Ausschaltung von Kriterien, die hier selbstverständlich sind. Dass man zum Beispiel keine Bilder von Kindern in verletzlichen Positionen zeigt. So was ist für weiße Kinder ganz selbstverständlich in Deutschland, aber mit Kindern aus Afrika oder auch aus Südamerika macht man das.
Bildsprache setzt auf Verletzlichkeit
Aber das Problem mit dieser Bildsprache, die so stark auf Verletzlichkeit setzt ist vor allem, dass bei vielen Menschen der Eindruck entsteht, dass es in afrikanischen Ländern keine Normalität gibt. Dass es in den Gesellschaften, die porträtiert werden, kein normales Leben gibt. Das Leben besteht anscheinend nur aus Problemen, die anlassbezogen hier vermittelt werden. Damit erleben wir auch eine Entpolitisierung der Probleme. Die strukturellen Fragen werden ausgeblendet. Die Nord-Süd Beziehungen im Blick auf Handel, Rohstoffpolitik, Klima, Klimawandel, das Verursacherprinzip, was Klimawandel angeht und die Zerstörung der Lebensgrundlagen in den afrikanischen Ländern wird ausgeblendet, weil man den Eindruck erweckt: Wir haben doch Mitleid!
Leistungen Afrikas an Europa
Emotionen werden geweckt und es wird suggeriert: mit 2 € für eine Familie haben wir die Probleme gelöst. Aber damit werden die strukturellen Dimensionen ausgeblendet. Und das große Problem ist vor allem, dass der organisierte Diebstahl nicht mehr wahrgenommen wird. Damit meine ich, dass diese Bilder den Eindruck erwecken, dass zum Beispiel der afrikanische Kontinent zu arm ist, um ausgebeutet zu werden. Aber wenn man bedenkt, was alles an Ressourcen von Afrika nach Europa kommt, wie viele Arbeitsplätze das schafft, wie viel Geld von Afrika nach Europa oder China fließt – dann geht das völlig unter.
Dankeschön. Gibt es noch weitere Fragen von Ihnen? Ansonsten hätte ich noch eine an Herrn Bernau. Im letzten Kapitel Ihres Buches fragen Sie: Was schuldet Europa Westafrika? Was ist Ihre Antwort darauf?
Olaf Bernau:Wichtig ist mir auf jeden Fall die Perspektive, nämlich, dass ich die Frage stelle, was Europa Westafrika schuldet. Sprich: Ich möchte als weißer Europäer nicht jetzt allgemeine Empfehlungen geben, was dort und was hier zu tun wäre, sondern ich möchte tatsächlich die Frage stellen: Was hat Europa als Aufgabe zu erledigen? Und da fange ich erst mal ganz grundsätzlich noch mal an zu sagen: Europa muss all das tun, was wir heute Abend so ein bisschen angerissen haben, nämlich sich der Geschichte überhaupt noch mal bewusst zu werden. Und damit auch bewusst zu werden, welche massiven Schäden eben Europa dem afrikanischen Kontinent auf ganz verschiedenen Ebenen zugefügt hat. Ob das im politischen und ökonomischen Bereich ist, ob das die Klimaschulden sind, ob das eine mentale soziale Zerstörung wird. Also erst mal muss Europa da überhaupt Bewusstsein erlangen.
Das Zuhören lernen
Europa muss auch bereit sein, das Zuhören zu lernen. Und muss in einem dritten Schritt – und das ist glaube ich fast erst mal der Wichtigste – verstehen, dass die Lösung für all diese Fragen nicht in Europa liegen, sondern auf dem afrikanischen Kontinent. Ich komme also nochmal auf die vorhin schon erwähnten Zukunftsmetaphern, die auch dort vor Ort entwickelt werden müssen. Europas Rolle wäre vor allem bereit zu sein, den Raum dafür zu schaffen, dass die afrikanischen Länder oder die Gesellschaften überhaupt in die Lage versetzt werden, solche Prozesse zu durchlaufen und nicht ständig unter äußerem, auch ökonomischem Druck stehen. In dem Kontext sage ich auch, dass Europa die Bereitschaft entwickeln muss, quasi Reparationen zu zahlen. Und zwar in dem Sinne, dass mit den Zahlungen Aufträge umgesetzt werden, die von afrikanischer Seite kommen müssen. Europa muss bereit sein – salopp formuliert – die zweite Geige zu spielen und das Heft des Handelns endlich aus der Hand zu geben. Dazu gehört, Dinge auch mal nicht zu tun, sich zurückzuziehen.
Produktionsstrukturen wiederherstellen
Das würde jetzt beispielsweise bedeuten, den afrikanischen Kontinent nicht mehr als potenziellen ökonomischen Konkurrenten zu betrachten, wo man in Europa billig produzierte Waren in großer Stückzahl loswird, sondern stattdessen im Zweifelsfall proaktiv daran mitzuwirken, dass sich auf dem afrikanischen Kontinent Produktionsstrukturen wiederherstellen können, die es teilweise schon gegeben hat. Damit sich die Länder tatsächlich dann selbst versorgen können und nicht mehr von anderen Weltmarktakteuren abhängig sind.
Zulassen zyklischer Migration
Einen weiteren Punkt möchte ich noch machen. Das Stichwort Migration haben wir glaube ich noch nicht erwähnt. Migration im Sinne von Mobilität gehört zur Geschichte des afrikanischen Kontinents. Mobilität gehört dazu, auch als ein Instrument um zu lernen, um Ressourcen zu gewinnen und dorthin zurückzugehen, woher die Menschen kommen, um dort etwas aufzubauen. In diesem Sinne plädiere ich dafür, dass Europa als Antwort auf die sogenannte Migrationskrise – die ja eine von Europa geschaffene Migrationskrise ist – endlich aufhören muss, die Migration zu steuern, zu regulieren, sie zu verhindern. Stattdessen muss es Migration ermöglichen, weil das sozusagen der Normalfall in der afrikanischen Geschichte ist. Die Menschen gehen nicht unbedingt weg, um sich woanders niederzulassen, sondern sie zirkulieren. Und diese zirkuläre Mobilität, unter anderem zwischen Afrika und Europa, muss wieder hergestellt werden.
Zirkuläre Migration in Afrika nicht verhindern
Und es muss natürlich vor allem verhindert werden, dass Europa mit seiner restriktiven Migrationspolitik die zirkuläre Mobilität in Afrika selbst verhindert. Also beispielsweise, indem versucht wird zu verhindern, dass Migrantinnen überhaupt nach Nordafrika kommen. Dass jetzt plötzlich Menschen innerhalb von Westafrika sich nicht mehr frei bewegen können. Mit solchen Maßnahmen unterläuft man ökonomische Prozesse vor Ort.
Es gibt noch eine Wortmeldung von Joel Mbombe, er hätte gerne das Mikrofon.
Joel Mbombe: Ich danke für die äußerst spannende, interessante und gelungene Diskussion. Ich konnte sehr viel mitnehmen an diesen Abend. Und ich finde, es ist die Aufgabe eines jeden Einzelnen, sich damit auseinanderzusetzen, was eigentlich Entwicklung bedeutet, und dass man auch anfängt, die vorhandene Vorstellung davon in Frage zu stellen. Mein Vorschlag wäre angelehnt an Herrn Bernaus Ansatz, dass man versucht, zusammenarbeiten. Weg von den Top-down Ansätzen und stattdessen in die lokale Bevölkerung zu investieren, nach dem Motto: Wenn man einem Menschen einen Fisch gibt, kann er sich für einen Tag ernähren. Aber wenn man ihm beibringt zu fischen, dann wird er sein ganzes Leben lang zu Essen haben. Wenn man anfängt, gezielt mit den lokalen Netzwerken, mit der lokalen Bevölkerung zusammenarbeitet, damit sie sich selbst entwickeln können und nicht abhängig bleiben von Entwicklungshilfen. Denn diese Entwicklungshilfen sind ineffektiv, sie machen abhängig, wie Dr. Mabanza schon erwähnt hat.
Boniface Mabanza: Ich würde Ihnen zustimmen. Olaf hat zu Beginn darauf hingewiesen, dass es in der Entwicklungszusammenarbeit durchaus auch interessante Ansätze gibt. Und zwar sind das genau die, die auf ein Instrument von Empowerment setzen. Entwicklung muss von innen kommen, muss von den Menschen getragen werden, die sich entwickeln und auf einer bestimmten Weise entwickeln wollen. Wenn man sich kritisch mit dem Begriff auseinandersetzt kann man sagen: In jeder Gesellschaft gibt es Veränderungen, die notwendig sind, um sie zu gestalten. Das ist erst einmal Aufgabe derer, die von diesen Veränderungen betroffen sind. Weil sie die Verhältnisse kennen, wissen sie auch besser, wie diese Veränderungen zu gestalten sind. Es gibt sehr viele Ansätze, auch in der aktuellen Entwicklungszusammenarbeit, die in diese Richtung gehen. Wir haben aber das Problem, dass sehr viel von dem, was auf die Mikroebene und manchmal auch auf der Mesoebene gemacht wird, durch die Dynamiken auf der Makroebene zerstört wird.
Veränderungen auf der Makroebene nötig
Und das Problem können wir nur lösen, indem die Verhältnisse auf der Makroebene transformiert werden. Nehmen wir das Beispiel der Demokratischen Republik Kongo: Wenn die Regierung in Kinshasa anfängt zu sagen: Moment mal! Alle Einflüsse von außen kanalisieren wir so, dass sie das bedienen, was in den verschiedenen Räumen gebraucht wird. Und wir selbst als Staat fördern das, was von unten kommt. Das wäre ein Entwicklungsstart, so könnte das funktionieren. Ansonsten haben wir diese Dichotomie zwischen vielem, was im Kleinen gut läuft und gut organisiert wird und dem, was auf Makroebene gemacht wird, was zerstörerisch ist. Olaf hat Beispiele dafür gegeben: Menschen mobilisieren ihre Kraft, sie bauen an, sie produzieren, aber sie werden von ihren Märkten verdrängt, weil die nationale Regierung irgendwelche Handelsabkommen unterzeichnet hat, die dafür sorgen, dass subventionierte Produkte vom Ausland auf diese Märkte gelangen, wo die Lokalen auch ihre Produkte verkaufen wollen.
Danke schön. Herr Bernau, möchten Sie noch etwas ergänzen?
Ich habe, glaube ich, nichts hinzuzufügen. Ich finde, Empowerment ist das entscheidende Stichwort. Und ich glaube, dass inzwischen auch Viele aus der größeren Organisation durchaus eine große Bereitschaft haben zu sagen: Wir müssen auch soziale Strukturen unterstützen, kleine Gewerkschaften, Kollektive aller Art, Stadtteil-Initiativen. Aber es bleibt natürlich dieses Grunddilemma, das Boniface Mabanza erwähnt hat: Wenn solche Initiativen im Widerspruch zu den großen Strukturen stehen, kann auch die beste kleine Struktur sich einfach nicht durchsetzen. Das ist für mich das Entscheidende.
Vielen Dank. Wir nehmen das als Schlusswort. Ganz herzlichen Dank, dass Sie dabei waren und so lange dabei geblieben sind. Vielen Dank an Dr. Mabanza und Olaf Bernau für ihre sehr spannenden Beiträge. Vielen Dank an Frau Kaebelmann, dass Sie den Chat verfolgt haben. Und natürlich an Yvonne Pöppelbaum in der Regie. Die nächste Veranstaltung ist in einem Monat, am25. Oktober. Dann geht es um denWettlauf gegen die Klimakrise mit Irene Owino Ojuk und Nakabuye Hilda Flavia.