2515 – Klimaschutz per Postleitzahl: Sechs australische Orte stellen das Gas ab
Die australische Postleitzahl 2515 ist zur Chiffre für Umweltschutz von unten geworden. In den zu ihr gehörenden Gemeinden stellen 500 Nachbarn ihre Haushalte von Gas auf hocheffiziente Elektrogeräte um. Ihre Begeisterung ist ansteckend: „Electrify 2515“ könnte auf dem ganzen Kontinent Schule machen.
Steigende Meeresspiegel, häufige Dürren, verheerende Stürme – die Folgen des Klimawandels sind weltweit spürbar. Doch rund um den Globus suchen Menschen nach Lösungen, die das Schlimmste verhindern können: Ressourcen nachhaltiger nutzen, neue Wege für die Landwirtschaft oder politisches Engagement für klimabewusstes Handeln. An jedem zweiten Mittwoch im Monat lesen Sie hier, wie Menschen weltweit gegen die Klimakrise kämpfen.
Wie verbessern wir die Welt? Wie bremsen wir den Klimawandel? Wie schrumpfen wir den eigenen CO₂-Fußabdruck so, dass wir uns nicht nur selbst etwas besser fühlen, sondern wirklich etwas ändern? In Anita’s Theatre im australischen Thirroul gibt es darauf an diesem Sonntag im November eine einfache Antwort: Zusammen mit den Nachbarn, in der eigenen Gemeinde, durch kluges Kalkulieren, mit vielen Solarzellen, moderner Technologie. Und mit reichlich Enthusiasmus, der im wahrsten Wortsinn elektrifiziert und ansteckt: Die Pilot-Veranstaltung „Electrify 2515“ ist der Startschuss für 500 Haushalte, die komplett von fossilem Gas und Öl auf Elektrogeräte umstellen, für ein Graswurzel-Projekt, das die Welt erobern soll. „Wir werden hoffentlich die erste Gemeinde sein, die der Welt zeigt: So funktioniert’s“, sagt Saul Griffith, Initiator der Rewiring-Bewegung, die 2515 gemeinsam mit anderen Partnern unterstützt.
In Anita’s fast 100 Jahre altem Art-Déco-Theater sorgen sonst Live-Bands und Comedy-Acts für Stimmung, an diesem Nachmittag ist die Atmosphäre ähnlich enthusiastisch. Freiwillige mit „Frag mich“-Stickern verteilen Infos. An Stucksäulen hängen Plakate, die Wärmepumpen erklären. Im Foyer verkaufen Eltern 10-Dollar-Shirts – von Nachbarn aus Second-Hand-Läden zusammengetragen und mit dem 'Electrify 2515'-Logo bedruckt. 2515 ist die Postleitzahl von sechs Gemeinden zwischen Sydney und Wollogong an Australiens Ostküste. In diesen Orten leben alle der fast 600 Leute im Zuschauerraum: Junge Eltern und Rentner, Klimaaktivisten und Energieexperten, Mieter und Hausbesitzer, Nachbarn und Neugierige. Auf dem Podium: Saul Griffith, Ben Dufty vom Energieversorger Endeavour Energy, Douglas Chapman vom nachhaltigen Finanzpartner Brighte, Freiwillige der 2515-Initiative. Ihre Botschaft: „Null Emissionen und niedrigere Stromkosten.“ In Australien, einem der größten Exporteure fossiler Energien mit einer von Rupert Murdoch dominierten Medienlandschaft, die Gas liebt und den Klimawandel gern klein redet, ist das fast spektakulär. Aber niemand hier versucht, gegen etwas oder negativ zu sein. „Was wir säen, ist der Keim für eine Umweltbewegung, die ‚Ja‘ sagt“, ermutigt Saul Griffith.
Wie alles anfing
Ausgebracht wurde diese Saat vor mehr als zwei Jahren. Es war im August 2022, Australiens Covid-Lockdowns und Grenzschließungen waren endlich vorbei, und eine Gruppe von Nachbarn südlich von Sydney hatte die Zeit auf der Couch zum Ideensammeln genutzt. Inspiriert von Saul Griffiths Bestseller „The Big Switch“ wuchs eine Graswurzelbewegung: Die Nachbarn wollten sich nicht mehr von Nachrichten über immer neue Gas- und Kohlevorhaben im Land lähmen lassen, sie wollten etwas tun. Sie wollten ihre eigenen Emissionen fossiler Brennstoffe reduzieren, in ihren Küchen Elektrogeräte bevorzugen, nebenbei Geld sparen und fragten sich: Wie viel besser wär’s, wenn jeder in der eigenen Straße mitmachte? Schon auf ihre erste 'Wer-hat-Interesse?-Umfrage’ antwortete ein knappes Drittel aller 4.700 Haushalte in der Umgebung: Wir sind dabei! Hunderte kamen zu den ersten Treffen in der Bücherei.
Das 2515-Team koordinierte ein Programm, für das lokale Firmen Solarmodule zu günstigeren Preisen installierten und schuf über 800 Kilowatt zusätzliche Solarkapazität. Sie veranstalten Infotage für Elektroautos und E-Bikes, organisierten Sammeleinkäufe mit Rabatten für hocheffiziente Küchengeräte. „Wir hatten anfangs viel ambitioniertere Pläne, haben hunderte Anträge geschrieben“, sagt Kristen McDonald vom Gründungsteam, die die Veranstaltung in Anita’s Theater moderiert. Politiker, die Mittel versprachen, verloren die nächste Wahl, die 2515-Crew hielt durch. „Es gab reichlich Auf und Ab“, sagt Kristen. Doch zuletzt holten sie Australiens Regierung an Bord: Im Oktober 2024 kam Chris Bowen nach Thirroul. Der Labor-Politiker ist seit 2022 Australiens Klimawandel- und Energieminister und er versprach, die Initiative mit 5,4 Millionen australischen Dollar (3,3 Millionen Euro) durch die Australian Renewable Energy Agency (Arena) zu unterstützen. „Das ist wirklich bedeutsam“, freut sich McDonald. Arena unterstütze eigentlich keine lokalen Projekte wie dieses. „Aber jetzt wird zum ersten Mal aus einer Nachbarschafts-Kampagne ein national wichtiges Forschungsprojekt.“ Überzeugt habe Bowen auch die Begeisterung der Anwohner: „Hier wollen offenbar wirklich viele Menschen eine Veränderung zum Positiven.“
Die Technik: Dach, Küche, Smart-Meter, Klimaanlage
Seit Anfang November können die Einwohnerïnnen sich nun als Versuchskaninchen für die 'Umverkabelung’ bewerben. Wer ausgewählt wird, bekommt finanzielle Unterstützung bei der Umstellung von Gas auf effiziente Elektrogeräte: Je nach Einkommen erhalten Haushalte 1.000 bis 1.500 Dollar für eine umkehrbare Klimaanlage, die heizt oder kühlt, die gleiche Summe für eine Wärmepumpe und einen Induktionsherd – wenn sie ihre alten Gasgeräte ausmustern. Für Batterien stehen 1.500 bis zu 4.000 Dollar zur Verfügung. Maximal 30 Prozent der Kosten müssen die Bürgerïnnen selbst tragen. Gratis gibt es einen Smart-Meter, einen Zähler, der Energieverbrauch, Nutzung und Rückspeisung ins Netz dokumentiert. Nicht inbegriffen sind zunächst Solarzellen, das Pilotprojekt unterstützt Anwohnerïnnen aber bei Auswahl und Einkauf von Produkten zu Rabattpreisen, örtliche Firmen werden mit der Installation beauftragt.
Bis zu 10.000 $ können Einkommensschwächere für den Elektro-Switch bekommen, wohlhabendere Leute bis 5.000 $. In Phase 1 werden 60 Haushalte umgerüstet und analysiert – denn die Geldspritze ist ein Geschenk mit Gegenleistung: „Zu den wichtigsten Aspekten des Pilotprojekts gehören die Auswertung der Daten und die Analyse der Erfahrungen, die wir unterwegs machen“, sagt Elsa Evers, die inzwischen nicht mehr ehrenamtlich, sondern als Kommunikationsmanagerin für die Initiative arbeitet. „Die Leute müssen schon auch Lust haben, bei der Statistik mitzumachen“, sagt die Mutter von zwei kleinen Kindern, hat allerdings wenig Zweifel daran. So viele Nachbarn seien begeistert – von der Idee ihre Lebenshaltungskosten zu senken und davon, weniger CO₂ zu verursachen. Ähnlich wie sie selbst: „Es ist spannend, für so ein Projekt arbeiten zu können, und das auch noch vor der eigenen Haustür mit den eigenen Nachbarn.“ Nach Auswertung der ersten sechzig Haushaltsdaten folgen im August 2025 weitere 440 Haushalte. „Und dann, wenn es gut läuft, der Rest Australiens“, sagt Evers, „möglichst etwas schneller und nicht eine Postleitzahl nach der anderen. Der Klimawandel verlangsamt sich ja auch nicht.“ 2025 wird in Australien gewählt, das Rewiring-Team hofft, dass die Regierung – angespornt vom Erfolg des Projekts – auch den übrigen elf Millionen australischen Haushalten beim Wechsel zum klimafreundlicherem Strom hilft. Der praxisnahe Versuch will mit Daten in Echtzeit und Unterstützung durch den Energieversorger Endeavour auch Skeptiker zum Schweigen bringen, die in Australien regelmäßig Ängst schüren, mehr Sonnenenergie würde die Stromnetze zusammenbrechen lassen.
Der Erfinder
Griffith kennt sich mit der dafür notwendigen Lobbyarbeit gut aus. Der Ingenieur, Erfinder, Autor, Unternehmer und Spezialist für Erneuerbare Energien arbeitete 20 Jahre lang in den USA, wo er unter anderem klimapolitischer Berater für Joe Biden war. Die Corona-Pandemie brachte ihn und seine Familie zurück nach Australien, genauer nach Austinmer, Postleitzahl 2515, knapp 30 Minuten mit dem Rad von seiner alten Heimat Wollongong entfernt. Nach seiner Rewiring-America-Kampagne macht Griffith nun im eigenen Hinterhof weiter: Für das gemeinnützige Rewiring Australia-Projekt schrieb er hunderte von Zuschuss-Anträgen. Er rechnet und erklärt Modelle, er schreibt Prognosen und Analysen, er baut Solarfahrräder, überzeugt Energieversorger, Politikerïnnen und inspiriert – auf eine Art, die so zupackend-bodenständig wie visionär ist. Griffith möchte, dass sein Klimawandel-Aktivismus nicht als „Krieg gegen die Fossilen“ sondern als Kampf „für die Umwelt“ daherkommt. Die Lösungen seien alle da, nur nicht am gleichen Ort, sagt er in einer Rede über seinen persönlichen Weg zum Klimaaktivisten: „Wenn wir die Kosteneffizienz von australischen Solarzellen, deutschen Wärmepumpen und kalifornischen E-Autos zusammenbringen, kann jeder Haushalt jedes Jahr tausende Dollar sparen. Diese Klimapläne werden keine Billionen kosten, sie werden Billionen einsparen. Wir haben die Technologie, wir brauchen nur ein anderes Narrativ.“ Und wir sollten unterwegs nicht allzu viel Zeit verlieren, empfiehlt er in Thirroul mit Hinweis auf die greifbaren Folgen des Klimawandels.
„Ich möchte, dass Sie sich alle Sorgen machen! Und dann möchte ich, dass Sie in den nächsten 20 Jahren fünf gute Entscheidungen treffen“, sagt er auf Anita’s Bühne: „Wenn wir alle unsere Heizsysteme und unser Heißwasser nach und nach auf Strom umstellen, das Kochen und die Autos, zudem Solar und Batterien installieren, ist das ein riesiger Teil der Lösung.“ Australien könne den Weg weisen, sagt er und erinnert daran, dass das Vermeiden von CO₂ auch Geld spart: Zusammengerechnet würden alle 4.700 Haushalte in 2515 derzeit 38 Millionen Dollar im Jahr für fossile Brennstoffe ausgeben, rechnet er vor, 23 Millionen davon an den beiden Tankstellen im Ort, 7,5 Millionen für Gas und 8 Millionen für Strom. Sobald in etwa zehn Jahren die Umstellung auf Elektro komplett sei, sparten die Nachbarn 16 bis 20 Millionen Dollar pro Jahr, zudem bleibe mehr Geld bei lokalen Handwerkern. „Ich bin etwas nervös“, gibt Griffith zu. „Normalerweise mache ich Experimente mit Maschinen, dieses hier läuft in meinem Zuhause. Hoffentlich stimmt alles was ich sage, falls nicht, muss ich wegziehen.“ Die Zuschauerïnnen lachen.
2515 - die einstigen Kohledörfer zwischen Steilhang und Meer
Südlich von Sydney kurvt die S-Bahn auf dem Weg nach 2515 durch Eukalyptuswälder. Der zweitälteste Nationalpark der Welt grenzt mit sandigen Buchten und Felsen ans Meer. Von den verheerenden Feuern des Black Summer 2019/2022 ist im Vorbeifahren kaum mehr etwas zu sehen. Drei nasse La-Niña-Sommer haben vor allem üppiges Grün hinterlassen. Vor Coalcliff liegen zwischen Bahnstrecke und Wald noch Verladerampen und rostige Zuber, Überreste der Industrie, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts hier für Arbeit sorgte: Kohle. Das letzte Bergwerk in Coalcliff schloss 1992, später auch die Kokerei. Heute wohnen in den Ortschaften zwischen Steilhang und Pazifik Stadtflüchtlinge, die aus der Fünf-Millionen-Einwohner-Metropole Sydney herzogen: Ruheständler, Kreative, Selbständige und junge Familien mischen sich zwischen Surfer und Alteingesessene.
Die Nachbarn
Jane und Brian Johnson mieteten jahrelang ein Wochenend-Cottage an einem spektakulär schönen Hang über dem Strand von Wombarra. Whale-Watching geht hier von der Veranda aus. 2018 kauften sie das Nachbarhaus, zogen ganz dorthin und montierten auf dem Dach ihre ersten Solarzellen. Das 6,6-Kilowatt-System produziert mehr als genug für den eigenen Bedarf, den Überschuss speisen ins Netz ein, und ihr neues Auto fährt ebenfalls elektrisch. „Wir haben immer versucht, umweltbewusst zu leben, haben recycelt und kompostiert, aber es fühlte sich oft an wie ein Tropfen im Ozean“, sagt Jane, auch angesichts der Tatsache, dass die Industrie das meiste CO₂ verursacht. „Jetzt Teil eines großen Community-Projekts zu sein, ist so viel konkreter und befriedigender“, sagt sie. „Die 2515-Initiative hat uns klar gemacht, dass es viel gibt, was jeder von uns selbst beitragen kann, dass wir etwas ändern und wirklich bewegen können.“ Jane setzt Wasser auf dem hypereffizienten Induktionsherd auf. „Ich hätte nie gedacht, dass ich mich vom Kochen auf Gas trennen könnte. Aber dies ist fantastisch, die Temperaturkontrolle ist großartig.“ Das Paar bewirbt sich darum, zu den 500 Pilot-Haushalten zu gehören. Werden sie akzeptiert, wollen sie ihre Fördergelder an bedürftigere Haushalte spenden, aber zugleich unbedingt bei der Auswertung des Pilotprojekts mitarbeiten – um die Initiative freiwillig zu unterstützen und weil sie die Daten interessieren. Eine Wärmepumpe wollen sie als nächstes einbauen, und dann hoffentlich mit dem klugen Zähler ihren Verbrauch beobachten. „Im Idealfall wird dieser Versuch ein Riesenerfolg, bei dem wir eine Menge lernen, und der die Regierung motiviert, die Umstellung vom Gas australienweit zu fördern“, sagt Brian. So wie Australien derzeit Kohle und Gas mit Milliarden Dollar unterstütze, müssten künftig Erneuerbare noch stärker gefördert werden.
„Gina Rinehart war heute in Mar-a-Lago bei Donald Trump“, erzählt Jane am Morgen vor dem Launch in Wombarra. Das habe sie in einer News-Sendung im Radio gehört. Rinehart ist Australiens reichste Frau, dank Kohle und Gas. Während Rinehart mit Trump in Florida schon ihre fossilen Anliegen diskutiert, befinden sich viele Australier drei Tage nach der US-Wahl noch in einer Art Schockstarre, „Wir müssen einfach tun, was wir können“, sagt Jane. Rinehart werde ihre fossile Agenda pushen, wo immer sie könne. Australien ist inzwischen nicht nur einer der größten Kohleexporteure der Welt, sondern exportiert auch Rekordmengen an Gas. Erst im Juni genehmigte die Umweltministerin den Betrieb von bis zu 151 neuen Kohleflözgasbohrungen in Queensland.
Zugleich erreichte Australien im November einen Meilenstein: Vier Millionen Haushalte - das ist einer von dreien - haben jetzt Solarzellen auf dem Dach. Überraschend ist: Dem unabhängigen Climate Council zufolge installieren in den wohlhabenderen Gegenden nur 20 Prozent der Haushalte Solaranlagen auf ihren Dächern, in den ärmeren Vororten sind es fast doppelt so viele. Doch trotz des Ausbaus von Wind- und Solarenergie verursachen die Australierïnnen pro Kopf noch immer mehr CO₂ als alle anderen G20-Länder. 35 Prozent des eigenen Strombedarfs decken bisher Erneuerbare, die Labour-Regierung will das bis 2030 auf 82 Prozent steigern. Wer weiß, vielleicht gibt 2515 diesem Ziel etwas Rückenwind? Nach der ersten Postleitzahl wollen inzwischen Dutzende andere Gemeinden in ganz Australien dem Vorbild folgen.
Dieser Beitrag wurde gefördert durch den Riff-Qualitätsfonds für freien Journalismus der RiffReporter eG.