Krieg in der Ukraine: Welche Krisen schürt er weltweit?

Wegen des russischen Einmarschs in die Ukraine drohen weltweit Versorgungsengpässe. Einige Länder sehen darin eine Chance

vom Recherche-Kollektiv Weltreporter:
7 Minuten
Zu sehen ist eine weiße Schale, in der nur zwei Nudeln liegen.

Mehr als 10.000 Kilometer liegen zwischen der umkämpften ukrainischen Hauptstadt Kiew und Mexiko-Stadt. Gut 9.500 Kilometer ist Jakarta entfernt, Sitz der indonesischen Regierung. Über 8.200 Kilometer sind es von Kiew in die kenianische Hauptstadt Nairobi, 7.800 Kilometer trennen Washington von Kiew. Ungeachtet der großen Entfernungen: überall sind die Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine zu spüren.

Zum Auftakt eine gute Nachricht: die afrikanische Afreximbank hat einen Sonderfonds aufgelegt, um die Volkswirtschaften und Unternehmen auf dem afrikanischen Kontinent vor wirtschaftlichen und politischen Schocks infolge des Krieges in der Ukraine zu bewahren. Das Handelsfinanzierungsprogramm hat laut der im ägyptischen Kairo ansässigen Bank ein Volumen von vier Milliarden US-Dollar. In einer Erklärung betonte die Bank die besondere Rolle sowohl Russlands als auch der Ukraine als Lieferanten von Rohöl und Gas, Rohstoffen und Getreide. Weiter hieß es, der Ausbruch des Konflikts „beeinträchtigt auch afrikanische Volkswirtschaften, insbesondere jene, die in hohem Maße von Getreide-, Düngemittel- und Kraftstoffimporten abhängig sind". Das trifft auf viele Länder des afrikanischen Kontinents zu, denn auf Russland und die Ukraine zusammen entfielen bisher rund ein Drittel der weltweiten Weizenexporte, 19 Prozent der weltweiten Maislieferungen und 80 Prozent der weltweiten Sonnenblumenölexporte.

Ukraine – Krieg verschärft Krise in Ostafrika

Daher wundert es nicht, dass laut der Afreximbank die Nachfrage nach Finanzierungen den zur Verfügung stehenden Betrag von vier Milliarden USD schon nach wenigen Tagen bei weitem übersteigt. Die Bank hat nach eigenen Angaben bereits Finanzierungsanträge über 15 Milliarden USD erhalten. Der übergroße Bedarf ist die schlechte Nachricht in der guten. Aber immerhin: Statt lange auf Zusagen westlicher Geber zu warten, für die Afrikas Krisen im Schatten des Kriegs in Europa stehen, hat die afrikanische Bank bemerkenswert schnell reagiert. Und das aus gutem Grund: „Es besteht eine gewisse Dringlichkeit, diesen Finanzierungsanträgen nachzukommen, um katastrophale soziale Zustände in ganz Afrika zu vermeiden und das Risiko zu verringern, dass sie sich in politische Herausforderungen verwandeln“, so die Bank.

Das Foto zeigt eine durchsichtige Vorratsdose, die weitgehend leer ist, aber noch etwas Weizenmehl enthält.
Weizenmehl wird weltweit knapp und deshalb drastisch teurer. Das verteuert auch Brot.

Soziale Unruhen als mögliche Folgen

Besorgt äußerte sich auchdasKiel Institut für Weltwirtschaft (IfW Kiel): Russlands Invasion in der Ukraine bedrohe die Ernährungssicherheit in Afrika. Die Versorgung mit Getreide dürfte sich für viele afrikanische Staaten dauerhaft verschlechtern und verteuern, hieß es weiter. Sollten russische Getreideexporte deutlich fallen, etwa weil das Land einen Exportstopp verhängt, stünden einige der ärmsten Länder wohl vor einer schweren Hungerkrise. Dies zeigen aktuelle Modellrechnungen des IfW Kiel. Zahlreiche afrikanische Staaten seien von den Getreidelieferungen aus den beiden Ländern abhängig und könnten einen Ausfall oder Rückgang auch langfristig nicht ersetzen, sagte Tobias Heidland, Forschungsdirektor und Mitglied im Forschungscluster Afrika am IfW Kiel. „Dies kann für einzelne Länder dramatische Folgen haben, im schlimmsten Fall drohen schwerer Hunger und soziale Unruhen.“

Dass der Krieg in der Ukraine auch die Sicherheit in Afrika beeinträchtigen könnte, zeigt außerdem ein Beispiel aus der Demokratischen Republik Kongo: Die Ukraine hat ein wichtiges Kontingent von Friedenssoldaten aus der UN- Stabilisierungsmission in der DR Kongo abgezogen. Sie sollen nun ihr Heimatland verteidigen.

Trotz allem womöglich auch wirtschaftliche Chancen

Allerdings könnte es auch einige wirtschaftliche Lichtblicke geben, meint Jakkie Cilliers, Leiter der Abteilung Internationale Zukunft und Innovation am Institut für Sicherheitsstudien (ISS) in Pretoria. So sei zum Beispiel Südafrika ein Nettoexporteur von Mais und einiger Mineralien – beispielsweise Platin -, die von den westlichen Sanktionen gegen Russland betroffen sind. Südafrika könnte das nutzen und die Lücke füllen. Andere afrikanische Länder könnten versuchen, die Lücke bei den Öl- und Gaslieferungen nach Europa zu schließen. Oder Energie aus erneuerbaren Quellen liefern, insbesondere das Potential an Solarenergie stärker nutzen.

Nudel-Krise in Indonesien

Spürbar sind die Folgen des Kriegs in Europa auch in Asien, schildert Weltreporterin Tina Schott: Ausgerechnet zum Beginn des muslimischen Fastenmonats steigen die Preise für Lebensmittel und Benzin in Indonesien in ungeahnte Höhen. Traditionell reisen Millionen Indonesier zum Zuckerfest am Ende des Ramadans zu ihren Verwandten aufs Land. Wegen der strengen Corona-Einschränkungen in den vergangenen beiden Jahren konnten sich viele Familien seit langem nicht sehen und der Nachholbedarf ist groß. Doch die Transportkosten sind seit Ausbruch des Ukraine-Kriegs auch im fernen Osten so teuer geworden, dass sie für viele Durchschnittsverdiener unerschwinglich werden.

Die Bewirtung der Festgäste gestaltet sich außerdem schwierig: Von einer „Nudelkrise” schreiben die Medien im Land mit dem größten Instantnudel-Konsum der Welt. Aber auch andere Getreideprodukte werden rar angesichts des Wegfalls von Importen aus der Ukraine sowie der steigenden Preise von Waren aus Übersee – unter anderem von Grundnahrungsmitteln wie Tofu und Tempe, die aus Soja hergestellt werden. Auf der anderen Seite steht die indonesische Rohstoff-Industrie bereit, die russischen Export-Lücken zu füllen: Produzenten von Kohle, Nickel und Palmöl hoffen auf starke Zugewinne.

Indonesische Friedensappelle

Derweil übt sich Indonesiens Regierung in Diplomatie: Außenministerin Retno Marsudi traf vergangene Woche in China ihren russischen Amtskollegen Sergej Lawrow und appellierte an den Vertreter des Kreml, den Krieg in der Ukraine so schnell wie möglich zu beenden. Indonesien hat zurzeit den Vorsitz der G20 und bemüht sich, die Kommunikation mit allen Parteien aufrecht zu erhalten. So hat auch der russische Präsident eine Einladung zum G20-Gipfel auf Bali im Oktober dieses Jahres erhalten – und sein Kommen zugesagt.

Das Foto zeigt die Grenzanlage im mexikanischen Ciudad Juarez, darüber ist eine Autobrücke zu sehen. Drei Passanten laufen an der Grenzmauer vorbei.
Für Flüchtlinge aus Mexiko bleibt die US-Grenze fast unüberwindlich, während 100.000 Menschen aus der Ukraine aufgenommen werden sollen.

USA: Ungleiche Behandlung von Flüchtlingen

US-Präsident Biden hat angekündigt, 100.000 Flüchtlinge aus der Ukraine im Land aufzunehmen. Eine niedrige Zahl angesichts der Millionen Menschen, die aus der Kriegsregion fliehen, findet Kerstin Zilm, die aus Los Angeles berichtet. Doch schon diese Ankündigung schürt in den USA Kontroversen, besonders in Bundesstaaten mit Grenzen zu Mexiko. Dort wurden in den vergangenen Wochen laut New York Times jeden Tag mehr als 13.000 Migranten von fast allen Kontinenten der Welt registriert.

In Tijuana, dem meistgenutzten Grenzübergang zwischen Kalifornien und Mexiko, warten Tausende seit Monaten – manche seit Jahren – auf einen Termin für eine erste Anhörung bei den Asylbehörden. Bisher sind in Tijuana mehr als 2.000 Flüchtlinge aus der Ukraine angekommen. Sie werden ohne Visum ins Land gelassen, wenn sie eine Adresse in den USA angeben können. Das US-Heimatschutzministerium hat für die Kriegsflüchtlinge auch eine von Präsident Trump nach Ausbruch der Pandemie in Kraft gesetzte Regelung gestoppt, die mehr als 1,7 Millionen Flüchtlingen aus anderen Ländern die Einreise unmöglich machte – aus Gesundheitsgründen. Mehrere hundert Ukrainerinnen und Ukrainer haben bereits den Weg in die USA geschafft – zu Freunden, Verwandten oder freiwilligen Helfern.

Zu sehen ist ein massiver und sehr hoher Zaun, der über einen Strand bis ins Meer reicht, um ihn möglichst unpassierbar zu machen.
Bei Tijuana ist die Grenze zwischen Kalifornien und Mexiko besonders stark genutzt.Tausende warten seit Monaten auf einen Termin für die erste Anhörung bei den Asylbehörden.

Große Hilfsbereitschaft

Die Bereitschaft zu helfen ist nach wir vor überall im Land überwältigend, und Wohltätigkeitsorganisationen haben im Schnellverfahren Hilfsprogramme organisiert. Sie wundern sich gleichzeitig, wie umgehend die US-Regierung bürokratische Hürden für Flüchtlinge aus der Ukraine beseitigt, die für Asylsuchende zum Beispiel aus Haiti, Mittelamerika, Syrien, Äthiopien und Kamerun schier unüberwindlich sind. Noch im September des vergangenen Jahres lies die US-Regierung ein improvisiertes Zeltlager von mehr als 15.000 haitischen Asylsuchenden auflösen, ohne dass diese die Chance bekamen, einen Asylantrag zu stellen. Flüchtlinge, die aus anderen Regionen als der Ukraine Zuflucht in den USA suchen fürchten, dass sie sich angesichts eines schon jetzt komplett überforderten Immigrationssystems in den USA auf noch längere Wartezeiten einstellen müssen oder ganz vergessen werden.

Mexikos Regierung bleibt neutral

Der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador bleibt bei seiner neutralen Haltung, hat Wolf-Dieter Vogel beobachtet. Zwar verurteilte der Staatschef am Wochenende erneut die russische Invasion in der Ukraine, spricht sich zugleich aber gegen jegliche Sanktionen gegen das Putin-Regime aus. Die ukrainische Botschafterin in Mexiko, Oksana Dramarétska hatte López Obrador nach dem Massaker von Bucha gebeten, seine Haltung zu überdenken: „Wollen Sie wirklich danach Ihre freundschaftlichen Beziehungen zu den Völkermördern im Kreml aufrechterhalten?“

Das hat den nationalistischen Präsidenten weniger beschäftigt als ein Konflikt mit der US-Regierung. Nachdem mexikanische Abgeordnete, u.a. von López Obradors Partei Morena, eine prorussische Gruppe gegründet und den Moskauer Botschafter Víktor Koronelli eingeladen hatten, reagierte Washington empfindlich. So etwas dürfe nie passieren, sagte der US-Botschafter Ken Salazar. Koronelli freute sich indes über die "Geste der Hilfe, Solidarität und Freundschaft“ der Parlamentarier.

Mexiko sei das Land mit den meisten russischen Spionen, hieß es dagegen vom nördlichen Nachbarn. López Obradors Antwort kam schnell. Man müsse Telegramme zum nördlichen Nachbarn schicken und ihn darüber informieren, dass Mexiko weder die Kolonie Chinas oder Russlands noch der USA sei. Im übrigen sei der Krieg der schlechten Arbeit der UNO geschuldet, die nicht alle Wege des Dialogs ausgeschöpft habe.

„It´s the economy, stupid“ – Venezuela und USA nähern sich vorsichtig an

Für den US-amerikanischen Erzfeind Venezuela birgt der Krieg in der Ukraine dagegen eine Chance: Womöglich könnte es die Energieengpässe lindern, die wegen des Kriegs in den USA absehbar sind. Der erste Schritt ist immerhin getan: Der US-Ölkonzern Chevron bereitet sich darauf vor, wieder in dem lateinamerikanischen Land zu arbeiten. Seit langem hält Washington zahlreiche Sanktionen gegen die Regierung des US-kritischen Präsidenten Nicolás Maduro aufrecht, 2019 hat der damalige US-Staatschef Donald Trump Chevron die Zusammenarbeit mit dem staatlichen Erdölunternehmen PDVSA versagt.

Doch der russische Angriff auf die Ukraine könnte nun das Verhältnis der beiden Länder auf einen neuen Weg bringen. Zumindest wirtschaftlich, denn ab Ende April werden den USA täglich 700.000 Barrel Öl fehlen, die bislang aus Russland geliefert wurden. Und so machten sich US-Vertreter auf den Weg nach Caracas. Allerdings könnte Venezuela, einst wichtigster Lieferant für die USA, mittlerweile nur noch einen kleinen Teil liefern, schließlich sind die PDVSA-Anlagen aufgrund der US-Sanktionen sowie Misswirtschaft ziemlich ruiniert.

Zudem stehen einer Kooperation viele Hürden im Weg, von sanktionsbedingten Vorgaben bis zu innenpolitisch schwierigen Manövern auf beiden Seiten. Immerhin: Nach den ersten Gesprächen wurden zwei US-Bürger aus venezolanischer Gefangenschaft befreit und Maduro sprach von einem herzlichen, respektvollen und diplomatischen Treffen mit der US-Delegation.

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