Mary Ellen Mark: Bilder von Menschen aus aller Welt
„Ich suche nach Humor, nach Ironie, nach Intensität“. Zur Wiederentdeckung der US-Fotografin Mary Ellen Mark, die das Genre der Documentary Photography neu prägte
Die Fotoreporterin Mary Ellen Mark war eine Suchende. Sie setzte auf authentische Bilder, die über den Moment hinaus eine Bedeutung haben. Redakteuer:innen erfolgreicher Magazine schätzten ihre Arbeit und ermöglichten ihr Reisen in alle Welt. Sie stand kompromißlos zu ihren Werten: „Meine Fotografien sind emotional. Ich möchte, dass sie emotional sind. Ich möchte Menschen berühren, ich möchte, dass sie ihre Gefühle zulassen. Es ist nicht einfach zu sagen, wonach ich suche. Ich suche nach Humor, nach Ironie, nach Intensität. Ich suche nach dem, was eine gute Fotografie ausmacht.“
In den vergangenen Jahren erinnerten mehrere Ausstellungen an das Werk von Mary Ellen Mark (1940–2015), etwa in der Fotogalerie c/o Berlin und nun aktuell in der Kunsthalle Vogelmann in Heilbronn. Vielleicht beruht das neue Interesse an der Magnum-Fotografin auf ihrer Fähigkeit in ihren Bildern eine elektrisierende Kraft einzufangen, Menschen zu porträtieren jenseits der Maske der Konformität. Im Gegensatz zu vielen Künstler:innen heute wollte sie „ehrliche Bilder“ schaffen, fotografierte analog, suchte Kontakt zu Menschen, die am Rand der Gesellschaft lebten. Wer war diese Frau und warum verändern ihre Bilder den Blick auf die Gesellschaft?
Die US-Amerikanerin studierte Malerei und Kunstgeschichte an der Pennsylvania-University in Philadelphia. Doch der Job als Zeichnerin, den sie mit dieser Ausbildung fand, langweilte sie. Sie entdeckte die Fotografie für sich und ließ sich an der Annenberg-School of Communication als Fotojournalistin ausbilden. 1967 ermöglichte ihr ein Fulbright-Stipendium einen einjährigen Aufenthalt in der Türkei, wo sie erstmals Kinder traf, die posierten, als seien sie Erwachsene. Anschließend zog sie nach New York. Prägend für ihren späteren Weg erwies sich ihr Job als Filmset-Fotografin. Diese Auftragsarbeit sicherte ihr den Lebensunterhalt und regte sie zu eigenen Langzeit-Projekten an.
1975 arbeitete sie am Set des Films „Einer flog über das Kuckucksnest“ von Milos Forman. Die Hauptrolle der preisgekrönten Tragikomödie spielte Jack Nicolson. Was viele Fans des Films vielleicht nicht wissen: Er wurde an einem Originalschauplatz gedreht, im Oregon State Mental Hospital in Salem. Während einer Führung des Direktors erfuhr Mary Ellen Mark von der geschlossenen Frauenabteilung „Ward 81“. Sie bat darum, die Ort besuchen zu dürfen. Im Jahr darauf erhielt sie mit der Autorin und Pädagogin Karen Folger Jacobs die Erlaubnis, für sechs Wochen dort einzuziehen, am Leben der Frauen teilzunehmen und zu fotografieren. 1979 erschien ihr Bildband Ward 81.
Das mehrfach neuaufgelegte Buch demonstriert die großen Stärken der Fotoreportage. Jenseits aller Klischees wird den Leser:innen in Bild und Wort vorgeführt, wie unterschiedlich psychische Erkrankungen sein können, wie verschieden die Betroffenen damit umgehen – und was gerade in einer geschlossenen Station Gemeinschaft und Solidarität bedeuten. Mary Ellen Mark fotografierte die Frauen beim Tanzen, Baden, an das Bett fixiert: „Ich wollte zeigen, wie es sich anfühlt, psychisch krank zu sein. Ich wollte, dass die einzelnen Bilder den Schmerz und die Desorientiertheit der Frauen zeigen.“ Ihr war klar geworden, dass Frauen darunter waren, die sich nicht sehr viel von ihr unterschieden.
Auf ihren Reisen, die sie im Auftrag von Zeitschriften wie Life, Rolling Stone, Vanity Fair oder das New York Magazine unternahm, traf sie auf Menschen, denen sie mit ihren Bildern ein anonymes Denkmal setzte: dem blinden Mädchen, das in der Missionsstation Shisu Bhawan der Schwestern der Mutter Teresa in Kalkutta nach der Hand ihrer zukünftigen Adoptivmutter tastet, den heroinsüchtigen Jugendlichen in einer Einrichtung für kontrollierte Drogenabgabe in England oder den von ihrer Mutter an einen Circus vermieteten jungen Akrobatinnen in Indien.
Mit Hilfe ihrer Kamera erforschte sie das Leben der Frauen. Mit jedem Bild erfuhr sie aber auch mehr über sich selbst: „Ich fühle mich den Außenseitern verbunden. Auch wenn ich mich selbst nicht als Feministin sehe, stehe ich immer auf der Seite der Frauen, weil sie gewöhnlich die Außenseiter sind.“
Sex-Arbeiterinnen in Mumbai
Zu den größten Herausforderungen ihrer Reporterkarriere gehörte eine Geschichte über die Frauen der Falkland Road, eine der Prostitutionsstraßen in Mumbai, die sie 1968 auf einer privaten Reise entdeckt hatte. Zehn Jahre später finanzierte ihr das Geo Magazin dort einen mehrmonatigen Reportage-Aufenthalt. Anfangs waren die Anwohner:innen misstrauisch. Obwohl sie sich bei diesem Projekt oftmals entmutigt fühlte, gelang es Mary Ellen Mark nach einer Weile, Kontakt zu dem Milieu aufzunehmen. Sie erhielt Zutritt zu einem Bordell und zu einem Kreis von Transsexuellen.
Ihre Bilder spiegeln eine Intimität, die nur entsteht, wenn zwischen den Personen vor und hinter Kamera Einvernehmen herrscht. Die Mädchen von Madame Saroja begriffen, dass die Fotografin ihre Würde achtete, versuchte, was sie sah, vorurteilsfrei zu dokumentieren. Obwohl es um Sex als Ware ging, war keines dieser Bilder anstößig. Die Frauen lebten in Armut und hofften auf einen Freier, der sie aus ihrer Misere herausholte. Sie lebten wie in einer großen Familie zusammen – mit ihren Kindern, von denen keiner weiß, wer ihre Väter sind. Auch zu diesem Langzeitprojekt erschien ein Bildband.
Würden solche Bilder in unser Zeit nahezu hysterischer Sensibilität für problematische Motive noch gedruckt werden? Schon damals gab es Vorbehalte. In der Broschüre der Heilbronner Ausstellung ist nachzulesen, dass Geo diese Bilder nicht publizierte, weil sie zu „speziell“ erschienen für den amerikanischen Markt. 1981 brachte das Magazin Stern eine dreizehnseitige Reportage mit den Bildern von Mary Ellen Mark heraus. Straßenkinder in Seattle Armut, Chancenlosigkeit und Prostitution gibt es nicht nur in bevölkerungsreichen Ländern mit einem niedrigen Lebensstandard.
1983 beauftragte das Life Magazin die Fotografin mit einer Reportage über Straßenkinder in den USA. Mary Ellen Mark fand sie in Seattle, der vier Millionen Einwohner zählenden Handelsmetropole im Nordwesten der Vereinigten Staaten. Über Streetworker erfuhr sie, wo sie die Kinder finden würde: in der Pike Street, damals das Terrain von Gay Culture und Grunge-Rock. Die Kinder und Jugendlichen hielten sich mit Diebstählen, Zuhälterei und Prostitution über Wasser. Dort lernte die Fotografin Erin Blackwell kennen, genannt Tiny.
Mary Ellen Mark notierte ihre Beobachtungen und Erlebnisse ihrer Reisen: „Tiny war ein außergewöhnlich schönes Mädchen. Sie war erst 13 Jahre alt und wirklich sehr klein. Ich traf sie zum ersten Mal auf dem Parkplatz eines Clubs namens Monastery. (…) Sie war gekleidet wie eine Erwachsene. Ich versuchte mit ihr zu sprechen, aber sie hielt mich für die “Polizei„ und lief weg. Ich fand heraus, dass sie sich prostituierte und nur gelegentlich bei ihrer Mutter lebte, (…) wo ich sie am nächsten Tag fand.“
Gemeinsam mit dem Dokumentarfilmer Martin Bell entstand der Film Streetwise, in dem Tiny die Hauptrolle spielte. Es entspann sich ein vertrauensvoller Kontakt, der lange währte. Beinahe wäre das Mädchen mit dem Paar nach New York gezogen. Tiny entschied sich jedoch gegen ein geordnetes Leben, das Schulbesuch und Akzeptanz bürgerlicher Normen vorausgesetzt hätte. Einige wenige Bilder der Ausstellung zeigen das einst freche Mädchen als schwangere Jugendliche, als aufgedunsene Mutter mehrerer Kinder oder zusammen mit ihrer alkoholabhängigen Mutter. Anfangs begreift man nicht, dass es sich um ein und dieselbe Person handelt. Es sind Bilder, die einem nicht so schnell aus dem Kopf gehen.
Was ist eine gute Fotoreportage?
Seit Beginn ihrer Laufbahn orientierte sich Mary Ellen Mark an Fotograf:innen wie Dorothea Lange, Robert Frank und W. Eugene Smith, deren Blick für die Tragik des Alltags sie begeisterte. Als sie in den späten 1960er und 1970er Jahren ihren, eigenen, sehr speziellen Ansatz entwickelte, war eine anspruchsvolle Fotoreportage noch Teil eines jeden Magazins, das etwas auf sich hielt. Das änderte sich Ende der 1980er Jahre.
In einem Interview für eine Publikation der Reihe Photographers at Work der Smithsonian Institution sagte sie 1990: „Was dokumentarische Arbeit anbelangt, sind die Magazine an einem Tiefpunkt angelangt. Es wird nun viel Wert auf Hochglanz-Geschichten von Celebrities gelegt.“ Sie fühle sich gerade durch einen Life-Auftrag ermutigt, für den sie nach Indien reisen würde. Mary Ellen Mark gab sich optimistisch: "Viele der Geschichten, die heute publiziert werden, sind ohne jegliche Aussage. Richtige dokumentarische Fotografie ist viel stärker.
In ihren Texten und Interviews betont die Fotografin, wie wichtig ihr jede einzelne Aufnahme sei, und dass diese nicht beschnitten werden. „Ich möchte, dass jedes Bild für sich steht. Jedes bedeutende Bild muss über das dargestellte Thema hinausgehen – wie Gedichte als schön und berührend empfunden werden, müssen auch Fotografien ein wenig ins Abstrakte gehen.“
Schaut man sich ihre Buchpublikationen an, wird deutlich, dass ihr die aufwändige Arbeit an einer Reportage erst ermöglichte, solche starken Einzelbilder zu schaffen. Ihre Langzeitprojekte erlaubten ihr, sich auf ein Thema, die Menschen einzulassen und sich selbst für unvorhergesehene Situationen zu öffnen. Es gelangen ihr aber auch grandiose Schnappschüsse, etwa auf ihrer Tour quer durch die USA: von abweisend blickenden Ku-Klux-Klan-Schwestern, von Teilnehmerinnen der National Senior Olympics in St. Louis oder Seniorinnen bei der Wassergymnastik in Florida.