Pokrowsk - Blick in eine ukrainische Stadt im Kreuzfeuer russischer Truppen
Die ostukrainische Stadt Pokrowsk war einst ein sicherer Hafen für Kriegsflüchtlinge. Heute fliehen selbst die Bewohner:innen aus der Stadt. Zurück bleiben jene, die ihre Heimat nicht aufgeben wollen – und zwischen Angst und Entschlossenheit leben.
Pokrowsk galt mal als sicherer Hafen. Zumindest für jene, die aus den Kriegsgebieten in der ukrainischen Donezk-Region geflohen waren. Vor noch nicht allzu langer Zeit fuhr jeden Tag ein Evakuierungszug aus Pokrowsk heraus in den sicheren Westen. Meist brachten freiwillige Helfer:innen die Menschen aus den heftig umkämpften Gebieten dorthin. Die Zugfahrt war kostenlos, man musste sich nur registrieren.
Heute fahren noch immer Züge durch die Stadt. Aber die transportieren keine Flüchtenden mehr, sondern Nachschub für die Soldaten, die versuchen, Pokrowsk vor einer Einnahme durch die russische Armee zu schützen. Einst der Ort, zu dem man flüchtete, jetzt der Ort, aus dem man flieht.
Die Fahrt von der Donezk-Region Richtung Westen in die benachbarte Oblast Dnipropetrowsk dauert heute deutlich länger. Vor dem Krieg war die Route durch Pokrowsk eine vielbefahrene Strecke. Doch seitdem russische Truppen die Stadt ins Visier genommen haben, ist der direkte Weg keiner, den man wählen sollte. Kurz vor der Stadt weist ein kleines, gelbes Schild mit englischer Aufschrift „Detour“ nach rechts – eine Umleitung, die Busse, Lkw und Privatautos zwingt, kurz vor dem Stadtrand von der Hauptstraße abzufahren, über kleine Dörfer und provisorische Sandwege. Vorbei an den vielen hochgewachsenen Baumreihen, die zu Sowjetzeiten gebaut wurden, um vor den in der Region üblichen Steppenwinden zu schützen. Heute bieten sie Schutz vor feindlichen Überwachungsdrohnen.
Es ist ein Versuch, Zivilist:innen vor dem ständigen Beschuss zu schützen.
Russland macht stetig Geländegewinne
Im Zentrum der Stadt ist an diesem Septembertag alles ruhig – vermeintlich. Hin und wieder fährt man an zerstörten Gebäuden vorbei, dennoch scheint der Großteil der Stadt noch von Raketen unberührt. Doch die Ruhe trügt. Aus der Ferne dröhnt der Lärm intensiver Kämpfe. Russische und ukrainische Soldaten liefern sich heftige Gefechte, die immer näher an Pokrowsk heranrücken. In den letzten Tagen haben russische Streitkräfte erneut kleinere Geländegewinne südöstlich der Stadt erzielt, ihre Offensive setzen sie weiterhin fort. Pokrowsk bleibt im Kreuzfeuer.
Trotz der Bedrohung lebt das Stadtzentrum seinen Alltag weiter – zumindest oberflächlich betrachtet. Auf dem Marktplatz in der Nähe des Bahnhofs verkaufen ältere Frauen Obst und Gemüse. Nina, eine der Damen, war gerade vor einem Monat aus dem Ort Myrnohrad geflohen, der östlich von Pokrowsk liegt. Jetzt sitzt sie vor ihren Tomaten und sagt: „Ob ich hier weggehen werde? Ich glaube nicht.“ Sie ist sich sicher: Bald wird sie im ganzen Land wieder die ukrainische Flagge sehen.
Skepsis gegenüber Journalist:innen
Ein Stand bietet das traditionelle ukrainische Brotgetränk „Kwas“ an. Die Verkäuferin will sich nicht mit der Presse unterhalten, wirkt skeptisch und barsch – eine Haltung, die der Reporterin an diesem Tag des Öfteren entgegenschlägt.
So wie in dem Lebensmittelladen, wo es die Kassiererin ebenfalls ablehnt, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Mehr noch: Sie schiebt die deutsche Reporterin aus ihrem Geschäft heraus. Eine Kundin folgt und spricht unverhohlen aus, was sie frustriert. „Sie wollen wissen, warum wir bleiben? Warum wir hier leben, um zu sterben? Vielleicht können Sie uns ja evakuieren und das alles mit Ihrem eigenen Geld bezahlen!“ Ihre Stimme wird lauter, sie zeigt mit dem Finger auf ihre Gesprächspartner:innen. „Ich habe eine Familie, die aus drei Personen besteht. Für jede einzelne müsste ich fünfhundert Euro aufbringen, um fliehen zu können.“
„Können Sie rechnen? Ja? Dann rechnen Sie!“
Aus Gesprächen mit Freiwilligen, der Polizei und der Administration ging hervor, dass dies eine von vielen falschen Erzählungen ist, die die Menschen miteinander teilen, wenn sie ihr Zuhause nicht verlassen möchten. Zur Wahrheit gehört aber auch: Wenn man nicht für viele Monate in einer Geflüchtetenunterkunft leben und mit vielen Fremden in einem Zimmer hausen möchte, kann eine Flucht schnell teuer werden. Viele Ukrainer:innen besitzen ihre eigenen Häuser oder Wohnungen in ihrer Heimat, zahlen also keine Miete. So schaffen sie es meist gerade so mit ihrer Rente über die Runden zu kommen. Das erklärt auch die wütende Kundin des Lebensmittelgeschäfts.
„Ich habe 3.800 Griwna Rente“, sagt sie. Umgerechnet sind das rund 83 Euro. Die Dame holt tief Luft und fährt fort: „Wenn ich fliehe, werde ich eine Wohnung in einer anderen Stadt bezahlen müssen, 15.000 Griwna. Können Sie rechnen? Ja? Dann rechnen Sie!“
Armut ist im Osten der Ukraine allgegenwärtig. Auf dem Marktplatz vor dem Bahnhof von Pokrowsk durchwühlen Menschen Kleiderspenden. Die Traumata aus den Zeiten des Holodomor, der von Russland in den 1930er Jahren herbeigeführten Hungersnot, bringen viele alte Menschen dazu, selbst angebautes Essen in ihren Kellern und Kammern zu horten. Kartoffel, eingelegtes Gemüse und Fleisch. All das, wofür sie über Dekaden hinweg gearbeitet haben, ihre Vorräte, ihren Besitz einfach so hinter sich zu lassen, fühlt sich fast an, wie ein Stich ins Herz.
„Das ist mein Zuhause“
Weniger aufgeregte Worte hören wir an einer UN-Trinkwasser-Station im Norden Pokrowsks. Alina Suhaniak, 54 Jahre alt, ist ebenfalls eine der Bewohner:innen, die sich entschieden hat, zu bleiben. „Wir sind hier geblieben und versuchen, normal weiterzuleben, auch wenn es keine Arbeit gibt“, erzählt sie und befüllt ihren Kanister mit Wasser. Die Kinder habe man in eine andere Stadt geschickt, damit sie in Sicherheit sind. Doch ihr fehle das Geld, um Pokrowsk zu verlassen. Außerdem wolle sie auch bleiben. „Ich lebe seit dreißig Jahren hier. Das ist mein Zuhause.“ Alles fühle sich nach Heimat an: die Kirche, die Nachbarn, die Bäume vor ihrem Gartenzaun. „Wir sind hier wie eine Familie.“
Alina spricht aus, was viele Menschen in Pokrowsk empfinden. Sie haben ihre Häuser, ihre Wurzeln, ihre Vergangenheit, ihre Lebensgeschichten hier. Die Entscheidung zu bleiben, ist für sie nicht nur eine Frage der finanziellen Möglichkeiten – sondern von Identität.
„Eine Schande, alles zurückzulassen“
Ludmila, 60 Jahre alt, hat, wie einige andere Menschen in der Stadt, ihr kleines Ladengeschäft in der Innenstadt geöffnet. Sie verkauft dort Schreibwaren. „Ich lebe und arbeite noch“, sagt sie. Wenn das nicht mehr ginge, werde sie nach Dnipro zu ihrer Tochter gehen. Trotzdem sagt sie: „Es ist eine Schande, alles zurückzulassen, wofür ich mein Leben lang gearbeitet habe. Aber was kann ich tun? Mein Leben ist mir wichtiger.“
Die Entscheidung, zu bleiben oder zu gehen, wird von Tag zu Tag schwieriger. Die Front rückt näher, die Kämpfe werden intensiver. Der jüngste Bericht des Institute for the Study of War (ISW) beschreibt die Situation in Pokrowsk als „volatil“. Russische Streitkräfte versuchen, ihre Positionen südöstlich der Stadt auszubauen, während ukrainische Einheiten alles daran setzen, die Offensive abzuwehren.
Am 29. September rückte Russland südöstlich von Pokrowsk vor und nahm Gebiete nahe der Eisenbahnlinie südlich von Selydowe sowie Krasnyi Jar und Krutyi Jar ein. Es gibt Berichte über weitere Vorstöße südlich von Selydowe und in Richtung Tsukuryne, die aber nach Angaben des ISW zufolge jedoch nicht bestätigt wurden. Offenbar schickt Moskau weitere Elitetrupps zu diesem Frontabschnitt. Berichten zufolge operieren dort etwa Teile der 24. russischen Spetsnaz-Brigade, eine Spezialaufklärungsbrigade, die auch an der Besetzung der ukrainischen Halbinsel Krim beteiligt war.
Die Zivilbevölkerung befindet sich in einem schmalen Korridor der Unsicherheit, gefangen zwischen Frontverläufen, die sich ständig verschieben.
Polizei warnt vor Drohnen an Evakuierungspunkt
Da der Evakuierungszug nicht mehr fährt, werden die Fliehenden neuerdings mit Bussen aus der Stadt gebracht. Doch wo diese Busse fahren, wissen die Anwohner:innen, die wir in der Innenstadt antreffen, nicht. Zwei Polizisten laufen Patrouille. Nach den Evakuierungsbussen gefragt, müssen selbst sie erst einmal herumtelefonieren. Dinge ändern sich schnell in einer Stadt, die mit Leichtigkeit von feindlichen Drohnen überwacht werden kann. Nach kurzer Recherche steht fest: Die Busse fahren im Süden der Stadt los. Doch die Warnung der Polizisten hallt nach: „Vorsicht! Es gibt dort viele FPV-Drohnen.“
First-Person-View, kurz FPV-Drohnen, sind zu einer der größten Gefahren dieses Krieges geworden. Diese kleinen, kaum hörbaren Drohnen, die aus der „Ich-Perspektive“ gesteuert werden, können Geschwindigkeiten von bis zu 150 Kilometer pro Stunde erreichen und sind fast unmöglich zu stoppen. Sie sind tödlich präzise – ausgestattet mit Sprengladungen, die selbst durch enge Gassen und über Barrikaden hinweg ihr Ziel finden. Und weil sie extrem billig und leicht zu modifizieren sind, hat sich die Anzahl ihrer Nutzung in den vergangenen zweieinhalb Jahren um ein Vielfaches erhöht. „Warum aber richtet man einen Evakuierungspunkt in einer so gefährdeten Zone ein? Achselzucken bei den Polizisten. “Vermutlich, weil dort noch viele Menschen leben", sagt einer der beiden und verabschiedet sich.
Etwas weiter südöstlich wird das Grollen des Krieges lauter. Abschüsse sind zu hören - und dann die Einschläge. Als rollte eine Steinlawine auf die Menschen zu. Brennende und qualmende Wohnhäuser und alte Fabriken. An diesem sonnigen, aber windigen Tag im September ist zumindest offensichtlich keine FPV-Drohne am Himmel.