Das Verhältnis von Zivilgesellschaft und Staat in Tunesien: Von kritischer Kooperation zur Kontrolle

Der Ausschluss von zwei Wahlbeobachter-Organisationen wegen mutmaßlich verdächtiger Auslandsfinanzierung bei den Präsidentschaftswahlen stellt einen Präzedenzfall dar. Er könnte ein Vorgeschmack darauf sein, wie die tunesische Regierung in Zukunft mit Hilfe neuer Gesetze die Zivilgesellschaft kontrollieren will, sagt Amine Ghali.

vom Recherche-Kollektiv Afrika-Reporter:
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Ein Mann wirft einen Wahlzettel in eine Urne

Die Wahlbehörde ISIE hatte vor den Präsidentschaftswahlen im Oktober abgelehnt, mehrere Wahlbeobachter-Vereine zu akkreditieren. Ihre Begründung: Diese hätten verdächtige ausländische Gelder erhalten. Dabei ist es an sich nicht verboten, dass NGOs aus dem Ausland Geld erhalten. Was sind die Hintergründe dieser Entscheidung?

Amine Ghali: Der rechtliche Rahmen erlaubt es in Tunesien seit der Revolution von 2011, dass die Zivilgesellschaft und Vereine ausländische Gelder erhalten. Der Gesetzeskorpus ist in Bezug auf die Transparenz aber recht streng. Vor 2011 hatten wir praktisch keine nationale, institutionelle und zivilgesellschaftliche Expertise in Bezug auf Wahlen. Die Zivilgesellschaft hat in perfekter Zusammenarbeit mit der ISIE dazu beigetragen, dass wir das gelernt haben. Viele Organisationen haben ihr Know-how in den arabischen und afrikanischen Raum und sogar darüber hinaus weitergegeben. Und bei den letzten Wahlen [am 6. Oktober 2024, Anm.d.Red.] erklärte die ISIE zwei der größten Wahlbeobachtungsorganisationen, Mourakiboun und iWatch, die beide national und sogar international sehr bekannt sind, für verdächtig, weil sie ausländische Gelder erhalten hatten. Sie erteilte ihnen daher keine Akkreditierungen dafür, die Wahlen zu beobachten. Dies führte dazu, dass wir die Wahlen mit 1700 Beobachtern abgehalten haben – während wir bei den beiden vorherigen Präsidentschaftswahlen rund 20 000 beziehungsweise 17 000 Beobachter hatten. Also nur ein Zehntel, verteilt auf etwa 5000 Wahlzentren mit jeweils mehreren Wahllokalen. Dies hat die Glaubwürdigkeit der Wahlen beeinträchtigt, denn das Vertrauen wird zum großen Teil von der Zivilgesellschaft aufgebaut, die diese Wahlen beobachtet.

Ausländische Finanzierung wird oft dämonisiert, als ausländische Einflussnahme und Einmischung in innere Angelegenheiten dargestellt. Gibt es denn in Tunesien für Vereine und NGOs überhaupt andere Möglichkeiten, sich zu finanzieren?

Die Vereine haben grob gesagt drei bis vier Möglichkeiten, sich zu finanzieren: Über die öffentliche Finanzierung, die in Tunesien sehr gering ist und auf einige Vereine ausgerichtet ist, die Hilfe für Bedürftige, Sozialhilfe, vielleicht für Menschen mit Behinderungen anbieten. Das ist sehr gut und muss weitergehen. Außerdem gibt es eine gewisse öffentliche Finanzierung, die auf kulturelle Aktivitäten, Bildung, Festivals oder Aufklärungskampagnen zu bestimmten Themen ausgerichtet ist. Neben dieser öffentlichen Finanzierung gibt es noch die Eigenfinanzierung der Organisationen, durch Mitgliedsbeiträge oder Tätigkeiten des Vereins selbst. Das Mäzenatentum in Tunesien ist sehr, sehr gering und der Rechtsrahmen dafür archaisch. Vor allem bei Themen, die nicht über nationale Mechanismen finanziert werden, wie Fragen der Menschenrechte oder der Demokratie, greift die Zivilgesellschaft daher auf internationale Finanzierung zurück. Übrigens wie jede andere Institution im Land auch. Wir befinden uns seit Jahren in der Krise, und diese hat sich in den letzten zwei, drei Jahren nochmal verschärft. Daher greift auch der tunesische Staat auf eine Vielzahl internationaler Finanzierungen zurück – selbst wenn es um Fragen der nationalen Souveränität geht.

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