Alles im Fluß?

Dass wir in Europa jederzeit unbekümmert das Licht anschalten ist keine Selbstverständlichkeit, sondern erfordert präzise Steuerung der Stromflüsse. Große Verantwortung tragen die so genannten „Regionalen Sicherheitskoordinatoren“, von denen es in Europa fünf Stück gibt. Einer davon sitzt in München.

von Daniela Becker
11 Minuten
Zwei Hochspannungsmasten vor blauem Himmel.

Kurz nach 22.00 Uhr, ein ganz normaler Samstagabend im November 2006. Auf vielen deutschen Fernsehern flimmert die damals beliebte TV-Show „Wetten, dass..?“. Während die Zuschauer überlegen, wie lange Moderator Thomas Gottschalk diesmal wohl überzieht, wird plötzlich der Bildschirm schwarz. Stromausfall. Was zuhause auf der Couch vor allem ärgerlich ist, bleibt vielen Menschen, die in Europa mit Energieversorgung zu tun haben, als Schockmoment in Erinnerung.

Was war passiert? Ganz im Norden Deutschlands soll das neue Kreuzfahrtschiff Norwegian Pearl von der Meyer Werft in Papenburg über die Ems ausgeschifft werden. Um die gefahrlose Durchfahrt zu ermöglichen, schaltet der verantwortliche Stromversorger E.on eine durch die Ems führende Stromleitung ab.

Im Grunde ein Routinevorgang. Doch ihre Komplexität macht Stromnetze anfällig für so genannte Kaskaden-Effekte, bei denen sich lokale Störungen über Rückkoppelungseffekte zu massiven Problemen aufschaukeln. Als die erste Warnmeldung zu einer möglichen Überlastung der Stromleitung Landesbergen-Wehrendorf eintrifft, versucht E.on gegenzusteuern. Doch die Maßnahmen haben nicht den erwünschten Erfolg, der Lastfluss erhöht sich weiter. Die Leitung schaltet sich automatisch ab.

„Strom nimmt immer den Weg des geringsten Widerstands und versucht in solchen Fällen über benachbarte Leitungen zu fließen“, sagt Dirk Witthaut vom Institut für Energie- und Klimaforschung des Forschungszentrum Jülich. Während sich die deutschen Fernsehzuschauer auf die Auflösung der Saalwette freuen, verteilt sich der Strom, der nicht mehr durch die Leitung Landesbergen-Wehrendorf fließen kann, unkontrolliert auf andere Leitungen im Umfeld. Weitere Leitungen überlasten und schalten sich ebenfalls ab – von Nord nach Süd, quer durch Europa.

Stromausfall löst europaweit Chaos aus

In der Folge zerfällt das europäische Verbundnetz in drei Teilnetze unterschiedlicher Frequenzen. In Teilen von Deutschland, Frankreich, Belgien, Italien, Österreich und Spanien fällt der Strom aus. Etwa 15 Millionen Menschen sind europaweit von dem Stromausfall betroffen. Aufzüge bleiben stecken, Ampeln fallen aus, Alarmanlagen und Brandmelder werden fälschlicherweise ausgelöst, der Zugverkehr kommt streckenweise zum Erliegen.

„In Coburg nutzten vier junge Männer die Gelegenheit, schlugen die Schaufensterscheibe eines Handy-Geschäfts ein und flüchteten mit mehreren Handys. In Köln stoppte die Seilbahn mitten über dem Rhein. Eine halbe Stunde lang mussten die rund 70 Fahrgäste im Finstern sitzen, bis sie befreit wurde. Die Kölner Polizei hatte während des Stromausfalls keine ruhige Minute.“ berichtet Spiegel Online.

Gegen Mitternacht ist der Spuk vorbei. Den Übertragungsnetzbetreibern ist es gelungen, die Teilnetze wieder zusammenzuschalten und die Stromversorgung wieder herzustellen. Die Fernseher gehen wieder an, „Wetten, dass..?“ ist vorbei.

Ärgerlich, aber es hätte viel schlimmer kommen können. Europa war einem Blackout, also einem Ereignis, bei dem die Stromversorgung großflächig und für lange Zeit zusammenbricht, nur sehr knapp entgangen: Schäden an Transformatoren, Leitungen oder gar Kraftwerken, was die Stromversorgung tagelang behindern hätte können, gab es nicht.

Die offiziellen Untersuchungsberichte kommen zu dem Schluss, dass die geplante Abschaltung von E.on schlecht kommuniziert wurde, so dass die anderen beteiligten Übertragungsnetzbetreiber keine Chance mehr hatten, ihre Stromerzeugungs- und Netzkapazitäten an die veränderten Bedingungen anzupassen. Auch während des Stromausfalls wussten Netzbetreiber der an Deutschland angrenzenden Länder teilweise nicht, welche Maßnahmen ihre Nachbarn bereits ergriffen hatten – und konnten deswegen nicht angemessen reagieren.

Bessere Koordinierung dringend benötigt

„Ab dem Zeitpunkt war endgültig klar, dass in der Zukunft verschiedene Koordinierungsaufgaben nötig sind, weil man die Komplexität von Stromhandel, erneuerbaren Energien und technischen Effekten im Netz nicht mehr voneinander losgelöst betrachten kann. Das war die Initialzündung zur regionalen Koordinierung der Übertragungsnetzbetreiber“, sagt Uwe Zimmermann, einer der beiden Geschäftsführer von TSCNET Services.

Blick in den Operator Room von TSCNET. Es sind drei Mitarbeiter zu sehen, die an Computern sitzen. Auf den Bildschirmen sind Schaltpläne zu sehen.
Blick in den Operator Room von TSCNET, einem Regionalen Sicherheitskoordinator in München. Insgesamt gibt es europaweit bislang fünf dieser Dienste.
Stromleitung in Winterlandschaft.
Der extreme Kälteeinbruch im Januar 2017 sorgte in weiten Teilen Europas für tiefe Fröste und schwere Schneestürme. Die europäischen Übertragungsnetzbetreiber mussten intensiv zusammenarbeiten, um die Stromversorgung aufrecht zu erhalten.
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