Umweltpolitik: Ohne die Indigenen geht es nicht
Ihre Kenntnisse und ihre Gebiete sind fundamental für die Gesundheit unserer Erde
Diese UN-Verhandlungen liefen anders als sonst. Am Beginn brannte auf einem steinernen Altar, der mit roten und gelben Blütenblättern bedeckt war, eine Kerze. Dem Maya-Kalender zufolge handelte es sich um einen Tag der Dankbarkeit. Félix Sarazúa, ein geistiger Maya-Führer aus Guatemala, rief die Vorfahren an und sprach vom Heiligen in der Mitte des Waldes.
Bei dem digital abgehaltenen Treffen Anfang August ging es um eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Schutz der Vielfalt des Lebens auf der Erde, von Tier- und Pflanzenarten und von Ökosystemen: Die Territorien der weltweit 476 Millionen Indigenen bedecken fast ein Drittel des Planeten. Auf ihren Gebieten bewahren Indigene die weltweit größte Artenvielfalt. Von ihrer Mitsprache und Wahrung ihrer Rechte wird der Schutz der Artenvielfalt auf der Erde abhängen. Mindestens 36 Prozent davon sind als Schlüsselgebiete der biologischen Vielfalt (KBA) kategorisiert. Es sind die stabilsten und gesündesten Ökosystemen der Erde, die für den Fortbestand der Arten und des menschlichen Lebens ausschlaggebend sind. Gleichzeitig sind diese Territorien hoch gefährdet: Durch illegale Landnahme, Bergbau, Rodungen und weitere Faktoren.
Die Vereinten Nationen wollen im Frühjahr 2022 bei einem Umweltgipfel von mehr als 200 Ländern neue Ziele für den globalen Schutz der Biodiversität bis 2030 beschließen. Der Endspurt der Verhandlungen wird im Oktober mit einem Mini-Gipfel im chinesischen Kunming eingeläutet.
Um diese neuen Zielvorgaben – die sogenannten “Action Targets” for 2030 – für den Biodiversitätsgipfel (COP 15) zu diskutieren und zu kommentieren, versammelten sich etwa 275 Vertreter der indigenen und traditionellen Gemeinschaften digital.
Vorgelegt hatte diese Ziele Basile van Havre, Co-Chair der Open-ended working Group, die den Entwurf für das Rahmenabkommen der biologische Vielfalt (CBD) erarbeitet, nachdem er etwa 2000 Anmerkungen und Kritik aus den beiden vorausgegangenen Dialogen eingearbeitet hatte. Die Teilnehmerїnnen vertraten 27 Organisationen von indigenen und lokalen Gemeinschaften aus Asien, Afrika und Amerika, 13 Nicht-Regierungs-Organisationen und 21 Landesregierungen, 10 UN-Organisationen und Beobachterїnnen.
„In Harmonie mit der Natur zu leben“, das ist keine esoterische Formel, sondern die erklärte Vision der Vereinten Nationen für das Jahr 2050. Die neuen Zielvorgaben sollen dabei helfen, bis 2030 die zehn Meilensteine zu erreichen, die auch den Erhalt und Schutz von mindestens 30 Prozent des Landes und der Ozeane der Erde beinhalten.
Ramiro Batzin, vom Internationalen Indigenen Forum für Biodiversität (IIFB) und Vorsitzender der Veranstaltung, zeigte sich sehr zufrieden mit den neuen Zielvorgaben der konsolidierten Fassung von van Havre und sah einen guten Schritt in die vom IIFB empfohlene Richtung. Dennoch blieb während der beiden Tage viel zu kommentieren.
91 Prozent der indigenen Gebiete sind in einem guten Zustand
Eine im Juni 2021 veröffentlichte Gemeinschafts-Studie des WWFs, verfasst mit rund 30 Naturschutzexpertїnnen, Indigenen- und Menschenrechtsorganisationen sowie dem UN-Umweltprogramm, zum aktuellen ökologischen Zustand ihrer Territorien gibt den Indigenen Recht: 91 Prozent der von ihnen bewirtschafteten Gebiete befinden in einem guten ökologischen Zustand. Und 36 Prozent werden als „Wildnisgebiete“ kategorisiert. Gleichzeitig wird mehr als ein Viertel dieser Gebiete einem hohen Druck ausgesetzt sein.
Schon jetzt drückt aber überall das Agrobusiness die Landwirtschaftsgrenzen in die letzten großen Naturgebiete und der illegale Bergbau frisst sich in die indigenen Länder vor. In Brasilien schafft eine indigenen- und naturfeindliche Politik unter der aktuellen Präsidentschaft zusätzlich Anreize zur Abholzung und Aneignung der letzten Naturressourcen. In den brasilianischen Bundesstaaten Roraima und Pará etwa bedroht der illegale Bergbau durch Abholzung und Quecksilbervergiftung der Flüsse die Lebensgrundlage der Yanomami, Munduruku und vieler anderer indigener Völker.
Alle Naturschutzbemühungen hängen von der Beteiligung der Indigenen ab
Die WWF-Studie bestätigt: Indigene und lokale Communities tragen den größten Teil bei zum globalen Artenschutz und zur Pflege der Ökosysteme. Und sie macht deutlich wie noch nie: Ohne den Einschluss der indigenen und lokalen Gemeinschaftenwerden die globalen Biodiversitätsziele unerreichbar sein.
Das ist vielleicht die wichtigste Erkenntnis und der Grund dafür, dass Basile van Havre in den neuen Zielvorgaben den Forderungen der Indigenen in vielen Punkten entgegenkam, denn alle globalen Naturschutzbemühungen, einschließlich der Aufrufe zum Schutz und zur Erhaltung von mindestens 30 Prozent der Land-, Süßwasser- und Ozeane der Welt bis 2030, hängen von einer starken Beteiligung und Führung der indigenen und lokalen Gemeinschaften ab.
Die Zielvorgaben sind formuliert. Nun liegt der Ball bei den indigenen Vertreterїnnen. Sie hatten die Ziele sorgsam analysiert, auseinandergelegt und ergänzt.
Während der zwei Tage ausgedehnter Video-Dialoge erläuterten Sprecherїnnen verschiedener indigener Organisationen die Ergebnisse. Anschließend konnten sie von allen Teilnehmerїnnen kommentiert werden. Leider kamen nicht alle Gesprächspartnerïnnen zu Wort, weil sie sich in Gebieten mit schwachem Internetzugang befanden. Dies ist ein echtes Handicap für die derzeitigen Verhandlungen, die seit einem Jahr digital geführt werden und die vollständige Teilnahme von indigenen und lokalen Gemeinschaften zum Teil verhindern.
Es braucht die Menschen- und Landrechte, um die Artenvielfalt zu schützen
Mit ihren Korrekturen wollen die Vertreterїnnen der indigenen und lokalen Communities vor allem sicherstellen, dass ihre Rechte respektiert werden.
Den Betroffenen zufolge müssen zum Schutz der Natur in erster Linie die Menschenrechte gestärkt werden, wie das Recht auf die Erhaltung und Entwicklung ihrer Institutionen, Traditionen, Kulturen und Identitäten. Und sie brauchen sichere Besitzverhältnisse, damit sie ihre Territorien effektiver vor der voranschreitenden Zerstörung schützen können. Denn von den indigenen Land- und Wasser-Territorien, die etwa ein Viertel der Fläche des Planeten ausmachen, sind bis heute nur zehn Prozent legal anerkannt.
Wenn es um die Restauration ihrer Gebiete geht, wollen die Indigenen ihre traditionellen Kenntnisse, ihre Praktiken und Technologien anwenden. Raumplanerische Erhaltungsmaßnahmen und westlich definierte, und ihrer Struktur nach letztlich postkoloniale Schutzkategorien dürfen nicht zu ihrer Vertreibung oder Kriminalisierung führen, wie es zum Beispiel bei den Baka im Kongo in Afrika geschehen ist.
Es gibt keine „Wildnisgebiete“
Schon um die Grundbegriffe gibt es Kontroversen. So kritisierte die Arbeitsgruppe des Internationalen Indigenen Forum für Biodiversität (IIFB) den Begriff „Wildnisgebiet“, der sich auf biologisch intakte Gebiete mit geringem menschlichem Eingriff bezieht. Eine solche „Wildnis“ gäbe es nicht, da in all diesen Gebieten Menschen leben und in Kontakt und Wechselwirkung mit der Natur stehen. Dieses wechselseitige Verhältnis von Menschen und Natur sei fundamental für eine ausbalancierte Verwaltung der biologischen Vielfalt.
Indigene Menschen, indigenes Land, Territorien und Gewässer können nicht vollständig in Naturschutzkategorien aufgehen. „Wir wollen nicht unsere gesamten Territorien unter den Schutzbestimmungen sehen“, sagte Benjamin Green-Stacey als Vertreter des IIFB.
Ein angemessener Kostenausgleich ist notwendig
Auf indigenen Gebieten sollte auch die Konservierung und der Nutzungs- und Vorteilsausgleich in Betracht gezogen werden. Das bedeutet, dass diejenigen indigenen und lokalen Gruppen, die traditionell ihr Land und Wasser schützen, von den Staaten eine angemessene Finanzierung erhalten müssen. Denn die Rolle der Indigenen Völker ist nicht nur wichtig wegen ihrer vielfältigen und nachhaltigen Lebensmittelsysteme, sondern auch wegen ihrer effizienten Strategien im Kampf gegen Abholzung und Klimawandel, so hatte es die Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO) hervorgehoben.
Indigene und lokale Gemeinschaften verwalten mindestens 24 Prozent des gesamten Kohlenstoffs, der in den Tropenwäldern der Welt gespeichert ist. Die Kosten, die anfallen würden, um indigenes Land zu schützen, seien um ein Vielfaches geringer als andere Strategien zur Senkung des CO2-Ausstoßes. Tatsächlich vermeiden indigene Gebiete im bolivianischen, brasilianischen und kolumbianischen Amazonasgebiet zwischen 42,8 Millionen und 59,7 Millionen Tonnen CO2-Emissionen pro Jahr, berichtet die Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO). Das ist so viel, also zöge man neun bis 12,6 Millionen Fahrzeuge ein Jahr lang aus dem Verkehr.
Integrative Naturschutzverfahren
Die Anerkennung und Respektierung der Rechte, Governance-Ansätze und Naturschutzstrategien indigener Völker und lokaler Gemeinschaftenwird auch von den Autorїnnen der WWF-Studie empfohlen. Ebenso wichtig seien eine verbesserte Dokumentation ihrer Gebiete und wirksame Methoden zu deren Überwachung und Verteidigung.
Die Entscheidungsträgerїnnen der UN-Konvention für biologische Vielfalt (CBD) sollten, so die WWF-Studie, sicherstellen, dass die Staaten die Rechte der indigenen und lokalen Gemeinschaften formalisieren und ihre Beiträge zum Naturschutz angemessen anerkennen und finanziell kompensieren.
Darüber hinaus empfehlen die Autorїnnen, verstärkt integrative Naturschutzverfahren zu nutzen, also die bestehenden traditionellen Verfahren zu unterstützen, die von den indigenen Gemeinschaften geleitet werden. Auch müsse die Forschungsagenda erweitert werden, um wissenschaftliche und traditionelle Ansätze zusammenzubringen. Dabei sollten explizit auch soziale Fragen, wie das Wohlbefinden der Menschen und deren spirituelle, kulturelle und existenzielle Werte untersucht werden. Auch dies unter der Leitung der Indigenen.
Klare Fahrpläne zur Umsetzung der Ziele für die Konferenz in Kunming
Wenn die Umsetzung der neuen CBD-Ziele nicht so krachend scheitern sollen, wie die Aichi-Ziele müssten sie als verpflichtende Mindestanforderungen formuliert werden, so dass sie in nationales Recht überführt werden können. Ähnlich, wie das Pariser Klimaschutzabkommen oder das Washingtoner Artenschutzübereinkommen (CITES) sollten diese gesetzlich verbindlich sei.
Um das auch für die Länder tragbar zu machen, müssten die finanzielle Mittel zur Biodiversitäts-Förderung deutlich erhöht werden. Dies könne man mit Zahlungen für Ökosystemleistungen oder biodiversitätsrelevanten Steuern erreichen. Außerdem sollte die CBD-Konvention einen Mechanismus einführen, der die Einhaltung der Ziele der einzelnen Staaten prüfen und sanktionieren kann.
Das Fazit nach zwei Tagen digitaler Verhandlungen: In Harmonie mit der Natur zu leben ist möglich. Doch dazu ist es nötig, die Rechte Indigener und den Schutz ihrer Territorien beim globalen Biodiversitätsschutz zu stärken und gesetzlich zu garantieren. Sonst wird dieses Ziel nicht zu erreichen sein.
Zum Abschluss der digitalen Konferenz brennen fünf Kerzen auf dem steinernen Altar. Der 6. August ist der Tag des Kojoten. In der Maya-Kosmologie repräsentiert er etwas sehr Besonderes: Er ist sozusagen der „Sekretär“, er nimmt alles auf, alle unsere Aktionen. In diesem Sinne, sagt Félix Sarazúa, sind alle Dinge, die hier besprochen wurden, als Kompromisse vor dem Leben und vor Mutter Erde zu verstehen.
Im Projekt„Countdown Natur“berichten wir mit Blick auf den UN-Naturschutzgipfel über die Gefahren für die biologische Vielfalt und Lösungen zu ihrem Schutz. Die Recherchen zu diesem Beitrag wurden von der Hering Stiftung Natur und Mensch gefördert. Sie können weitere Recherchenmit einem Abonnementunterstützen.