„Unsere letzte Chance“: Führende UN-Vertreter warnen vor Weltnaturgipfel vor einem Scheitern

In RiffReporter-Interviews: Achim Steiner, Chef der UN-Entwicklungsorganisation, hält für Naturschutz wie beim Klima 100 Milliarden Dollar zusätzliche Mittel pro Jahr aus reichen Ländern für nötig. Leiterin der Biodiversitäts-Konvention nennt Ausmaß der Naturzerstörung „erschütternd“

vom Recherche-Kollektiv Countdown Natur:
6 Minuten
Bild aus Vogelperspektive halbiert in Wald und Rodungsfläche, ein Bagger planiert die gerodete Fläche.

Führende Vertreter der Vereinten Nationen haben an die Staatengemeinschaft appelliert, bei der bevorstehenden UN-Naturkonferenz ein weitreichendes Abkommen zum Schutz der Artenvielfalt auf der Erde zu beschließen.

Ohne schnelle Fortschritte beim Schutz von Arten und Ökosystemen drohten auch der Menschheit dramatische Folgen für die eigene Existenz etwa durch Hunger und Mangel an sauberen Wasser, warnten die Spitzenkräfte der Vereinten Nationen für Entwicklung und Biodiversität, Achim Steiner und Elizabeth Mrema, zum Auftakt des UN-Weltnaturgipfels COP15 in Interviews mit RiffReporter.

Neben mehr Naturschutz sei auch eine grundlegende Änderung der Wirtschaftsweise nötig, sagte Steiner, der Chef des UN-Entwicklungsprogramms UNDP ist. Steiner unterstützte die Forderung von Entwicklungsländern, nach der die reichen Länder wie beim Klima auch beim Naturschutz ärmeren Ländern mindestens 100 Milliarden Dollar pro Jahr zur Verfügung stellen sollen.

CBD-Exekutivsekretärin Elizabeth Mrema
CBD-Exekutivsekretärin Elizabeth Mrema

Wir verlieren das Leben auf unserem Planeten in einem erschütternden Ausmaß und einem atemberaubenden Tempo

Elizabeth Mrema, Exekutivsekretärin der UN-Biodiversitätskonvention

Steiner und Mrema forderten, die 200 Staaten, die bis zum 19. Dezember in Montreal versammelt sind, müssten ein Abkommen zum Schutz und zur nachhaltigen Nutzung der Natur beschließen, das ausreichend ehrgeizig sei, um den dramatischen Verlust von Tier- und Pflanzenarten sowie die ungebremste Zerstörung von Ökosystemen zu stoppen.

Die am Mittwoch beginnenden Verhandlungen seien möglicherweise die letzte Chance für die Menschheit, langfristig auch die Grundlagen für ihre eigene Existenz zu erhalten, sagte die Chefin der UN-Biodiversitätskonvention, Elizabeth Mrema. „Wir verlieren das Leben auf unserem Planeten in einem erschütternden Ausmaß und einem atemberaubenden Tempo“, warnte die UN-Diplomatin. Die Zerstörung von Ökosystemen rotte nicht nur immer mehr Tiere und Pflanzen aus, sondern produziere auch Hunger und verschärfe den Klimawandel, warnte Mrema. „Meine Botschaft an die Staaten lautet deshalb: Handeln wir, um eine gute Zukunft für die Menschheit auf dem Planeten Erde zu sichern.“

Die beiden Co-Vorsitzenden der Verhandlungen über den Text eines Abkommens sitzen hinter einem Pult. Van Havre hebt einen Konferenzhammer.
Intensive Verhandlungen. Elizabeth Mrema mit ihrem Vize David Cooper und den beiden Co-Vorsitzenden der Verhandlungen über den Text eines Abkommens, Basile van Havre und Francis Ogwal.

Die UN-Biodiversitätskonvention war als eine von drei UN-Umweltkonventionen beim „Erdgipfel“ 1992 in Rio de Janeiro auf den Weg gebracht worden. Alle drei Schwesterabkommen sollen den Kampf gegen existenzielle Bedrohungen durch Umweltveränderungen voranbringen, die durch menschlichen Einfluss ausgelöst wurden. Neben der Biodiversitätskonvention sind dies die vor allem für die Ernährungssicherheit wichtige Konvention gegen Wüstenbildung und die Klimarahmenkonvention. Keine der internationalen Vereinbarungen war bislang erfolgreich.

Mrema forderte die Industriestaaten auf, den Erhalt von Arten und Naturgebieten in den Entwicklungsländern mit mehr Geld zu unterstützen. Für Deutschland habe Bundeskanzler Olaf Scholz bereits ein wichtiges Zeichen an die anderen Staaten gesendet. Scholz hatte vor kurzem angekündigt, dass Deutschland seine Finanzhilfe für den Naturschutz in den besonders artenreichen Entwicklungsländern bis 2025 auf 1, 5 Milliarden Euro jährlich verdoppeln werde.

Ähnlich hatte sich die EU-Kommission geäußert. „Wir sind der deutschen Regierung und der EU sehr dankbar für diese Geste, aber wir dringen darauf, dass auch andere Regierungen sich auf zusätzliche Unterstützung verpflichten“, sagte Mrema. Dies werde entscheidend sein, damit ein weltweit verbindliches Abkommen zur Bewahrung von Regenwäldern und anderen Ökosystemen vor Ort in den armen Ländern auch umgesetzt werden könne.

Die 100 Milliarden Dollar sind eine unterschätzte Größenordnung dessen, was notwendig ist, um die Natur und die Artenvielfalt zu erhalten

UNDP-Chef Achim Steiner zur Forderung von Entwicklungsländern nach Direktzahlungen

Steiner bei einer Konferenz am Bildschirm zu sehen, im Vordergrund Tische von Delegierten
Hält mehr Naturschutzmittel für den globalen Süden für nötig. UNDP-Chef Achim Steiner

Steiner, sagte ebenfalls im RiffReporter-Interview, ein starkes Naturschutz-Abkommen sei auch entscheidend für Fortschritte im Kampf gegen Hunger und Armut in der Welt. „Ohne eine intakte Natur geht es nicht voran mit der menschlichen Entwicklung – gleich ob in armen oder in reichen Ländern.“ Bereits heute müssten weit mehr als eine Milliarde Menschen auf Böden wirtschaften, die durch Übernutzung ausgelaugt seien. „Die Folge ist Hunger.“

Der höchstrangige Deutsche in den Vereinten Nationen signalisierte Unterstützung für die Forderung von Entwicklungsländern nach deutlich mehr finanzieller Unterstützung für die Bewahrung der Natur. Eine Gruppe von Staaten um Brasilien, Südafrika und Indonesien fordert analog zum Kampf gegen den Klimawandel auch für den Erhalt der Ökosysteme jährlich 100 Milliarden Dollar aus den Industriestaaten für die armen Länder. Dem stehen nach Angaben von Umweltorganisationen derzeit lediglich Zusagen über weniger als zehn Milliarden gegenüber.

„Die 100 Milliarden Dollar sind eine unterschätzte Größenordnung dessen, was notwendig ist, um die Natur und die Artenvielfalt zu erhalten“, sagte Steiner. „Diese Größenordnung wäre auch leistbar, wenn wir mehr Vertrauen ineinander schaffen, dass diese Investitionen auch wirklich effektiv umgesetzt werden“, kritisierte er. Brasilien habe in den vergangenen vier Jahren unter dem abgewählten Präsidenten Jair Bolsonaro viele Vereinbarungen zum Erhalt des Amazonas „auf den Kopf gestellt“ und damit Vertrauen zerstört, kritisierte der UN-Diplomat.

Der UNDP-Chef forderte auch ein Umdenken in der Wirtschaftspolitik. „Am Ende läuft es darauf hinaus, dass wir die Signale in unseren Märkten und in unseren Volkswirtschaften so verändern müssen, dass Natur nicht nur als freies Gut wahrgenommen wird.“

Fast 200 Staaten ringen um ein neues globales Naturabkommen

Beim Weltnaturgipfel wollen die fast 200 Vertragsstaaten der UN-Biodiversitätskonvention ein globales Rahmenabkommen aushandeln und beschließen, das den Schutz und die künftige Nutzung der Natur auf der Erde verbindlich regeln soll. Ziel ist es, bis zum Jahr 2030 das Artensterben und die ungebremste Zerstörung von Lebensräumen zu beenden und die Natur auf einen Pfad der Erholung zu bringen.

Nach Analysen des Weltbiodiversitätsrates sterben mehr als 100 Tier- und Pflanzenarten pro Tag aus, so viele wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte. Insgesamt ist jede achte Art vom Ausssterben bedroht. Der Verlust der ökologischen Lebensgrundlagen wird inzwischen von Wissenschaftlern und in der Politik als ebenso bedrohlich für die Menschheit angesehen wie die Erderwärmung.

Fast alle Ziele noch umstritten – Erfolg der Weltnaturkonferenz ungewiss

Im Entwurf für das Abkommen finden sich 22 Ziele, mit denen der Öko-Krise begegnet werden soll. Dazu gehört die drastische Reduzierung von Pestiziden und Düngern in der Landwirtschaft ebenso wie ein Ende der Plastikverschmutzung, der Erhalt der verbliebenen Wildnisgebiete in allen Erdteilen und das Ziel, künftig jeweils 30 Prozent der Land- und der Meeresfläche des Planeten unter Schutz zu stellen. Eine Einigung auf das Abkommen in Montréal wird auch als entscheidend angesehen, um das Ziel des Pariser Klimaabkommens erreichen zu können, die Erderwärmung auf unter zwei Grad zu begrenzen.

Die Beratungen des UN-Gipfels sollen bis zum 19. Dezember abgeschlossen sein. Ab Mitte Dezember werden mehr als 100 Umweltministerinnen und Umweltminister zum entscheidenden Schlussspurt der Verhandlungen erwartet. Für Deutschland nehmen unter anderem Bundesumweltministerin Steffi Lemke und der, Staatssekretär im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Jochen Flasbarth, an den Beratungen teil. Ob sich die Staatengemeinschaft auf ein Abkommen einigen kann, ist offen. Derzeit sind im Textentwurf für das Abkommen alle zentralen Punkte als strittig markiert. Ein Abkommen muss einstimmig beschlossen werden.

Im Projekt„Countdown Natur“berichten wir mit Blick auf den UN-Naturschutzgipfel über die Gefahren für die biologische Vielfalt und Lösungen zu ihrem Schutz. Die Recherchen zu diesem Beitrag wurden von der Hering Stiftung Natur und Mensch gefördert. Sie können weitere Recherchenmit einem Abonnementunterstützen.

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