Die letzten Birkhühner Norddeutschlands: Noch balzen sie in der Heide
Wie Artenschützer versuchen, einen ebenso charismatischen wie scheuen Vogel vor dem Verschwinden zu bewahren. Und dabei manchmal auch gegen die Natur arbeiten müssen
Einmal, ein einziges Mal, habe ich eines von ihnen gesehen. Das war bei einem Sonntagsspaziergang durch die Lüneburger Heide. Als ich über die weite, mit Gras und Heidekraut bewachsene Landschaft rechts des Weges schaute, tauchte kaum 30 Meter vor mir ein schwarzblauer Vogelkopf auf. Die markante Farbe, die leuchtend roten „Augenbrauen“, das typische Hühnerprofil – ich erkannte den Birkhahn sofort, obwohl ich seinesgleichen bislang nur auf Fotos oder Bildtafeln gesehen hatte. Etwa 10 Sekunden lang konnte ich den Vogel betrachten, dann tauchte er wieder in der Krautschicht ab.
Gut 20 Jahre sind seit dieser Beobachtung vergangen. Ich bin seitdem oft durch die Heide gewandert, auch frühmorgens, wenn die Vögel besonders aktiv sind. Schwarz- und Braunkehlchen, Feld- und Heidelerchen, Steinschmätzer, Neuntöter und Wendehälse – fast alles, was in diesem riesigen Naturschutzgebiet südlich von Hamburg an Vogelarten vorkommt, habe ich entdeckt. Nur leider nie wieder ein Birkhuhn.
Dennoch – oder gerade deswegen – habe ich diese Vögel nie ganz aus den Augen verloren. Unter den Naturfreundïnnen meiner Bekanntschaft haben die Birkhühner der Lüneburger Heide fast schon Kultstatus. Zum einen natürlich, weil es hinreißend schöne, charismatische Tiere sind: Birkhähne, mit geschwellter Brust und aufgefächerten Schwanzfedern vor besonnter Heidekulisse balzend, sind geradezu ein Postkartenmotiv, Inbegriff norddeutscher Naturromantik.
Der zweite Grund, der Birkhühner besonders macht, ist ein eher trauriger. Ihre Entwicklung zeigt beispielhaft, wie bedenkenlos und in welch erschreckendem Tempo Naturschätze wirtschaftlichen Interessen geopfert werden, auch im angeblich so umweltbewussten Deutschland. Und wie viel Mühe es kostet, Arten oder Populationen zu retten, wenn sie erstmal an den Rand des Abgrunds geraten sind.
Der Birkhuhn-Lebensraum Moor wurde zu Ackerland
Noch vor 60 Jahren waren Birkhühner in großen Teilen des norddeutschen Tieflands verbreitet; mehr als 7.700 bevölkerten vor allem die naturnahen Randzonen der Hochmoore zwischen Emsland, Elbe und Allertal. In den folgenden Jahrzehnten aber wurden die norddeutschen Moore fast restlos entwässert, abgetorft oder für die Landwirtschaft nutzbar gemacht; die umliegenden Wiesen und Weiden vielfach zu intensiv bewirtschaftetem Ackerland umbrochen. Millionen von Vögeln, Amphibien, Insekten verloren so ihre Lebensräume. Manche Arten, wie etwa Kiebitze und Brachvögel, konnten in begrenzter Zahl auf Salzwiesen an der Küste oder geschützte Feuchtgrünlandgebiete im Binnenland ausweichen. Für die Birkhühner blieb jedoch nur eine einzige Rückzugsregion: die Lüneburger Heide. Hier gibt es noch jene Art von Landschaften, die sie zum Leben brauchen: offen, weitläufig, reich an Kräutern und Insekten und von Menschen fast ausschließlich zur Erholung genutzt.
Oder für andere, nicht landwirtschaftliche Zwecke: Außer im Naturschutzgebiet Lüneburger Heide, einem der ältesten und mit 234 Quadratkilometer größten Deutschlands, halten sich Birkhühner noch auf den nahegelegenen Truppenübungsplätzen von Munster und Bergen auf sowie einem Erprobungsgelände des Rüstungskonzerns Rheinmetall bei Uelzen.
Kleine Vogelgruppen, die unter sich bleiben
130 Birkhühner haben Ornithologen-Teams 2021 in allen noch besetzten Revieren der Region gezählt – vermutlich sind es etwas mehr, denn die unauffällig gefärbten Hennen werden leicht übersehen. Ob diese kleine, zudem in mehrere Gruppen aufgeteilte Population auf Dauer überleben kann, ist ungewiss. Die gute Nachricht jedoch: Es wird alles Menschenmögliche getan, um die letzten deutschen Birkhühner nördlich der Alpen vor dem endgültigen Verschwinden zu bewahren.
Vor Kurzem habe ich drei Menschen getroffen, die genau das versuchen. Farina Stucke, Sharamon Borgmann und Stefan Wormanns arbeiten für die VNP-Stiftung Naturschutzpark Lüneburger Heide. Das „V“ in VNP steht für den 1910 gegründeten Verein Naturschutzpark, der sich gemeinsam mit seiner 2002 eingerichteten Stiftung für den Erhalt der Heide einsetzt. Und damit auch für den Schutz der für sie typischen Arten. Neben Vögeln sind das vor allem Reptilien, Falter und Wildbienen – alles Tiere, die vor allem auf sonnendurchwärmten, mageren, nicht gedüngten oder mit Pestiziden behandelten Wiesen zuhause sind.
Stefan Wormanns, diplomierter Landschaftsarchitekt für Umweltplanung, koordiniert mit seinem Kollegen Dirk Mertens die Naturschutzmaßnahmen in der Heide. Gemeinsam mit seinen Kolleginnen (Biologin die eine, Landschaftsschützerin die andere) kümmert er sich auch um den Schutz der Birkhühner – im Rahmen eines Projekts, das 2005 initiiert wurde und unter anderem von den Landesministerien für Umwelt und Landwirtschaft sowie vom Landesjagdverband Niedersachsen finanziert wird.
Mein erster Eindruck aus dem Gespräch mit den dreien (es gehört noch eine weitere Biologin zum Team): Wenn Natur- und Artenschutz überall so gut ausgestattet wären und so professionell betrieben würden wie in der Lüneburger Heide, dann müssten wir uns um die Biodiversität hierzulande weniger Sorgen machen. Wormanns und sein Team verfügen vor allem über eine Ressource, die im Naturschutz chronisch knapp ist: Land. Das Projektgebiet umfasst fast die gesamten offenen Heideflächen des Naturschutzgebiets; insgesamt 5587 Hektar. Diese lassen die Expertïnnen des VNP so gestalten, dass sich die Hühner und alle anderen Arten der offenen Landschaft maximal wohl darauf fühlen.
Die Hühner lieben es offen – dichten Wald meiden sie
Mehrere Herden von Heidschnucken, der für die Region typischen robusten Schafrasse, halten die Grasdecke kurz und sorgen dafür, dass die lila blühenden Heide- und Besenheide-Sträucher nicht von schneller wachsenden Pflanzen überwuchert werden. Bäume und Büsche, die von den angrenzenden Wäldern in die Heide „einwandern“, werden regelmäßig entfernt. Weil Birkhühner dichtes Gehölz grundsätzlich meiden, lassen die Birkhuhnschützerïnnen durch einige Waldstücke Korridore anlegen, damit die Vögel zwischen benachbarten Revieren wandern können. Regelmäßig setzt das Team auch Maschinen ein, die auf einzelnen Flächen die komplette Vegetation entfernen. „Abplaggen“ heißt dieses in der Heide seit Jahrhunderten übliche Verfahren; die Bauern der Region taten das früher mit Hacke und Spaten, um mit dem Heidekraut und den darin enthaltenen Schafsködeln ihre Äcker zu düngen. (Nicht zufällig haben sie damit auch das Wort „Plackerei“ geprägt).
Die Birkhähne lieben die künstlich geschaffenen Kahlflächen, ebenso die Schneisen, die Panzer und anderes schweres Gerät auf den Truppenübungsplätzen hinterlassen. Sie sind nämlich, in den Worten ihrer Beschützerïnnen, klassische „Katastrophenvögel“, die sich bevorzugt dort niederlassen, wo Naturereignisse wie Stürme oder Waldbrände freie Flächen geschaffen haben. Auf solchen führen die Birkhähne ihre Balzrituale auf; die unauffällig gefärbten Hennen sehen dabei vom Rand aus zu, meist gut im Gras oder niedrigem Gebüsch versteckt.
Mehr Füchse und Marderhunde, weniger Hühner
Die Küken schlüpfen ab Ende Mai. Damit sie möglichst sicher aufwachsen, gehört zum Team des Birkhuhnschutzprojekts auch ein Berufsjäger. Der stellt den Hauptfeinden der Hühner nach: Füchsen und den neu eingewanderten Marderhunden und Waschbären. Alle drei Arten haben in den vergangenen Jahren stark zugenommen, in der Heide ebenso wie in ganz Niedersachsen. Die Tiere werden in Lebendfallen gefangen und darin zügig getötet.
Es gibt nur wenige Vogelarten in Deutschland, denen eine so aufwändige und vielfältige Betreuung zuteil wird. Man sollte eigentlich erwarten, dass die Birkhühner dies danken, indem sie sich freudig vermehren. Doch das tun sie leider nicht. Zwar stieg ihre Zahl, nach einem Tiefststand von kaum mehr als einem Dutzend Tieren Mitte der 1990er Jahre, wieder kräftig an – bis 2007 auf knapp 80. In den folgenden Jahren sank sie jedoch wieder, langsam aber mehr oder weniger kontinuierlich. Und es ist nicht klar, ob sich der weitere Rückgang aufhalten lässt.
Wie so oft, wenn eine Tierart an den Rand des Aussterbens gerät, spielen mehrere Faktoren mit. Bei den Birkhühnern sind es leider auch solche, die sich nur begrenzt kontrollieren lassen.
Da sind zum einen die Nesträuber, zu denen neuerdings auch Wildschweine gehören, die sich dank großflächigen Maisanbaus in der Region stark vermehrt haben. Wildschweine stellen Birkhühnern zwar nicht gezielt nach, aber die Rudel, die das Schutzgebiet durchstreifen, nehmen ein unterwegs aufgefundenes Gelege natürlich gern als Snack zwischendurch.
Werden die Küken gefressen oder verhungern sie?
Da ist das zunehmend unberechenbare Wetter, mit trockenen Frühjahren, die viele Kräuter vorzeitig verdorren lassen. Dadurch gibt es weniger Insekten, ein Problem für die Küken, die sich in den ersten Lebenswochen ausschließlich davon ernähren. Da ist schließlich die Gefahr der genetischen Verarmung, die bei Birkhühnern besonders groß ist, denn die Vögel sind extrem ortstreu und unternehmen nur selten Erkundungsflüge in benachbarte Reviere – oder sie tun es so diskret, dass ihre Beobachterïnnen es nicht mitbekommen. Frühere Versuche, den Gen-Pool der Heidebewohner durch Aussetzen gezüchteter Artgenossen aufzufrischen, sind bislang gescheitert – die Neuankömmlinge überlebten den Umzug meist nicht lange.
Alle genannten Faktoren setzen den Vögeln zu, aber welche davon besonders ins Gewicht fallen, und ob es außer diesen womöglich noch andere, bislang unentdeckte Bedrohungen gibt – das, sagte mir Stefan Wormanns, wisse man immer noch nicht genau.
Diese Unklarheit fand ich zunächst verblüffend. Ich hatte erwartet, dass die VNP-Expertïnnen „ihre“ Vögel sozusagen mit Vornamen kennen würden, schließlich sind es große und (zumindest die Männchen) markante Vögel, die sich zudem in einem gut erschlossenen, seit Jahrzehnten erkundeten Gebiet bewegen. Es sollte doch, dachte ich, ein Leichtes sein herauszufinden, wie diesen Vögeln am effektivsten zu helfen ist. Aber im Laufe des Gesprächs wurde mir klar, dass es so einfach nicht ist. Weil Birkhühner zu den Tieren gehören, die es Menschen extrem schwer machen, sie genauer zu erforschen. Sie sind scheu und leben sehr heimlich – nur während der Balzwochen im zeitigen Frühjahr lassen sie sich häufiger sehen und hören. Wo sie sich den Rest des Jahres aufhalten, wissen nicht mal ihre Betreuerïnnen genau. Und sie spüren den Vögeln auch nicht nach, aus gutem Grund: Gerade die Hennen, die sich ausschließlich um die Brut kümmern, reagieren sehr empfindlich auf Störungen; wer ihnen zu nahe kommt, riskiert, dass sie Gelege oder Küken verlassen, die dann umso leichter Opfer von Beutegreifern werden.
Manche Vogelfotografen missachten Abstandsregeln
Das Projektteam konzentriert sich daher darauf, den Birkhühnern bestmögliche Lebensbedingungen zu bieten, die beeinflussbaren Gefährdungsfaktoren zu reduzieren – und darüber hinaus die „Privatsphäre“ der Vögel so gut wie möglich zu schützen. Dazu gehört auch, Wanderwege zeitweise zu sperren und Touristen dazu anzuhalten, diese nicht zu verlassen und Hunde nicht frei laufen zu lassen. Die allermeisten Besucher halten sich an diese Regeln. Zu den wenigen, die sich darüber hinwegsetzen, gehören ausgerechnet einige Vogelbeobachter, vor allem Fotografen, die sich frühmorgens vor Balzplätzen auf die Lauer legen, um das drölfzigste ultimative Birkhuhnfoto zu schießen.
Es war den drei Naturschützerïnnen anzumerken, wie viel Wut und Frust diese Ego-Ornithologen bei ihnen auslösen. Weil sie nicht nur die Vögel stören, sondern auch eine der wichtigsten Aktionen zu ihrem Schutz behindern: die jährlichen Zählungen. Denn nur das kontinuierliche Monitoring gibt zuverlässig Auskunft darüber, wie es um die Population steht, wie gut die verschiedenen Schutzmaßnahmen wirken.
Im Morgengrauenl kollert der erste Birkhahn
Auch in diesem Frühjahr sind die Hühner wieder gezählt worden. 48 Freiwillige gingen an drei Wochenenden jeweils festgelegte Strecken ab und notierten alle gesichteten oder gehörten Vögel. Diesmal habe ich zum ersten Mal mitgezählt. Um einen winzig kleinen Beitrag zum Schutz dieser wunderbaren Tiere zu leisten, aber auch – ich gebe es zu – in der Hoffnung, endlich mal wieder eines von ihnen zu Gesicht zu bekommen.
An einem sehr kalten Aprilmorgen stand ich in der noch stockdunklen Heide, gemeinsam mit einem Vogel-Freund aus dem Ruhrgebiet, der extra die ganze Nacht durchgefahren war, um sein erstes Heide-Birkhuhn zu sehen. Wir wurden belohnt. Ein Hahn flog uns direkt über den Weg, ein anderer stimmte seine Balzrufe an – noch im Halbdunkel, in einer leider uneinsehbaren Senke. Aber wir konnten ihm eine gute Viertelstunde lang fasziniert lauschen. Hier kann man ihn hören (die Tonaufnahme stammt aus dem Vogelstimmenarchiv xeno-canto; mein eigenes Gerät streikte leider an diesem Morgen):
Es gibt eine Reihe von lautmalerischen Bezeichnungen für die Balzrufe von Birkhähnen, die aber aus der deutschen Alltagssprache weitgehend verschwunden sind, genauso wie die Vögel selbst aus der Landschaft. Kollern, kullern, krollen, krolzen, kurren: Diese und noch einige andere Verben verzeichnet das zauberhafte „Handwörterbuch der Vogellaute“ von Peter Krauss.
Mich erinnerten die Rufe irgendwie an ein lang vergessenes Spielzeug – eines, das seltsam blubbernde, vibrierende Geräusche erzeugte, wenn man es durch die Luft wirbeln ließ. Ich weiß nicht mehr, wie es hieß oder aussah. Aber ich weiß, dass ich dieses Geräusch unbedingt wieder hören möchte, spätestens bei der Zählung im nächsten Frühjahr.
Noch sind die Daten des diesjährigen Monitorings nicht komplett ausgewertet, jedenfalls nicht für alle noch bestehenden Birkhuhn-Reviere der Region. Im Naturschutzgebiet Lüneburger Heide aber, das lässt sich schon jetzt mit Sicherheit sagen, leben heute zwei Vögel mehr als im vorigen Jahr – 21 Hähne und 14 Hennen. Das ist noch kein Grund zum Jubeln. Aber doch ein Anlass für vorsichtige Hoffnung.