„Veränderungen nimmt man häufig als Gefahr wahr. Aber die Natur ist nicht statisch“
Den Brutvögeln in der Schweiz gehe es so schlecht wie noch nie, heisst es oft. Der Ornithologe Martin Weggler widerspricht. Er betont, dass die positiven Entwicklungen überwiegen. Allerdings: Eine mögliche Ursache dafür sei sehr bedrohlich.
Die Schweizer Landschaft hat sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts radikal verändert. Die Industrialisierung und die damit einhergehende Intensivierung der Landwirtschaft sowie die Zersiedlung haben deutliche Spuren hinterlassen. Besonders eindrücklich zeigt sich dies bei einigen Lebensräumen: Auen, Moore sowie ertragsarme, aber artenreiche Trockenwiesen und -weiden sind stark zurückgegangen oder sogar fast gänzlich verschwunden.
Dies hat Auswirkungen auf die Biodiversität. So sind in der Schweiz gemäss Bundesamt für Umwelt die Hälfte aller Lebensräume und ein Drittel aller darin vorkommenden Arten bedroht. Gerade in der Agrarlandschaft sind dramatische Verluste bei den Brutvögeln zu verzeichnen.
Doch das Bild ist nicht einheitlich. Vor allem dank Schutzbemühungen konnten negative Trends aufgehalten werden. So beginnt sich zum Beispiel die naturnahe Waldbewirtschaftung auszuzahlen. Auch Greifvögel spüren wieder mehr Wind unter den Flügeln.
Insgesamt mehr Vögel – aber auch viele gefährdete Vogelarten
Der neuste Schweizer Brutvogelatlas hält fest, dass bei den Populationen der heimischen Brutvögel insgesamt „die positiven Trends überwiegen“. Heute leben rund eine Million mehr Vögel in der Schweiz als vor 20 Jahren. Allerdings sind vor allem die Populationen von bereits häufigen Arten gewachsen. 40 Prozent der Schweizer Brutvogelarten gelten hingegen als gefährdet.
Doch es gibt auch positive Entwicklungen. Diese unterstreicht der Schweizer Ökologe und Ornithologe Martin Weggler. Er hat sich die Daten der Areal- und Bestandsveränderungen der Brutvögel in der Schweiz seit 1950 nochmals vorgenommen und seine Erkenntnisse vor kurzem im „Ornithologischen Beobachter“ veröffentlicht.
Herr Weggler, wieso haben Sie die Bestandsgrössen der Brutvögel in der Schweiz nachgerechnet?
Ich bin beruflich vorbelastet. Seit über 30 Jahren erhebe ich als Ornithologe die Populationen von Brutvögeln. Dabei habe ich erlebt, dass manche Auftraggeber alarmierende Studienresultate erwarteten. Das brachte mich in eine Zwickmühle, denn die Daten fielen oft nicht so negativ aus. Zudem bemerkte ich, dass auch Wissenschaftler wie etwa der deutsche Ornithologe Peter Berthold in seinem Buch „Unsere Vögel“ negative Bestandstrends stärker betonen als die positiven. Ich überprüfte, ob sich dieser negative Trend bei den Brutvögeln in der Schweiz bestätigen lässt.
Zu welchen Erkenntnissen sind Sie gekommen?
In der Schweiz gibt es viel mehr Brutvogelarten, die während den letzten 70 Jahren entweder ihr Areal erweitert oder im Bestand gewachsen sind, als Arten, bei denen ein negativer Trend zu verzeichnen ist. Damit will ich die Situation nicht schönreden. Es gibt Arten, deren Bestände abgenommen haben. Aber in der Bilanz überwiegen die Zunahmen. Und dies steht im Widerspruch zu gewissen Publikationen, die die negativen Trends hervorheben.
Schlechte Nachrichten überwiegen
Woher stammt das eher negative Bild?
Ich habe mir einmal die Medienmitteilungen der Schweizerischen Vogelwarte und der Vogelschutzorganisation „Birdlife Schweiz“ angeschaut. Darin ist viel häufiger von einer Abnahme der Bestände als von einer Zunahme die Rede. Bei einer Schutzorganisation kann ich dies nachvollziehen. Wissenschaftlich sollten wir aber einen möglichst wertfreien und unvoreingenommenen Blick auf die Situation der Vögel werfen. Negativmeldungen werden von den Medien übernommen und prägen die öffentliche Wahrnehmung.
Aber bei gewissen Vogelarten erkennt man doch einen klar negativen Trend, zum Beispiel bei den Arten des Kulturlandes?
Ja und nein. Es kommt auf die Definition an. Wir verstehen unter einer Kulturlandart üblicherweise eine Vogelart, die in der Agrarlandschaft brütet: Sie hat ihr Nest im Acker. Ganz klar: Bodenbrüter wie Feldlerche, Kiebitz oder Braunkehlchen verschwinden. Aber es gibt auch Vogelarten, die vom Kulturland leben. Das sind Vögel, die im Wald brüten und im Kulturland ihre Nahrung suchen. Viele dieser Vogelarten breiten sich aus…
…der Rotmilan zum Beispiel…
…ja, Rotmilan, Schwarzmilan, Misteldrossel, Grünspecht und weitere Arten. Aber diese Arten werden üblicherweise nicht zu den Kulturlandvögeln gezählt. Meine Hypothese lautet: Unsere Zersiedlung und Intensivierung fördert Vogelarten, die zwischen den verschiedenen Lebensräumen – dem Wald, der Agrarlandschaft, den Feuchtgebieten, den Siedlungen – hin und her pendeln können. Die Bestände dieser Arten nehmen in der Tendenz zu, die Bestände derjenigen Arten, die in der Agrarlandschaft leben, gehen in der Mehrzahl zurück. Wenn wir den Begriff des Kulturlandvogels also öffnen, verändert sich das Bild: Es ist nicht mehr nur negativ. Die hybriden Arten, die zwischen Lebensräumen pendeln können, fallen bei der Betrachtung oft unter den Teppich.
Müsste man also die Kategorien ändern, in die wir die Vogelarten einteilen?
Ja, diese müssten bereinigt werden. Oder wir schauen einfach alle Arten an, wie ich dies am Beispiel der Schweizer Brutvögel gemacht habe. Diese Gesamtbilanz sieht dann anders – positiver – aus, als wenn man sich auf einzelne – negative – Kategorien konzentriert.
Es gibt die Idee der „Blauen Listen“: Darin sollen die Arten der Roten Listen aufgeführt werden, die durch Artenförderungsprogramme eine positive Bestandsentwicklung zeigen. Was halten Sie davon?
Das wäre eine Möglichkeit, die Situation angemessener zu gewichten und darzustellen. Auch Grüne Listen für Arten, deren Bestand zunimmt, könnten helfen. Das bedeutet aber nicht, dass man die Bestandsabnahmen negiert. Man sollte diese aber im Kontext aller Arten sehen.
40 Prozent der Brutvogelarten in der Schweiz stehen auf der Roten Liste, sie sind also gefährdet. Wie gross ist die Aussagekraft der Roten Liste?
Für den Naturschutz sind Rote Listen ein sinnvolles Instrument, um politisch und juristisch den Schutz bestimmter Arten einzufordern. Biologisch – und etwas ketzerisch – betrachtet, sollte es weltweit aber nur eine Rote Liste geben. Es ergibt biologisch keinen Sinn, Rote Listen für den Kanton Zürich oder die Schweiz zu erstellen. Es gibt Populationen von Vogelarten, die gefährdet sind, und solche, die nicht gefährdet sind, egal in welchem Land sie leben. Auf die Gesamtbilanz kommt es letztlich an.
Es sind aber gerade die Arten der Roten Liste, die in den Bestandserhebungen jeweils besonders schlecht abschneiden.
Klar, das ist ja die Definition der Roten Liste: Arten, die unterdurchschnittlich abschneiden, landen auf der Roten Liste. Hier versteckt sich also ein Zirkelschluss. Und wenn Sie den Anteil der Arten erwähnen, die auf der Roten Liste stehen, dann müssen Sie auch beachten, dass die Gesamtzahl der Arten in der Schweiz in den letzten Jahren angestiegen ist. Es sind einige Arten neu hinzugekommen.
29 neue Arten sind in der Schweiz hinzugekommen zwischen 1900 und 2018, neun Vogelarten sind verschwunden. Rein rechnerisch also eine positive Entwicklung. Darf man Arten einfach so gegeneinander aufrechnen?
Als Biologe sage ich: Grundsätzlich darf man das. Aber wir müssen genauer hinschauen, was die Gründe der Veränderungen sind. Ursache des Aussterbens ist wohl in der Mehrzahl eine Lebensraumveränderung wie die Zerstörung von Habitaten oder die Intensivierung der Landwirtschaft. Für die Zuwanderung neuer Arten könnte die Klimaerwärmung verantwortlich sein, wofür viele Indizien sprechen. Und damit komme ich zu einem wichtigen Punkt meiner Untersuchung: Die überwiegend positive Bilanz der Bestandsentwicklungen kann ein Problemindikator sein. Wir müssen uns fragen: Ist der Biodiversitätsgewinn, den wir durch die Klimaerwärmung erfahren, positiv oder negativ? Diese Frage ist im Naturschutz noch nicht beantwortet.
Biodiversitätsgewinn wegen Klimaerwärmung
Und mit der Klimaerwärmung werden noch weitere Arten zuwandern.
Ja, die Biodiversität nimmt vom Äquator in Richtung der Pole ab. In der Zusammensetzung der Arten wird sich daher einiges verschieben in Zukunft. Südliche Arten ziehen in den Norden und erhöhen dort die Artenvielfalt, wie auch der neue Europäische Brutvogelatlas gezeigt hat. Mediterrane Arten wie Schlangenadler und Bienenfresser brüten nun auch in der Schweiz.
Doch global betrachtet ist die Klimaerwärmung selbstverständlich ein grosses Problem. Tropische Gebiete, in denen die Biodiversität besonders hoch ist, werden enorme Veränderungen erfahren, was dort die Aussterberisiken erhöht. Unseren Biodiversitätsgewinn darf man also nicht durch die rosa Brille anschauen. Im Gegenteil: Er kann Ausdruck eines globalen Problems sein. Hier besteht meiner Meinung nach ein grosser Forschungsbedarf.
Nochmals zusammengefasst: Wie beurteilen Sie die Situation der Brutvögel in der Schweiz?
Das ist nicht so einfach zu sagen. Es ist ein komplexes Bild. Numerisch geht es der Vogelwelt nicht schlechter. Einige Arten sind fast oder ganz verschwunden, andere sind dazugekommen. Zum Beispiel gibt es die Feldlerche in denjenigen Gebieten, die ich sehr gut kenne, nicht mehr, dafür ist nun die Schafstelze dort. Ich würde weiterhin gerne Vogelarten wie etwa den Rotkopfwürger sehen, die ich noch aus meiner Kindheit kenne. Aber früher reiste ich nach Griechenland, um den Stelzenläufer zu beobachten. Heute kann ich ihn jeden Frühling in der Schweiz sehen.
Veränderungen nimmt man häufig als Gefahr wahr. Aber die Natur ist nicht statisch. Und über längere Zeiträume ist unser Wissen begrenzt. Wir wissen zwar ziemlich gut Bescheid über die Veränderungen in der Vogelwelt der letzten paar Jahrzehnte. Aber wenn wir 200 oder 300 Jahre zurückblicken, ist unser Wissen gering. Auch der Blick in die Zukunft ist nicht einfach. Vor 40 Jahren prognostizierten renommierte Ornithologen, dass in Mitteleuropa Kleinvögel von den Entwicklungen profitieren und Grossvögel unter die Räder kommen würden. Es ist genau das Gegenteil eingetreten.
Sie sagen, dass die Schafstelze nun anstelle der Feldlerche auftaucht. Doch vermag die vergleichsweise kleine Population der Schafstelze in der Schweiz die früher sehr häufig vorkommende Feldlerche zahlenmässig aufzuwiegen?
Nein, derzeit nicht. Beide Arten verdienen in der Schweiz aber das Attribut eines Kulturfolgers, allerdings mit gegensätzlichen Perspektiven. Schafstelzen brüten bei uns fast ausschliesslich in Kartoffel- und Rübenkulturen. Der grossflächige Anbau dieser Kulturen ist neu. Bei den Schafstelzen findet seit den 1970er Jahren eine stürmische Entwicklung statt. Sie erreichen mittlerweile lokale Populationsdichten, die vergleichbar sind mit jenen der Feldlerche in früheren Jahrzehnten. Die Ursache für den Zusammenbruch der Feldlerchenpopulationen in ganz Mittel- und Westeuropa liegt ebenfalls bei einer Umstellung in der Agrarwirtschaft – und zwar im Wechsel von Sommergetreide auf Wintergetreide. In den unteren Höhenlagen der Schweiz teilen sich also beide Vogelarten das Schicksal eines Kulturfolgers – aber eben mit unterschiedlichen Vorzeichen.
Reaktionen auf die Thesen von Martin Weggler
Martin Weggler kritisiert im Interview die Schweizerische Vogelwarte und Birdlife Schweiz. Diese berichteten vor allem über negative Bestandsentwicklungen. Die beiden Organisationen nehmen dazu Stellung:
Schweizerische Vogelwarte: „Erfreulicherweise gibt es zahlreiche Vogelarten, deren Bestände sich positiv entwickeln, z.B. die meisten Greifvögel und Spechte. Dennoch ist die Rote Liste der bedrohten Arten bislang nicht kürzer geworden. Im Brutvogelatlas und im Internet präsentiert die Schweizerische Vogelwarte Sempach detaillierte Informationen zu Vorkommen und Trends zu sämtlichen einheimischen Vogelarten. Als Stiftung für Vogelkunde und Vogelschutz setzt die Vogelwarte bei ihren eigenen Forschungs- und vor allem Förderprojekten naturgemäss einen Schwerpunkt bei den bedrohten Arten, was sich dann auch in der Kommunikation widerspiegelt.“
Birldlife Schweiz: „Birdlife Schweiz ist eine wissenschaftlich ausgerichtete Organisation und begrüsst den freien wissenschaftlichen Diskurs. Herr Weggler steht mit seiner Meinung jedoch weitgehend alleine da. Der Weltbiodiversitätstrat IPBES erkennt und warnt eindringlich vor einer massiven, weltweiten Biodiversitätskrise. Dass die Anzahl nachgewiesener Arten lokal, regional oder auch national scheinbar zunimmt, hängt oft auch mit dem viel höheren Beobachtungsdruck, mit viel besseren optischen Geräten, mit der freien Verfügbarkeit von Stimmenaufnahmen sowie mit der Ausbildung der Ornithologinnen und Ornithologen zusammen.“