Gesetz zur Wiederbelebung geschädigter Natur: Experten drängen auf Tempo

Schäden in der Natur zu heilen – das ist das Ziel eines neuen EU-Gesetzes. Experten sehen es als Chance für eine echte Wende im Kampf gegen Artensterben und Lebensraumverlust an. Aber für einen Erfolg muss sich nicht nur in der Landschaft einiges ändern.

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Uralte Eichen stehen locker im grünen Wald

Führende Expertinnen und Experten haben die Bundesregierung nach der Verabschiedung des europäischen Renaturierungsgesetzes zu raschem Handeln aufgerufen. Das Gesetz, das der Rat der europäischen Umweltministerinnen und -minister am 17. Juni endgültig auf den Weg gebracht hat, habe das Potenzial zu echten Fortschritten im Kampf gegen die voranschreitende ökologische Verarmung weiter Teile der europäischen Landschaften, sagte die Leiterin des Senckenberg Forschungszentrums für Klima und Biodiversität, Katrin Böhning-Gaese, im Gespräch. „Trotz einiger Abschwächungen im Laufe der zweijährigen Verhandlungen hat dieses Gesetz das Zeug, zum echten Gamechanger“, sagte die Biologin.

Warnung vor „Mühlen der Bürokratie“

Böhning-Gaese betonte, der Ansatz, geschädigte Lebensräume wiederzubeleben, gehe über bisherige Wege im Naturschutz deutlich hinaus. „Wir haben bisher stets die beiden Ansätze verfolgt, Gebiete entweder zu schützen oder ihre Nutzung nachhaltiger zu gestalten – der Ansatz, die Situation in den Lebensräumen aktiv zu verbessern und einen Rechtsrahmen dafür zu schaffen, ist neu und wichtig“, sagte Böhning-Gaese. Die Forscherin mahnte, angesichts des Ausmaßes der ökologischen Krise dürften die ehrgeizigen Ziele im nun anstehenden Planungsprozess nicht durch die „Mühlen der Bürokratie“ ausgebremst werden.

Katrin Böhning-Gaese kniet hinter einem Netz zum wissenschaftlichen Vogelfang in einem Schilfgebiet.
Katrin Böhning-Gaese bei der Feldarbeit. Die Biologin leitet das Senckenberg Forschungszentrums für Klima und Biodiversität in Frankfurt und auch hat die Stellungnahme der Nationalen Akademie der Wissenschaft Leopoldina zur Krise der biologischen Vielfalt in der Agrarlandschaft maßgeblich mit erarbeitet.

Ökologische Wiederbeatmung auf großer Fläche

Das Renaturierungsgesetz verpflichtet die 27 EU-Mitgliedstaaten, ihre Ökosysteme auf großer Fläche wiederzubeleben. Dabei sollen alte Wälder geschützt, Moore wiedervernässt oder Äcker und Felder durch Blühflächen, Brachen und Hecken ökologisch aufgewertet werden. Die Maßnahmen sollen dem dramatischen Verlust von Biodiversität entgegenwirken. Der Handlungsdruck ist groß: In der Europäischen Union sind mehr als 80 Prozent der Lebensräume in einem schlechten ökologischen Zustand, zahlreichen Tier- und Pflanzenarten droht das Aussterben. Laut neuem Gesetz müssen die Staaten bis 2030 Renaturierungsmaßnahmen auf rund 20 Prozent der EU-Fläche auf den Weg gebracht haben.

Bis 2050 sollen alle geschädigten Ökosysteme in den Genuss von Renaturierungsmaßnahmen kommen. Das „Restoration Law“ ist das erste große auf europäischer Ebene seit der Verabschiedung der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie 1992, die darauf abzielte Lebensräume unter Schutz zu stellen.

Luftbild einer Landschaft voller toter Bäume.
Der Harz ist ein besonders eindringliches Beispiel für das Ausmaß des Waldsterbens in Forsten, die mit nicht standortheimischen Bäumen in Monokultur angelegt wurden: Bundesweit müssen 500.000 Hektar Wälder wiederbewaldet werden. Eine Chance für Klimaschutz und Natur?

Nutzen und schützen zugleich?

Der Umweltrechtler und Regierungsberater Wolfgang Köck empfahl der Bundesregierung, gemeinsam mit den Bundesländern als ersten Schritt ein Gesetz auf den Weg zu bringen, das die Umsetzung der Renaturierung regelt. „Wie wollen wir es machen, wo wollen wir es machen und wer ist wofür verantwortlich? Solche Fragen sollten in einem föderalen Land wie unserem nicht allein vom Bund beantwortet werden“, sagte Köck. Jedes Bundesland sollte jetzt rasch einen eigenen Wiederherstellungsplan vorlegen. Diese Pläne sollten dann über ein Gesetz zu einem bundesweiten Konzept zusammengefügt werden. Weil eine Renaturierung auf großer Fläche in einem dicht besiedelten Land wie Deutschland zwangsläufig zu Interessenskonflikten führt, plädieren Köck und seine Kolleginnen und Kollegen aus dem Sachverständigenrat der Bundesregierung etwa im Agrarland und im Wald für ein Modell der „multifunktionalen“, also mehrfachen Nutzung.

Porträtfoto Köck
Wolfgang Köck ist langjähriger Leiter des Departments für Umwelt- und Planungsrecht am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig/Halle und Professor für Umweltrecht an der Uni Leipzig. Er ist Mitglied im Sachverständigenrat für Umweltfragen der Bundesregierung.

Das europäische Wiederherstellungsgesetz schreibe nicht vor, 20 Prozent der Flächen ausschließlich für den Naturschutz zu reservieren oder sie sich selbst zu überlassen, betonte Köck: „Es geht auch darum, dass forst- oder landwirtschaftlich genutzte Flächen anders bewirtschaftet werden und zu den Zielen der ökologischen Aufwertung beitragen.“

Der Verzicht oder die deutliche Reduzierung von Pestiziden und Dünger in der Landwirtschaft und das Einstreuen von Mosaiken aus Grün- und Blühflächen könnten beispielsweise auch innerhalb der agrarisch genutzten Flächen zu einer deutlichen Revitalisierung führen, sagte Köck.

Ein Traktor versprüht Chemikalien
Mit Milliardenbeträgen wird überall auf der Welt eine naturschädliche Landwirtschaft gefördert. Eine ökologische Umwidmung naturschädlicher Subventionen würde auch das Renaturierungsgesetz voranbringen.

Settele: Fördergelder bündeln und für die Natur verwenden

Auch der Biodiversitätsforscher Josef Settele vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig/Halle plädiert für einen kooperativen Ansatz mit der Landwirtschaft und anderen Landnutzern. Eine gute Option, um die benötigten Flächen für die Renaturierung zusammenzubekommen, sei es, die schon heute in vielen Bereichen bereitgestellten Subventionen für die Land- und Forstwirtschaft so umzulenken, dass sie eine naturnähere Landnutzung ermöglichen, sagte Settele. Das könnte nach Einschätzung des Biodiversitätsforschers dazu führen, die Flächen zu verkleinern, auf denen dieselbe Feldfrucht angebaut wird, das auf einem Feld angebaute Getreide oder Gemüse häufiger zu wechseln und die Produktion von Futtermitteln zur Fleischerzeugung zu verringern.

Settele steht neben dem überlebensgroßen Konferenzlogo COP15
Der Biodiversitätsforscher Josef Settele bei der Weltnaturkonferenz in Montreal

Wende für die Natur auch auf dem Teller?

Böhning-Gaese und Settele zeigten sich überzeugt davon, dass sich nicht nur die Bewirtschaftungsmethoden auf Äckern, Wiesen und Feldern ändern müssen, um dem Renaturierungsgesetz zu einem Erfolg und der Natur in Europa zu einem Comeback zu verhelfen.

Auch auf dem Teller, im Kleiderschrank und in vielen weiteren Bereichen des menschlichen Lebens sei ein Umdenken nötig: „Ohne eine Veränderung unserer Ernährungs- und Konsumgewohnheiten wird es sehr schwierig, eine Wende zum Besseren einzuleiten“, sagt Settele. „Ein geändertes Konsumverhalten, die Umlegung der Umweltkosten bei der Herstellung in die Produktpreise im Laden, eine noch deutlichere Verringerung der Lebensmittelverschwendung: Das sind alles keine wirklich neuen Ansätze, aber sie bleiben entscheidend auch für einen Erfolg des Renaturierungsgesetzes.“

Auch Köck fordert, Renaturierung künftig in allen Politik-Bereichen von Anfang an stärker zu berücksichtigen, etwa in der Landwirtschaftspolitik, der Verkehrspolitik und der Energie- und Städteplanung.

Renaturierung dient Natur und Menschen

Das Gesetz soll nicht nur Tieren und Pflanzen das Überleben sichern, sondern auch für Menschen überlebenswichtige Leistungen von Ökosystemen erhalten. Denn der Verlust von Biodiversität hat auch unmittelbare Folgen für die Menschen und die Wirtschaft in der EU: Kanalisierte Flüsse und zerstörte Auen können die durch den Klimawandel häufigeren und stärkeren Hochwasser nicht mehr aufhalten.

Die durch Entwässerung und Schadstoffe geschädigten Wälder haben sich bereits zu Emittenten von Treibhausgasen entwickelt, statt sie zu speichern. Auch das Insektensterben als Folge von zu viel Chemikalien und einer zu intensiven Landwirtschaft entwickelt sich mittlerweile zu einer ernsten Gefahr für die Produktion von Lebensmitteln. Schon heute leidet die Hälfte der von Bestäubung abhängigen Ackerkulturen in der EU unter Mangelerscheinungen.

Ein Drohnenfoto eines wiedervernässten Waldes
Der Anklamer Stadtbruch

Einhellig für Freiwilligkeit

Einhelligkeit besteht unter den Expertinnen und Experten darin, dass die Ziele des Renaturierungsgesetzes über Kooperation und freiwillige Teilnahme von Landbesitzern und -besitzerinnen erreicht werden sollen. „Zusammenarbeit mit den Menschen, die die Flächen besitzen oder bewirtschaften, ist zentral, damit die Umsetzung hinterher klappt – und Zusammenarbeit kann nur auf freiwilliger Basis erfolgen“, glaubt Böhning-Gaese.

„Anreize sind die Mittel der Wahl“, ist auch Settele überzeugt. Enteignungen seien „nur ein letzter Ausweg und dürften im Vergleich zur Praxis bei Infrastrukturmaßnahmen überhaupt nicht ins Gewicht fallen“. Beim Ausbau von Straßen, Schienen und anderer Infrastruktur sind Enteignungen gegen eine Entschädigungszahlung keine Seltenheit.

Enteignung im Einzelfall kein Tabu

Auch Umweltrechtler Köck hält Erfolge aber nur für möglich, wenn die neuen Naturschutzmaßnahmen gesellschaftlich akzeptiert würden. Deshalb seien Anreizprogramme mit einer guten Finanzierung das Mittel der Wahl. In Ausnahmefällen könne aber auch eine Enteignung nicht ausgeschlossen werden: „Wenn wir zum Beispiel bei der Moor-Wiedervernässung alles davon abhängig machen, dass jeder zustimmt, dann kann ein einzelnes Sperrgrundstück eine ganze Wiedervernässung zunichtemachen, weil das Wasser nicht an Grundstücksgrenzen Halt macht. Wir dürfen nicht in eine Situation kommen, die einem Einzelnen eine Sperrminorität gibt.“

Die Recherchen von Thomas Krumenacker zu diesem Artikel wurden von der Andrea von Braun Stiftung gefördert.

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