Mein Professor, der Ornithologe – eine bedrohte Art
Biologen sollten Tiere und Pflanzen kennen, sagte Hans Engländer. Heute ist das keine Selbstverständlichkeit mehr.
Es hat wieder einmal geklappt. Wie bestellt sitzt das Blaukehlchen auf dem Waldweg. Rot, blau und weiß leuchten die Federn in der Frühlingssonne. Und die Vorstellung geht noch weiter: Der Vogel fliegt ein paar Meter, setzt sich auf einen der Büsche am Wegesrand und trällert: djip, djip, djip. Zufrieden steht Hans Engländer ein paar Meter entfernt und betrachtet seine Studenten. Er hat den äußerst seltenen Vogel schon unzählige Male gesehen, doch für die jungen angehenden Biologen ist es das erste Blaukehlchen. Das Erlebnis blieb in unseren Köpfen gespeichert. Und genau darum ging es Professor Dr. Dr. Hans Engländer – er liebte die Natur, und seine Begeisterung steckte an. Engländer war der heute altmodisch klingenden Ansicht, dass Biologen in der Lage sein sollten, Haus- und Feldsperling zu unterscheiden, dass sie wissen sollten, was um sie herum kreucht und fleucht. Die Vogelwelt lag ihm besonders am Herzen. Als ich an der Blaukehlchen-Exkursion nach Oostvaardersplassen in den Niederlanden teilnehme, ist Prof. Engländer bereits 75 Jahre alt. Doch wenn wir morgens um 5 Uhr zur Vogeluhr starteten und Hans Engländer auf den feuchten Wiesen am Niederrhein über die Zäune kletterte, hatten manche Studenten Probleme mitzukommen.
Das Ornithologische Praktikum in Grietherbusch, einer Außenstelle der Universität Köln am Niederrhein, ist damals immer ausgebucht. Auch lange nach seiner Emeritierung leitet es Professor Engländer gemeinsam mit seiner Partnerin Prof. Dr. Anna Gisela Johnen. Das Verhältnis der beiden Professoren ist ein immer wiederkehrendes Thema unter uns Studenten. In der Öffentlichkeit nennt sie ihn „Herr Doktor“, und er siezt Frau Johnen. Doch gelegentlich rutscht ihm das vertraute „Du“ heraus – natürlich aufmerksam registriert von uns. Dass die beiden in den Semesterferien gemeinsam zu den Berggorillas nach Ruanda oder auf die Falkland-Inseln reisen, daraus machen sie kein Geheimnis.
Schlechte Zeiten für die Lehre
Schon damals waren die beiden eine echte Rarität, heute sind Professoren wie Hans Engländer und Anna Gisela Johnen vom Aussterben bedroht – in den meisten Universitäten ist ihr Lebensraum bereits verschwunden. Denn die beiden hatten nicht nur eine umfassende Artenkenntnis, sie sahen ihre Berufung in der Lehre. Natürlich haben sie auch selbst geforscht, doch verglichen mit den heutigen Professoren-Spezies ist ihre Publikationsliste kurz. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging es darum, die Universität wieder aufzubauen und Studenten auszubilden. Bis zum Schluss war es das, was die beiden antrieb. Und wenn ihre Studenten publizierten, verzichteten sie häufig darauf, ihren eigenen Namen auf die Veröffentlichung zu setzen. Heute beklagen Politiker und Wissenschaftler den Niedergang der Lehre, doch bei der Berufung von Professoren zählen fast ausschließlich Zahl und Rang der Publikationen. Ob die Zeit klassischer Hochschullehrer einmal wiederkommt? Kaum vorstellbar, allerdings hätte auch niemand vermutet, dass sich die Bestände der Blaukehlchen wieder erholen. Und doch ist es passiert: Die Art steht nicht mehr auf der Roten Liste.
Wenn ich in meinen Unterlagen von damals blättere, finde ich Aufzeichnungen über „Freilandbeobachtung von Bläßrallen am Bienener Altrhein“. Stundenlang saßen wir Studenten am Ufer und beobachteten Bläß- und Teichhuhn, Haubentaucher und Flussseeschwalbe. Es ging nicht um Raritäten, es ging darum, den Blick für Details zu schärfen. Hans Engländer und Anna Gisela Johnen waren auch im Natur- und Artenschutz aktiv. Seit 1981 koordinierten sie ein bis heute laufendes Monitoring der Brutvögel am Bienener Altrhein. Dass heute wieder ein sicherer Bestand von Trauerseeschwalben – einer in Deutschland vom Aussterben bedrohten Art – dort brütet, ist auch ihr Verdienst. Genau erinnern kann ich mich noch an die gänzlich ungnädige Reaktion von Professor Johnen als wieder einmal Rabenkrähen die Gelege der Vögel geräubert hatten. Heute legen Artenschützer regelmäßig Brutflösse für die Trauerseeschwalben aus, der Bruterfolg steigt. Beteiligt daran sind ehemalige Studenten von Hans Engländer.
In Köln war das Zoologische Institut in der Kerpener Straße – ein Stück entfernt von all den Molekularbiologen und Genetikern – ihr Reich. Auch als Professor Engländer schon deutlich über 80 Jahre alt war, verbrachte er noch beinahe jeden Tag im Institut – inmitten all seiner Bücher. Im Laufe der Jahrzehnte hatte er eine umfangreiche Privatbibliothek aufgebaut: ein wahrer Schatz für Ornithologen. Dazu gehörte eines der teuersten Bücher der Welt: „Birds of America“ von John James Audubon mit handkolorierten Farbtafeln, auf denen die Vögel in Originalgröße abgebildet sind. Hans Engländer sammelte nicht nur, er las auch – und wusste anschließend genau, wo die Informationen zu finden waren. Wenn ein Student Informationen suchte, etwa über den Riesenseeadler in Kamtschatka, ging Engländer zielsicher in eine Ecke seiner viele Tausend Bände umfassenden Bibliothek – und kehrte dann mit dem passenden Sonderdruck zurück. „Obwohl er kostbarste Werke besaß, ging er fast respektlos mit ihnen um“, erinnert sich sein ehemaliger Schüler Stefan Sudmann: „Sie waren sein Handwerkszeug, das er verlieh und jedem Interessierten zeigte.“ Nach seinem Tod ging die viele Millionen Euro teure Sammlung an die Kölner Universitätsbibliothek – mit der Auflage, sie für Studenten zugänglich zu halten.
Bis zum Schluss hielten Hans Engländer und Anna Gisela Johnen engen Kontakt zu ihren Schülerinnen und Schülern – und vermutlich waren sie stolz auf „ihre Ehemaligen“. Bei vielen ist die Saat aufgegangen, sie arbeiten heute in Museen und Universitäten, bei Vogelwarten, Naturschutzbehörden und Planungsbüros. Ein besonderes Geschenk machten Frank Glaw und Migel Vences ihrem ehemaligen Professor: Sie benannten eine neu entdeckte Art nach ihm: Boophis englaenderi – kein Vogel, sondern ein madagassischer Frosch.