NGO schreibt Gesetzespaket: So wird Deutschland klimaneutral
Gemeinsam mit Expertïnnen und Bürgerïnnen hat GermanZero für Deutschland Lösungsvorschläge erarbeitet, wie das restliche CO2-Budget so eingehalten werden kann, dass das 1,5-Grad-Ziel noch erreicht werden kann. Ein Interview darüber, was das für die Menschen, Unternehmen und die Politik bedeutet.
Deutschland soll klimaneutral werden. Viele Fachleute bemängeln, dass nicht nur die zeitlichen Ziele der Bundesregierung unzureichend sind, sondern dass auch die dafür beschlossenen Maßnahmen nicht ausreichen. Die Nichtregierungsorganisation GermanZero hat deshalb unter Beteiligung von Öffentlichkeit und unterschiedlichsten Expertïnnen einen Maßnahmenkatalog erarbeitet, wie Deutschland sein Restbudget an CO2-Emissionen einhalten könnte. 100 Juristen entwickelten ehrenamtlich dazu ein rund 1.500 Seiten langes Gesetzespaket. Auf dessen Grundlage sollen Politik und Gesellschaft schnell wirksame Maßnahmen diskutieren und die Ergebnisse politisch umsetzen.
Björn Lohmann sprach für das Riffreporter-Magazin „Klima wandeln“ mit Prof. Dr. Stephan Breidenbach und Lea Nesselhauf von GermanZero darüber, was diese Regulierungsvorschläge für die Menschen in Deutschland bedeuten.
Björn Lohmann: Deutschland hat bereits ein Klimaschutzgesetz. Wieso haben Sie nun weitere 1.500 Seiten Gesetzestext zum Klimaschutz verfasst?
Prof. Dr. Stephan Breidenbach: Die Überschrift lautet immer: 1,5 Grad – die Grenze nicht überschreiten. Alles, was es bisher an Klimagesetzgebung und politischen Vorschlägen gibt, von unterschiedlichen politischen Gruppierungen, war nicht geeignet einen 1,5-Grad-Pfad einzuschlagen. Diese Situation haben wir vor zwei Jahren vorgefunden. Da haben wir gesagt: Wenn die Politik nicht liefert, dann machen wir es eben. Wir haben angefangen ein Gesetzespaket zu entwickeln, ein Referenzmodell mit verschiedenen politischen Maßnahmen.
Lea Nesselhauf: Das bestehende Klimaschutzgesetz ist ja wie eine Metaregulierungsebene darüber. Es gibt sehr allgemeine Ziele vor, macht teilweise institutionelle Vorgaben, aber geht nicht rein in einzelne Maßnahmen, also: Was ist eigentlich notwendig, damit wir diese Ziele erreichen? Darum haben wir einerseits dieses Klimaschutzgesetz überarbeitet, weil dessen Ziele unzureichend sind. Die zweite Lücke, die wir haben, ist, dass die vorgesehenen Maßnahmen unzureichend sind, um diese Ziele im Klimaschutzgesetz zu erreichen. Deshalb haben wir für alle Sektoren einzelne Maßnahmenpakete aufgestellt.
Wie viele Treibhausgase blasen wir noch in die Atmosphäre?
Breidenbach: Der Hintergrund ist manchmal für viele nicht ganz plausibel, wenn es um die 1,5-Grad-Grenze geht. Es finden sich oft Jahreszahlen, bis wann wir klimaneutral sind, bis wann wir aus der Kohle ausgestiegen sind und so weiter. Das ist schön, hat aber im Grunde keine Bedeutung. Das Einzige, was von Bedeutung ist, ist: Wie viel Treibhausgase blasen wir in die Atmosphäre? Diese Summe insgesamt entscheidet fast linear über das Klima und den Temperaturanstieg. Wenn wir die 1,5 Grad nicht überschreiten wollen, dann müssen wir eben haushalten mit dem, was wir an CO2 gerade noch in die Atmosphäre geben dürfen. Idealerweise gar nichts mehr, aber je nach Rechnung haben wir insgesamt noch ein bis drei Gigatonnen. Wie verhindere ich, dass ich mehr in die Atmosphäre blase? Dafür brauche ich Maßnahmen, das geht nicht von selber.
Aber Sie haben doch auch 2035 als Jahr der Klimaneutralität festgeschrieben, oder?
Breidenbach: Wir haben das ja verbunden mit den entsprechenden Rechnungen zum CO2-Ausstoß. Wenn Sie das durchrechnen, können Sie auch ein Jahr hinschreiben, aber entscheidend ist die Begrenzung dessen, was Sie in die Atmosphäre pusten. Wir wollen 100 Prozent erneuerbare Energie im Jahr 2035 über alle Sektoren hinweg, das war unsere Aussage. Also: Wann halten wir es überhaupt für möglich, dass wir dahin kommen? Vor zwei Jahren haben uns dafür alle für verrückt erklärt. Da geisterten für die Energiefrage Zahlen wie 2050 herum, dann irgendwann 2045, und jetzt heißt es schon 2035. Da bewegt sich was, das Bewusstsein, dass es anders sein könnte, hat sich entwickelt.
Nesselhauf: 2045 bzw. der Klimaschutzpfad, den man damit verbindet, der ist ganz eindeutig nicht 1,5-Grad-kompatibel, egal wie man das rechnet, damit kommen wir nicht auf 1,5 Grad.
Die Politik muss vom begrenzten CO2-Budget her denken
Das Bundesverfassungsgericht hat der Politik ja klare Aufträge erteilt. Warum glauben Sie nicht, dass die Bundesregierung die Aufgabe alleine lösen kann?
Breidenbach: Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist unmissverständlich in dem, was sie der Politik aufgibt. Das sind eigentlich Leitplanken für die nächsten Jahrzehnte für Politik, Verwaltung und indirekt für die Wirtschaft – wenn die Politik entsprechende Vorgaben macht, muss die Wirtschaft natürlich folgen. Zum Teil geht sie ja schon voran. Das steht da alles drin. Da steht auch drin, wir haben ein Restbudget. Aber wenn Sie genau hinsehen, dann ist das CO2-Budget, was wir noch herauspusten dürfen, in der Diskussion verschwunden. In der politischen Diskussion wird es nicht mehr genannt, zumindest nicht von der Ampelkoalition. Jetzt können Sie spekulieren, warum das so ist. Aber der einfachste Grund ist: Das macht messbar. Das zeigt, wie dramatisch die Situation ist. Da steckt natürlich irgendwie drin: Das werden wir nicht schaffen.
Nesselhauf: Das Verfassungsgericht hat gesagt, wie Politik denken muss – eigentlich vom begrenzten Budget her. Die Bundesregierung muss diese ganzen Gesetze sektorübergreifend ausarbeiten, um überhaupt in der Lage zu sein, nach diesen Maßstäben zu handeln. Wir haben aber überhaupt keine Ansätze gesehen, dass Pläne irgendwie im Umlauf sind, die diese Vorgaben erfüllen – was zugegebenermaßen eine große Herausforderung ist; weil über diese verschiedenen Sektoren hinweg gedacht werden muss; weil über Kompetenzbarrieren hinweg gedacht werden muss. Wir haben den Vorteil, dass wir von außen draufgeschaut haben. Und wir haben einfach keine Zeit mehr, das war der Grund, warum wir gesagt haben: Dann machen wir das eben.
Breidenbach: Das ist das Paket. Und das ist unsere Aussage: Damit können wir es schaffen, gerade noch diese 1,5-Grad-Grenze aus deutscher Sicht mit unserem Beitrag nicht zu überschreiten. Jetzt stecken eine Menge Maßnahmen im Paket, etwa 225 Maßnahmen. Das Entscheidende ist: Man kann über einzelne Maßnahmen diskutieren und kann sagen: „Ich bin anderer Meinung.“ Wir haben 4.500 Studien ausgewertet, um zu diesen Maßnahmen zu kommen, wir haben die unterschiedlichen Optionen angeschaut, die es für die einzelnen Bereiche gibt. Wir haben uns die Argumente des Für und Wider angeschaut. Wenn jemand anderer Meinung ist, ist das fein. Das heißt aber, wenn Sie aus unserem Paket was rausnehmen, müssen Sie was anders reintun, was ähnlich wirksam ist. Sonst geht das Ziel verloren. Das ist das Dramatische, wenn man vom Ende her denkt: Man ist gezwungen, komplett transparent und ehrlich zu sein. Das ist politisch schwierig, das wissen wir.
Intensive Beteiligung von Fachleuten und Zivilgesellschaft
Wie genau ist denn das Gesetzespaket von GermanZero entstanden?
Nesselhauf: Am Anfang stand ein Klimaplan. Der ist auf einem Expertïnnenworkshop entstanden – das war ein ganz grober Plan: Was sind die großen Herausforderungen in den einzelnen Sektoren? Dann haben wir angefangen, eine sehr große Wissensdatenbank aufzubauen. Wir haben uns mit Unterstützung von sehr vielen Expertinnen und Experten die Mühe gemacht, systematisch die existierenden Lösungsvorschläge durchzukämmen und zu schauen: Welche sind die überzeugendsten, welche passen auch zusammen, also welche kann man als ein System denken? Dann haben wir uns für die, die uns am überzeugendsten erschienen, entschieden und haben zwei Feedbackschleifen gedreht.
Wie sahen die aus?
Nesselhauf: Die erste Feedbackschleife bestand aus Workshops mit Expertïnnen aus Wissenschaft, Wirtschaft und Verwaltung. Wir haben geschaut: Wo sind die Zielgruppen, die wohl am kritischsten bei unseren Vorschlägen sind, wo können wir noch was lernen? Wir haben diese Menschen eingeladen und ihr Feedback zu diesen Vorschlägen eingesammelt. Dann haben wir die Vorschläge auf unsere Bürgerbeteiligungsplattform hochgeladen und haben da noch mal Bürgerïnnen kommentieren lassen, insbesondere unter dem Aspekt Sozialverträglichkeit. Was sind Punkte, die wir berücksichtigen sollten, um diesen Übergang zur Klimaneutralität möglichst sozialverträglich hinzubekommen? Daraus ist der Maßnahmenkatalog zum 1,5-Grad-Gesetzespaket mit 500 Seiten entstanden. Der hat aufgezeigt, wie die Entwicklungsvorschläge aussehen und wie die genau umgesetzt werden können. Und der Katalog hat auch immer zusätzlich aufgezeigt, welche Alternativen es gäbe und warum wir uns eben nicht für diese Varianten entschieden haben.
Breidenbach: Bundesgesetze müssen am Anfang sagen, welche Alternativen es gibt. Wenn sie reinschauen, steht da meist: „Alternativen: keine“; auch jetzt wieder in der neuen Gesetzgebung, die gerade als Entwurf vorliegt. Das haben wir versucht zu verändern, indem wir gesagt haben, wir stellen auch die Alternativen vor, die wir nicht gewählt haben, und sagen, warum das so ist.
Nesselhauf: Diesen Katalog haben wir veröffentlicht – im Sommer 2021. Darauf aufbauend haben wir jetzt mit über 200 Juristïnnen, die uns ihre Arbeitskraft und Kreativität zur Verfügung gestellt haben, fertige Gesetzentwürfe entwickelt. Teilweise haben wir Gesetze neu geschrieben, teilweise haben wir bestehende verändert. Das sind jetzt die fertigen Normtexte inklusive der Begründung – so wie das in den Bundestag eingehen und auch verabschiedet rausgehen könnte. Wir sagen nicht, dass wir die Weisheit mit Löffeln gefressen haben. Wenn es bessere Vorschläge gibt, wollen wir das gerne weiterentwickeln und an aktuelle politische Entwicklungen anpassen.
Breidenbach: Und es sind Vorschläge, die vor allem deutsche Gesetzgebung betreffen, aber auch Materien, wo europäische Richtlinien einschlägig sind. Auch da machen wir Vorschläge. Wir haben 30 komplett neue Gesetze und Verwaltungsvorschriften geschaffen, wir haben über 90 Gesetze und EU-Richtlinien überarbeitet und damit insgesamt etwa 500 Normen angepasst.
Der Regierung wird immer wieder vorgeworfen, Gesetzestexte von Lobbyorganisationen 1:1 in geltendes Recht zu überführen. Fordern Sie jetzt nicht das gleiche für Ihren Entwurf? Warum sollte das bei Ihnen okay sein?
Breidenbach: Wir sind niemandem verpflichtet außer der 1,5-Grad-Grenze.
Nesselhauf: Das Ziel, Klimaneutralität schnellstmöglich zu erreichen, liegt in der Verfassung begründet, das hat auch das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zum Klimaschutzgesetz letztes Jahr noch mal bestätigt.
Breidenbach: Wir sind keiner politischen Linie verpflichtet, wir sind transparent und sagen auch, was wir warum nicht gewählt haben. Das ist für uns auch ein Sprung in der Demokratie. Es ist sehr schwer parlamentarische Prozesse zu ändern. Aber es ist möglich, dass Menschen aus der Zivilgesellschaft mit Kompetenzen sich zusammentun, um für die Politik ein Referenzmodell zu schaffen, transparent und klar. Zivilgesellschaft kann so was.
1,5-Grad-Ziel soll in die Verfassung
Das Klimaschutzabkommen von Paris wurde vom Verfassungsgericht als verpflichtend bestätigt. Sie fordern dennoch, das 1,5-Grad-Ziel zusätzlich im Grundgesetz festzuschreiben. Warum?
Nesselhauf: Das Verfassungsgericht hat eindeutig gesagt, dass die Regierung sich am Restbudget orientieren muss. Es ist etwas umstritten, ob es auch gesagt hat, das Budget muss an 1,5 Grad orientiert sein. Um da Klarheit zu schaffen und eine demokratische Legitimation für Handlungen danach zu schaffen, muss dieses Budget im Grundgesetz verankert werden. Das Budget ist erschreckend klein, bei einem „weiter wie bisher“ wäre es in zwei bis drei Jahren aufgebraucht. Wir sagen, wenn wir es überschreiten, muss es eine Verpflichtung geben, die Überschreitung im Ausland wirksam im Einklang mit dem Völkerrecht zu kompensieren. Das geht noch nicht unumstritten aus dem Verfassungsgerichtsbeschluss hervor.
Breidenbach: Für die Politik wäre es auch ein Referenzposten, wo man hinzeigen könnte: „Wir können nicht anders, wir müssen.“ Die Maßnahmen sind machbar, aber schwierig, und für manche Gruppen besonders belastend – so etwas ist schwer für Politik.
Nesselhauf: Das wäre eine Art Klimaschuldenbremse: Wir haben dieses Budget und dürfen nicht drüber gehen. Das strahlt dann in alle anderen Bereiche der Gesetzgebung aus.
Breidenbach: Ein Budget ist ein unübersehbarer Hinweispfosten, wonach es zu handeln gilt. Wohingegen wir uns immer noch mit prozentualen Minderungen durchhangeln, die keine Referenz nehmen auf das, was wir wirklich dürfen.
Nesselhauf:Der IPCC hat gerade erst gesagt: 3,6 Milliarden Menschen sind hoher Verletzbarkeit durch den Klimawandel ausgesetzt. Der Bericht nennt 127 Risiken, die neu oder erhöht durch den Klimawandel auftreten. Dieses Ausmaß ist offensichtlich noch nicht in der Politik angekommen. Anders ist nicht erklärbar, dass so wenig passiert.
Sie schreiben, ein solches Gesetzespaket sei auch eine Frage der Glaubwürdigkeit, ob Deutschland wirklich das 1,5-Grad-Ziel einhalten wolle. Wie meinen Sie das?
Breidenbach: Genau so. Wenn wir das tun, sind wir glaubwürdig, dass wir am Ziel festhalten wollen.
Nesselhauf: Emissionsziele setzen voraus, dass man am Restbudget orientiert Politik betreibt. Es ist eine Frage der Glaubwürdigkeit, das Budget so weit runterzubrechen und zu sagen, daraus folgen Maßnahmen A, B und C – diesen Plan gibt es bisher seitens der Politik nicht.
CO2-Bepreisung wirksam werden lassen
Schauen wir in die Details. Da findet sich beispielsweise eine Neuordnung der CO2-Bepreisung in Form eines Handelssystems, das in vier Sektoren aufgeteilt ist. Wieso diese Lösung, wo es doch bereits eine CO2-Bepreisung gibt?
Nesselhauf: Wir haben heute zwei für Deutschland relevante Systeme: auf europäischer Ebene für die Bereiche Energie und Industrie und national einen Brennstoffemissionshandel für Gebäude und Verkehr. Darum haben wir an beiden Systemen angesetzt. CO2-Bepreisung an sich ist ein sehr kosteneffektives Mittel, weil es Emissionen zuerst dort reduziert, wo es wirtschaftlich ist und geringe Kosten verursacht. Das ist dann ein geniales Instrument, wenn die Menge der noch auszugebenden Zertifikate am Restbudget ausgerichtet ist. Wenn man das macht, kann man Emissionen sehr zielgenau über Sektoren hinweg absenken. Das Problem: Das funktioniert derzeit überhaupt nicht. Wie viele Zertifikate auf den Markt kommen, ist politische Verhandlungssache. Die Preisanreizwirkung funktioniert so nur unzureichend. National ist es kein echter Handel, weil die Menge nicht gedeckelt ist. Wichtigster Punkt für uns: Das System muss am Budget ausgerichtet sein. Dann haben wir noch den Anwendungsbereich ausgeweitet, einen Grenzausgleich vorgesehen und Übergangsleistungen für Unternehmen und auch Bürgerïnnen, um soziale Härten abzufangen.
Breidenbach: Wir reiten auf den Schultern vieler kluger Experten, die sich darüber Gedanken gemacht haben. Zertifikate haben eine beinharte Logik. Wenn es keine Zertifikate mehr gibt, kann man nichts mehr ausstoßen. Wenn Sie auf die Verfassungsgerichtsentscheidung schauen, und Sie versetzen sich in ein Unternehmen: Diese Begrenzungen machen mache Planung schon nicht mehr wirtschaftlich. Bei vorausschauender Risikovorsorge – im Aktienrecht Pflicht – müssen Sie das als das größte Risiko fürs Geschäftsmodell einbeziehen.
Benachteiligt das nicht die heimische Wirtschaft, solange ein solches System nicht global in Kraft ist?
Nesselhauf: Innerhalb Europas können wir nicht an Grenzen Abgaben erheben, an Außengrenzen schon. Wir haben unser System am Mehrwertsteuerausgleich orientiert. Im Prinzip geht es so: Wer von außen CO2-intensive Produkte importiert, zahlt eine Ausgleichsabgabe.
Gibt es weitere Ansätze, die Wirtschaft zu unterstützen?
Nesselhauf: Wir wollen die öffentliche Hand über alle Sektoren verpflichten, klimaneutrale Produkte zu kaufen. Dadurch schaffen wir einen Absatzmarkt in Deutschland oder der EU.
Breidenbach: Dazu müssen wir zum Beispiel Vergaberichtlinien anpassen. Heute werden Aufträge nicht nach Klimagesichtspunkten vergeben. Schlüssel für Kosten der Wirtschaft ist zudem der Energiebereich. Entgegen allen Versuchen das zu ideologisieren, sind erneuerbare Energien günstiger und besser. Das Einzige, was im Weg steht, sind Vorschriften, die andere Energiearten subventionieren. Wenn man die streicht, werden laut Umweltbundesamt 50 Milliarden Euro frei.
Nesselhauf: Immer wird sofort von Risiken und Belastungen gesprochen, aber es entstehen neue wirtschaftliche Chancen und Innovationen. Außerdem wissen wir: Jeden Euro, der jetzt nicht in Klimaschutz geht, zahlen wir doppelt und dreifach, weil wir Klimafolgeschäden erleiden werden.
Energiegesetzbuch und Erneuerbare-Energien-Agentur
Stichwort erneuerbare Energien: Ein neues Energiegesetzbuch soll für 100 Prozent erneuerbare Energien bis 2035 sorgen. Was sind dessen Eckpunkte?
Breidenbach: Das Energiegesetzbuch ist eine Roadmap, wie es aussehen könnte. Wir brauchen Änderungen von Tausenden von Vorschriften, das ist ein wirklich komplexer Bereich. Zwei große Bereiche liegen für uns darin: Erstens lokale Energiegemeinschaften mit lokal produzierter Energie, für ein Haus, ein Quartier, ein Unternehmen, ein Gewerbegebiet. Unser Vorschlag: Räumt die Kosten und die Bürokratie aus dem Weg und lasst die lokalen Energiegemeinschaften Modelle probieren und durchsetzen. Wenn wir so die günstige Energie nicht künstlich verteuern, werden die Modelle schnell aus dem Boden sprießen. Erste Unternehmen gibt es schon, die die unterschiedlichsten Modelle vorbereiten. Das könnte etwa ein Drittel der Energie abdecken, die wir brauchen.
Und zweitens reicht der Zubau der erneuerbaren Energien natürlich bei weitem nicht, wir sagen nicht 200, sondern 600 Gigawatt Zubau allein Solarenergie. Dazu braucht es Planung, aber mit marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten. Wir brauchen eine digitale Karte der Republik, einen digitalen Zwilling mit allen bestehenden Anlagen, geplanten Vorhaben, den Stromnetzen et cetera. Darauf kann eine Flächenplanung Prioritäten setzen, die dann den Kommunen überantwortet werden. Diese Bauten werden bundesweit von einer neuen Behörde ausgeschrieben – der Erneuerbare-Energien-Agentur. Mit besten Leuten, digital orientiert, die ein Transformationsprojekt von solchem Ausmaß durchziehen. Die EEA nimmt die Ausschreibungen vor: für die Projektierung, den Bau und den Betrieb. Das könnte den enormen Zuwachs beschleunigen, den wir brauchen.
Nesselhauf: Die Finanzierung erfolgt dazu aus einem Generationengerechtigkeitsfond bei der KfW, mit Kapitalgarantie durch den Bund, da kann jeder Geld anlegen. Der Fond bekommt das Geld über die Laufzeit der Anlagen zurück. Im Ergebnis sinken Energiepreise und wir brauchen keine Förderung.
Welche Aufgaben hätte die von Ihnen erdachte Erneuerbare-Energien-Ausbauagentur sonst noch?
Nesselhauf: Sie steuert die bedarfsorientierte Entwicklung – was brauchen wir, wenn wir vollständig auf erneuerbare Energien umsteigen? Nicht nur das heute Bekannte, auch den Verkehr elektrifizieren, bei Gebäuden, wo heute Öl und Gas genutzt werden, … das ist eine sehr komplexe Rechnung. Aber der Strombedarf wird steigen. Was wir sehen: Es gibt keine bedarfsorientierte Planung. Es gibt Studien, aber die Bundesregierung hat nicht auf Basis realistischer Werte geschaut, wie groß der Bedarf ist, um daran Ausschreibungsgrößen festzulegen. So werden wir es nicht schaffen, auf die wirklich erforderlichen Mengen zu kommen.
Planungssicherheit für die Wirtschaft
Ein anderes Schlüsselelement zur Nachhaltigkeit ist die Kreislaufwirtschaft. Wie wollen Sie die voranbringen?
Nesselhauf: Maßnahmen sind beispielsweise Quoten für Recycling, beispielsweise von Kunststoffen in Produkten, Reparaturrechte stärken, Pfandsysteme etwa für elektronische Geräte. Außerdem die Überlegung: Wie kann man Produkte noch weiter einsetzen? Zum Beispiel alte Autobatterien als Stromspeicher.
Bleiben wir bei der Wirtschaft. Ist es realistisch, ab sofort nur noch klimaneutrale Neubauten von Industrieanlagen zu genehmigen – und besteht nicht die Gefahr, dass Produktionsstätten dann im Ausland errichtet werden?
Nesselhauf: Das Bundesverfassungsgerichtsurteil bedeutet perspektivisch, dass die Anlagen zumindest auch mit klimaneutralen Technologien betrieben werden können müssen. Alles andere würde gravierende Fehlinvestitionen nach sich ziehen, wenn die Anlagen sonst in zehn Jahren nicht mehr betrieben werden können.
Trotzdem könnte eine Firma in einem Land produzieren, wo sie ihr Werk noch 30 Jahre betreiben darf.
Breidenbach: Dann dürfen sie diese Produkte halt nicht mehr hier verkaufen.
Nesselhauf: Es ist zudem sehr unklar, wie groß das Risiko von sogenanntem carbon leakage wirklich ist, weil der Kostenfaktor ja nicht die einzige Grundlage für Standortentscheidungen ist. Die Wirtschaft ist an vielen Stellen deutlich weiter als die Politik. Gerade energieintensive Zweige haben sich längst auf den Weg gemacht und wünschen sich jetzt Planungssicherheit. Das ist viel besser als eine Vollbremsung in zwei oder drei Jahren. Die wäre für die Wirtschaft eine Katastrophe, weil sie viel Geld in Technologien gesteckt hätte, die sie nicht mehr nutzen kann.
Verbot von Neuzulassungen von Verbrenner-Fahrzeugen
Ein weiterer großer Energiesektor ist der Verkehr. Bereits ab 2025 sollen laut Ihrem Entwurf keine Pkw und ab 2035 keine Lkw mehr mit Verbrennungsmotor erstzugelassen werden. Wie wollen Sie davon Bürgerïnnen und Logistikbranche überzeugen?
Nesselhauf: Ganz einfach: Es macht Sinn. Erstens wenn man anfängt zu rechnen: Wenn wir bis 2035 klimaneutral werden müssen und Pkw zehn Jahre gefahren werden – dann müsste man die 2035 verschrotten, das macht keinen Sinn. Zweitens: Der Preis für fossiles Benzin und Diesel wird immer teurer werden durch die CO2-Bepreisung. Auch aus Gründen des Verbraucherschutzes ist das Verbot daher sehr sinnvoll. E-Autos sind gerade noch relativ teuer. Diejenigen, die auf Pkw und finanzielle Unterstützung bei der Anschaffung angewiesen sind – zum Beispiel wo der ÖPNV noch nicht gut genug ist –, die wollen wir mit einer zielgerichteten und einmaligen Prämien unterstützen – mit der Wahl ob fürs E-Auto oder E-Bike. Da muss niemand abgehängt werden.
Guter ÖPNV – wie findet sich Unterstützung für ÖPNV und Bahn im Gesetzespaket wieder?
Nesselhauf: Auch hier wird bislang nicht bedarfsorientiert geplant. In allen europäischen Ländern gibt es eine Institution, die schaut, wie wollen wir Fernverkehr gestalten, auch in der Fläche, nicht nur zwischen Berlin und Köln? Die Bahn agiert derzeit eigenwirtschaftlich. Über 200 Bahnhöfe haben in den letzten Jahren ihre Fernverkehrsanbindung verloren. Es ist extrem schwierig, in den betroffenen Städten und Regionen aufs Auto zu verzichten. Wir wollen daher ein Deutschlandtaktgesetz und darin bestimmte Mindestanforderungen gesetzlich verankern, weil eine Bahnanbindung zur Daseinsfürsorge des Bundes zählt. Für den ÖPNV sind Länder und Kommunen zuständig. Der Bund kann aber die Finanzmittel der Kommunen dafür stärken, dazu haben wir auch Vorschläge gemacht.
Breidenbach: Ein paar Dinge gehören zu guten Lebensbedingungen, und eine solche Mobilität ist das. Wenn wir das nur nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten beurteilen, haben wir ein Stück dieser Lebensqualität eingebüßt.
Architektenbund stützt Pläne fürs Bauwesen
Welche Eckpunkte sollen gesetzlich im Bausektor verankert werden? Wie lässt sich hier die Klimaneutralität schneller erreichen?
Nesselhauf: Das sind zwei große Komplexe: Wir müssen Gebäude viel stärker dämmen, viel Energie geht derzeit verloren. Der anderer Komplex: Wir müssen die Heizsysteme austauschen. Ein großer Teil nutzt immer noch Öl- und Gasheizung. Klimaneutral ist so nur mit riesigem Aufwand möglich. Darum müssen wir auf Wärmepumpen umsteigen mit grünem Strom.
Breidenbach: Und wenn wir von Dämmung reden, dann nicht Styropor. Das kommt aus fossilen Rohstoffen.
Nesselhauf: Mit nachhaltigen Baustoffen bauen. Es ist wichtig, jetzt nachhaltige Materialien zu verwenden und Bauabfälle zu recyclen.
Breidenbach: Häuser nicht abreißen, sondern wiederverwenden. Der Bund Deutscher Architekten hat sich komplett hinter unsere Vorschläge gestellt. Ein paar würden sie diskutieren, aber auch die tragen sie mit.
In ihrem Entwurf finden sich auch die bauliche Teilung von Einfamilienhäusern und Baugenehmigungen nur mit Rückbaukonzept. Ist die Gesellschaft dafür reif?
Breidenbach: Das ist ganz klar einer der schwierigsten Sektoren. Diesen Tanker in Bewegung zu setzen, die Firmen zu finden, die das planen und umsetzen – das muss man ausweiten, viel mehr Leute ausbilden, Gewerke, die früher getrennt waren, zusammenlegen.
Nesselhauf: Ich glaube, dass es vielen Leuten einleuchtet, Rückbaupläne auszuarbeiten, sofern sie entsprechende Unterstützung erhalten. Aber bei der Flächenreduzierung kommen wir nicht mit gesetzlichen Maßnahmen weiter, sondern brauchen einen Bewusstseinswandel in der Bevölkerung. Wir schreiben auch keine Fläche pro Person vor, sondern arbeiten mit Anreizen. Es gibt viele Menschen, die alleine in großen Häusern wohnen, weil sie den Umzug nicht schaffen oder sonst höhere Mieten zahlen müssten. Aber auch für teilbare Häuser oder Wohnungstausch gibt es schon Modelle.
100 Prozent Ökolandbau und CO2-Zertifikate für Tierprodukte
Der Landwirtschaft schreiben Sie 100 Prozent Ökolandbau bis 2035 vor – was soll sich noch ändern?
Nesselhauf: Die Landwirtschaft ist wegen Methan und Lachgas sehr wichtig, weil diese Gase deutlich klimaschädlicher sind als CO2. Zwei Drittel der Emissionen stehen direkt im Zusammenhang mit der Tierhaltung, vor allem durch den Methanausstoß durch Kühe und die Ausbringung von Gülle. Wir müssen zwei Probleme angehen: Insgesamt die absolute Menge Treibhausgase zu senken und zugleich für eine Dekonzentration der Tierhaltung zu sorgen. Wo regional zu viel Gülle ausgebracht wird, entstehen hohe Stickstoffemissionen. Wir haben einen Emissionshandel für die Landwirtschaft entwickelt: Schlachthöfe und Molkereien müssen für Produkte Zertifikate kaufen, die begrenzt sind. Und wir entzerren die Tierhaltung durch eine Flächenbindung. Das ist im Ökolandbau längst Standard: Nur so viele Tiere auf einer Fläche, wie diese Fläche ernähren und die Gülle ohne Stickstoffüberschuss aufnehmen kann.
Breidenbach: Wir haben uns ja aufs Klima konzentriert, aber man sieht, dieser Bereich ist auch sehr eng verzahnt mit ökologischen Kriterien, Wasserschutz, Umweltschutz. Es gibt viele Wasserwerke, die Prämien zahlen, damit Gülle nicht ausgebracht wird, weil Trinkwasser sonst für kleine Kinder oder werdende Mütter nicht mehr eingesetzt werden dürfte.
Nesselhauf: Der Landwirtschaftsbereich zeigt: Wir haben viel Lebensqualität zu gewinnen, wenn wir klimaneutral werden. Das sieht man auch in anderen Bereichen, zum Beispiel beim Verkehr, wo in verkehrsberuhigten Innenstädten wieder Kinder spielen können.
Wie geht es nach Ihrer Vorstellung nun weiter mit dem Gesetzespaket?
Breidenbach: Würden Sie die Frage bitte der Bundesregierung und dem Parlament stellen? Wir können ja nur Vorschläge machen, wir sind eine zivilgesellschaftliche Bewegung. Natürlich betreiben wir Lobbyarbeit fürs Klima, aber umsetzen können wir es nicht.
Nesselhauf: Wir haben das Gesetzespaket allen politischen Fraktionen übergeben, es kann keiner sagen: Wir kennen es nicht.
Breidenbach: Wenn wir in ein paar Jahren zurückschauen, können wir sagen: Sie hatten es auf dem Tisch. Aber das ist nicht unser Interesse. Wir wollen, dass jetzt was umgesetzt wird.