Klima-Kolumne: Wie soziale Kipppunkte uns im Kampf gegen die Klimakrise helfen
Das Zeitfenster, das uns bleibt, um den Klimawandel zu stoppen, schließt sich rapide. Doch das Konzept der sozialen Kipppunkte gibt Hoffnung. Bereits eine kleine engagierte Minderheit kann tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen anstoßen, den Klimaschutz voranbringen.
Als ich vergangene Woche den finalen Teil des neuen Weltklimaberichts gelesen hatte, wollte ich mich am liebsten direkt ins Bett legen, die Augen schließen und mir vorstellen, das alles beträfe mich nicht. Das Zeitfenster, das uns bleibt, um den Klimawandel zu stoppen, schließt sich rapide. Das Ziel, die Erderwärmung auf 1, 5 Grad zu begrenzen, ist kaum noch erreichbar. Wenn ich jemals Kinder bekommen sollte, werden sie wahrscheinlich in einer Welt leben, die man niemanden wünschen mag. Hallo, Zukunftsangst!
Zur gleichen Zeit blockiert die FDP Klimaschutzmaßnahmen wie das Tempolimit, die Bundesregierung will vor Rügen ein Terminal für Flüssigerdgas bauen und die US-Regierung hat das große Ölbohr-Projekt Willow in Alaska genehmigt. Bye-bye, Klimaschutz!
Manchmal verliere ich angesichts der aktuellen Entwicklungen den Mut, würde am liebsten nicht mehr über die Klimakrise schreiben, das Thema einfach ignorieren. Ganz ehrlich: Wie sollen wir es bei all den fatalen politischen Entscheidungen bitte schaffen, die Emissionen bis 2030 um die Hälfte zu senken?
Soziale Kipppunkte in der Klimakrise
Es gibt jedoch etwas, das mir derzeit aus dem pessimistischen Gedankenstrudel heraushilft: das Phänomen der sozialen Kipppunkte – ein realer Mechanismus, der in allen menschlichen Gesellschaften zu beobachten ist. Er funktioniert in etwa so: Eine Tasse steht am Rand einer Tischkante. Schiebt man sie mit dem Finger voran, passiert erstmal nichts. Doch irgendwann kommt dann ein Punkt, der Kipppunkt eben, an dem die Tasse zu Boden fällt.
Eines der bekanntesten historischen Beispiele für das Auftreten von Kipppunkten ist die Frauenbewegung. Eine kleine Minderheit von Aktivistinnen stieß im 19. Jahrhundert eine Bewegung an, der es gelang, die Gesellschaft nachhaltig zu verändern – weltweit. Die Frauen kippten eine jahrhundertealte Geschlechterordnung, die den meisten ihrer Zeitgenossen und -genossinnen so unumstößlich wie ein Naturgesetz erschien. Allerdings brauchten sie dazu Jahrzehnte; erst um die Wende zum 20. Jahrhundert führten die ersten Länder das Frauenwahlrecht ein. Und völlige Gleichberechtigung ist bis heute nirgendwo erreicht.
Eine kleine Minderheit reicht aus, um die Mehrheit zu bewegen
Normen und Werte ändern sich eben nur sehr langsam – diese Erfahrung macht zurzeit auch die Klimabewegung. Die politischen und gesellschaftlichen Widerstände etwa gegen eine konsequente Energiewende erscheinen oft unüberwindbar. Aber das muss nicht so bleiben. Allein das Sprechen über ein bestimmtes Anliegen beeinflusst Menschen in ihren sozialen Normen, bestenfalls in ihrem Verhalten. In der Psychologie nennt man das auch „soziale Ansteckung“. Und das Gute ist: Man muss nicht jede:n überzeugen, um die Mehrheit zu bewegen.
Hans Joachim Schellnhuber, Klimaforscher und ehemaliger Direktor des Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), hat als erster das Prinzip der Kippelemente in die Klima-Forschung eingebracht. Zunächst bezogen auf die Physik: Wenn bestimmte Temperatur-Schwellenwerte überschritten werden, führt dies zu schnellen und unumkehrbaren Veränderungen des Erdklimas – dazu zählt zum Beispiel das Abschmelzen des grönländischen Eisschilds.
Aber Schellnhuber setzt auch auf die Dynamik gesellschaftlicher Kipppunkte: „Wir können die bereits angestoßenen dynamischen Kippvorgänge im Erdsystem (…) nur dann eindämmen, wenn wir gesellschaftliche Kipppvorgänge anstoßen“, sagt er. Deshalb hat er unter der Leitung der Sozialwissenschaftlerin Ilona Otto an einer Studie zu sozialen Kippelementen mitgearbeitet.
Verbreitung von Technologien, sozialen Normen, Verhaltensmuster
Diese können ohne einen vorhersehbaren Auslöser tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen anstoßen, Verhaltensmuster, Technologien und soziale Normen verbreiten. Die Autor:innen der Studie haben dafür die aussichtsreichsten Bereiche identifiziert, in denen gesellschaftliche Kippmechanismen in den kommenden Jahren möglich sind.
Zu den wirksamsten und kurzfristigsten Elementen zählen die Autor:innen die Finanzmärkte. Wenn nur neun Prozent der Finanzinvestor:innen ihr Kapital nicht mehr in die Förderung fossiler Brennstoffe lenkten, sondern damit grüne Projekte, unterstützten, könnte das den gesamten Finanzmarkt zum Kippen bringen – in nur wenigen Tagen. Das bedeutet: Bereits eine kleine Minderheit kann große Veränderungen bewirken.
Es gibt auch Kippelemente, die ihre Wirkung erst langfristig entfalten. Dazu zählt unter anderem die Klimabildung, die bereits im Kindergarten ansetzen kann, um heranwachsende Generationen aktiv über die Klimakrise aufzuklären und nachhaltiges Verhalten zu fördern. Auch neue Protestbewegungen wie Fridays for Future werden von den Forschenden zum Punkt Bildung gezählt.
Ich kann aus eigener Erfahrung bezeugen, wie wirksam Umweltbildung ist. Meine Grundschullehrerin hat uns sehr früh für Natur- und Artenschutz sensibilisiert, ist mit uns mitten in der Großstadt in Parks gegangen. Sie hat uns ihre Liebe zu Insekten, Blumen, Tieren, Bäumen vermittelt und es dadurch geschafft, mein Umweltbewusstsein zu wecken. Später im Gymnasium hat mein Geografielehrer vom Klimawandel erzählt. Gut 15 Jahre ist das jetzt her, aber wenn ich mit gleichaltrigen Freund:innen spreche, merke ich immer noch: Das war damals etwas Besonderes. Danke dafür, Herr Freitag!
Manchmal stelle ich mir vor, wie die Welt heute aussehen würde, hätten wir schon alle vor 20 Jahren die Klimakrise aktiv im Unterricht besprochen. Wahrscheinlich wären wir schon sehr viel weiter.
Klimafreundliches Verhalten stärken
Klimafreundliches Verhalten ist noch längst nicht Standard, aber das kann sich ändern. Soziale Experimente haben gezeigt: Wenn sich nur 5 Prozent einer Gruppe für neue Normen und Werte entscheiden und diese konsequent nutzen, passen sich andere an – und verstärken den Kipp-Prozess.
Ich bin immer wieder erstaunt, wie viel sich in den vergangenen Jahren dank Fridays for Future in Sachen Klimaschutz getan hat, zumindest im öffentlichen Bewusstsein. Die Mehrheit der Deutschen ist mittlerweile besorgt über den Klimawandel. Unternehmen setzen zunehmend auf Nachhaltigkeit – leider oft auch auf Greenwashing, aber das ist ein anderes Thema. Für 81 Prozent der jungen Deutschen ist die Haltung eines potenziellen Arbeitgebers zum Thema Klima entscheidend für die Jobauswahl, wie eine aktuelle Umfrage der Europäischen Investitionsbank zeigt.
Dass dieser Bewusstseinswandel sich auch in konkreten Handlungen niederschlägt, stelle ich auch in meiner Umgebung fest. Jedes Mal, wenn ich einen Supermarkt betrete, sehe ich neue Fleischalternativen im Regal stehen. Immer mehr Menschen setzen auf erneuerbare Energien. Allein in meiner Nachbarschaft wurden in den vergangenen Monaten mehrere Solarzellen an Balkone geschraubt. Eine entsprechende Förderung gibt es von der Stadt Berlin. Selbst meine über 70-jährigen Eltern sympathisieren offen mit der Letzten Generation. Was Schnellnhuber als sich selbst verstärkende Dynamik in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft bezeichnet, die von Kippelementen ausgelöst wird – ich zumindest kann sie definitiv erkennen.
Immer mehr Menschen bringen Veränderungen voran. Irgendwann ist eine kritische Masse erreicht, und dann reicht ein kleiner Auslöser, ein kleiner Schubs, um die Tasse über die Tischkante zu schieben, das große Ganze zum Kippen zu bringen. Ich finde das motivierend – und blicke trotzdem weiterhin besorgt und auch mit Wut auf die fehlenden Klimaschutzmaßnahmen. Die Zeit drängt, die Zukunftsangst bleibt. Immerhin: Auch das Schreiben über die Klimakrise beeinflusst soziale Normen, bewegt zum Handeln – ein Grund für mich dranzubleiben.