Szenario 2030: Wie wir uns so ernähren können, dass Klima und Natur sich regenerieren

Zurück zur Weidewirtschaft, aber mit Hilfe neuer Technologien: Was Bäuerin Karla in einer gar nicht so fernen Zukunft anders macht als heute

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Kühe grasen auf der Weide

Nehmen wir an, es träte ein überraschender Fall ein: Die deutsche Politik macht bei den bevorstehenden UN-Gipfeln zu Klima- und Naturschutz nicht nur neue Versprechen, sondern setzt diese bis zum Jahr 2030 auch konsequent um.

Wie würde Deutschland dann aussehen, was wäre anderes, wie würde unser neuer Alltag aussehen? In der Reihe „Szenario 2030“ beschreiben wir, was eine ökologische Zukunft konkret bedeuten würde – auf Grundlage aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse. In Teil 1 geht es um die Landwirtschaft. Die Nahrungsproduktion nimmt riesige Landflächen in Anspruch und gilt als eine der Hauptursachen von Erderhitzung und Artensterben. Wie können wir Natur und Klima schonen und gleichzeitig noch mehr Menschen ernähren?

2030: Der neue Alltag von Bäuerin Karla

Karlas erster Blick am Morgen richtet sich wie immer auf das Display ihrer Smartwatch. Kurz kontrolliert sie, ob ihre Roboter wie vorgesehen das Unkraut und die Nacktschnecken auf den Kürbisfeldern entfernen. Glücklicherweise sieht heute alles tiptop aus. Das ist nicht immer der Fall: weil Karlas Gemüsefelder teilweise auf Hügeln liegen, bleibt der „Kano“ manchmal aufgrund der Steigung stecken.

Der kastenähnliche Roboter hängt dann mit durchdrehenden Rädern und wild fuchtelnden Greifarmen in Kürbisschlingen oder einem Erdhaufen fest. Dann muss Karla wohl oder übel hinaus aufs Feld und der Maschine aus ihrer misslichen Lage helfen. Zwar machen viele technische Helferlein den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln weitgehend überflüssig und die Produktion von Lebensmitteln damit tier- und pflanzenfreundlicher ­– doch leider sind die Roboter noch immer nicht für jeden Standort geeignet.

Heute aber läuft alles wie vorgesehen. Karla atmet erleichtert durch – und folgt ihrem Plan. Sie transportiert die letzte spätsommerliche Tomatenernte und frische Rote Bete an deren Bestimmungsort – in die Stadt. Eine Aufgabe, die sie als Landwirtin und Bäuerin besonders gerne macht: Die Nahrung, die sie produziert, direkt zu den Menschen zu bringen, findet sie befriedigend.

Die Landschaft wird wieder ein Mosaik

Kurz nach dem Frühstück steigt Karla in ihren E-Lastwagen und fährt los. Ihr Hof liegt im ländlichen Franken, sie fährt in die nächste mittelgroße Stadt, um das Gemüse abzuliefern. Auf den ersten Kilometern durchquert sie ihre eigenen ausgedehnten Ländereien, die typisch sind für die „Neue Landwirtschaft“, die in den 2020ern entstanden ist. 

Anders als noch vor wenigen Jahren, als riesige Monokulturen von Mais oder Getreide quer durch Deutschland das häufigste sichtbare Merkmal landwirtschaftlicher Tätigkeit war, ist die Landschaft inzwischen wieder viel kleinteiliger. Von oben sehen ihre Ländereien aus wie ein Mosaik aus Feldern, Wiesen und Weiden, umsäumt von kleinen Waldstücken und Blühstreifen, auf denen eine insekten-, vogel- und hasenfreundliche Mischung von Wiesenkräutern und Stauden wächst.

Weidetiere stehen in ganz Deutschland dort, wo es auch viel Gras gibt – denn Sojaimporte aus Übersee für das Kraftfutter gibt es nicht mehr.

Wie hoch der Anteil von Wald oder Feld ist, ist je nach Region sehr unterschiedlich: In Schleswig-Holstein sind die Böden und das Wetter anders als in Franken, in den Alpen anders als in Brandenburg. Endlich passen sich nun die Landwirte an die Landschaftsstrukturen an, nicht umgekehrt. Sie müssen in der Folge weniger düngen, weniger Pestizide ausbringen und nutzen die natürlichen Gegebenheiten, um eine Kreislaufwirtschaft in Schwung zu halten. 

Der wichtigste Schritt dazu war es, Tiere nicht mehr ganzjährig in Ställen zu halten und mit Kraftfutter heranzuziehen, sondern nur noch so viele Fleisch zu produzieren, wie durch Beweidung in Deutschland entstehen kann. Diesen Schritt haben die Landwirte in der EU nicht freiwillig vollzogen. Die Regierungen haben diese “Flächenbindung” verfügt, weil sie ihre vertraglichen Pflichten für Klima- und Naturschutz aus den UN-Abkommen einhalten wollten und auch mussten – sonst hätten sie es sich mit dem Wahlvolk verscherzt. Zudem haben Bund und Länder die EU-Agrarreform konsequent umgesetzt und Zahlungen aus Steuermitteln maximal an ökologische Praktiken geknüpft. 

Der Sojaimport aus Südamerika ist beendet

Karla hält mit dem Lastwagen kurz am Weidezaun an und schaut ihren Tieren beim Grasen zu. Sie hat nur eine kleine Herde Rinder und einige Hühner. Ihre Ländereien liegen überwiegend auf fruchtbaren, nährstoffreichen Böden. Solche Böden sind wertvoll, recht selten und deshalb zu schade für Weiden – dafür sind sie perfekt geeignet für Gemüseanbau.

Weidetiere stehen in ganz Deutschland dort, wo es auch viel Gras gibt – denn Sojaimporte aus Übersee für das Kraftfutter gibt es nicht mehr. Die Ernährung einer riesigen Anzahl von Tieren in Europa kostete zuletzt sehr viel Land – Flächen, auf denen früher zum Beispiel wertvoller Regenwald in Brasilien wuchs. Heute bekommen Tiere in Deutschland das zu fressen, was es hier gibt oder eben umweltfreundlich importierbar ist. 

In anderen Gegenden wie dem Alpenraum ist die Weidewirtschaft wieder aufgeblüht, denn man kann mit Milchprodukten gutes Geld verdienen. Gras ist hier das einzige Grün, mit dem sinnvoll Kalorien für Menschen erzeugt werden können – indem Rinder und Schafe, die Gras problemlos als Nahrung verwerten können, es fressen.

Explosion der Kiebitzbestände

Dies ist die vielleicht offensichtlichste Veränderung, die den Wandel der Landwirtschaft in den letzten Jahren anzeigt: Die Tiere sind wieder sichtbar. Sie können nicht mehr versteckt in Ställen mit Soja aus Brasilien gemästet werden. Dessen Import ist unbezahlbar geworden, seit die Kosten von CO2-Emissionen und Naturzerstörung als Importzölle aufgeschlagen werden. 

Eine moderne, mit Technologie umgesetzte Weidewirtschaft ist die normale Haltungsform für Nutztiere.  So haben sie nicht nur ein artgerechteres Leben als in Mastställen – bei richtiger Umsetzung sind die Tiere auch weniger krank und benötigen weniger Medikamente.

Inzwischen machen sich an vielen Orten dort, wo sich Anfang der 2020er noch grüne Monokultur erstreckte, wieder Blumenwiesen breit.

Auf den Weiden kommt die Artenvielfalt zurück – von der Fauna der Kuhfladen, die nicht länger an Tiermedizin stirbt, bis zur Blumen- und Vogelwelt, die mit extensiven Weiden einhergeht. Die Bestände von Kiebitz, Brachvogel und Braunkehlchen sind regelrecht explodiert – zur Freude der vielen Naturbeobachterinnen und -beobachter, die gutes Geld aufs Land bringen. Zudem steht viel Landschaft zur Verfügung, um Flächen auf Moorböden wieder zu renaturieren. Das trägt erheblich dazu bei, Kohlendioxid-Emissionen zu senken.

Nutztiere sind wieder sichtbar und werden von Drohnen gehütet

Karla freut sich über etwas anderes: Ihre kleine Mutterkuhherde aus robusten Angusrindern labt sich eineinhalb Kilometer vom Hof entfernt am spätsommerlichen Gras. Die dunkelbraunen, kompakten Angusrinder kommen gut das ganze Jahr draußen zurecht, kalte Temperaturen machen ihnen nichts aus. Kein Zaun begrenzt die Tiere – Drohnen lenken sie sanft zu den saftigen Weiden, auf denen sie fressen sollen.

Dass Nutztiere im Jahr 2030 wieder viel häufiger im Landschaftsbild vorkommen als noch vor 15 Jahren und wieder mehr wahrnehmbar für viele Menschen sind, täuscht darüber hinweg, wie stark ihre Zahl gesunken ist. 2030 gibt es im Vergleich zu 2020 nur noch ein Viertel der Nutztiere.

Im Jahr 2020 wurden 60 Prozent aller landwirtschaftlichen Flächen für den Anbau von Futtermitteln für die Tiere gebraucht. Nur auf 20 Prozent bauten Landwirte pflanzliche Lebensmittel für den menschlichen Konsum an. Dass im Jahr 2030 viel weniger Nutztiere für den Fleischkonsum gehalten werden als früher schafft viel mehr Platz für den Anbau pflanzlicher Lebensmittel – und für Naturschutz. Zudem fällt so die Überlastung der Böden durch zu viel Gülle weg.

Noch vor wenigen Jahren waren viele Flüsse, Böden und Naturschutzgebiete überlastet von dem Überangebot an Nährstoffen, die in Form von Gülle aus den riesigen Ställen flossen. Die Vielfalt der Pflanzenwelt litt massiv darunter, und als Konsequenz auch die Vielfalt der Insekten. Inzwischen machen sich an vielen Orten dort, wo sich Anfang der 2020er noch grüne Monokultur erstreckte, wieder Blumenwiesen breit, auf denen es im Frühjahr und Sommer summt und brummt. 

Ein Gemüsegarten auf einem Dach vor de Silhouette von Brüssel, zwei Männer gärtnern.
Stadtfarmen gibt es schon heute an vielen Orten, wie hier in Brüssel. In Zukunft könnten sich Städte zu einem wachsenden Teil selbst ernähren.

Die Voraussetzung für die Neue Landwirtschaft war eine veränderte Haltung von Politik, Bevölkerung und den Landwirten selbst zu Konsum und Ernährung.

Karpfen vom Dach

Wie tiefgreifend die Veränderung war, erlebt Karla, als sie an diesem Tag bei dem großen Supermarkt in der Stadt ankommt, mit dem sie einen dauerhaften Abnahmevertrag für ihr Obst und Gemüse abgeschlossen hat. Der Supermarkt befindet sich in einer ehemaligen Lagerhalle, auf dem Dach glitzern riesige Glasflächen in der Sonne, hie und da durchbrochen von grünen Blättern. Der Supermarkt baut einen Teil seines Angebots selbst an – in einem 2500 Quadratkilometer großen Gewächshaus auf dem Dach.

Anfang der 2020er war Urban Farming erst ein Trend, inzwischen ist es normal. Supermärkte ohne Dachgärten gelten als Baulücken. Der Anteil der Lebensmittel, den Städte zur Eigenversorgung produzieren, ist deutlich gestiegen. 

Dies ist zwar mitunter ein komplexes Unterfangen. Denn mit ein paar Stadtgärten oder Tomatensträuchern auf dem Balkon ist noch lange keine Ernährungsgrundlage für Hunderttausende Menschen geschaffen. Auch im Jahr 2030 braucht die Erzeugung von Lebensmitteln in ausreichender Menge noch immer große Flächen. Doch Urban Farming trägt einen stattlichen Teil zur Lebensmittelversorgung bei. 

Die Wende kam, als statt der Großkonzerne gemeinnützige Stiftungen die Entwicklung von gentechnisch verändertem Saatgut übernahmen

Salate, Kräuter, kleine Obstbäume und Karpfen – all das sind Lebensmittel, die auf dem Dach angebaut und gezüchtet werden können. Viele Pflanzen sind aber leider nicht geeignet. Zum Beispiel Rote Bete, deren Wurzeln einen sehr tiefen Boden brauchen. Das Dach kann nur eine bestimmte Menge Erde tragen, für tiefwurzelnde Pflanzen reicht diese nicht aus. Auch ist es schwierig, unter den Bedingungen auf dem Dach die Erde fruchtbar zu halten – vor allem ohne die Nutzung mineralischen Düngers.

Umdenken in der Umweltbewegung

Im Jahr 2030 gelingt die Bewältigung solcher Herausforderungen durch moderne Gemüsesorten und neu entwickelte Anbaumethoden immer besser. Die neuen Anbaumethoden sind häufig eine Kombination aus sehr alten Verfahrensweisen mit neuer Technologie. Zum Beispiel gibt es einerseits weite, auf die Böden abgestimmte Fruchtfolgen, damit die Böden fruchtbar bleiben – eine alte Tradition. Viele Landwirte arbeiten zugleich mit gentechnisch veränderten Pflanzensorten, die sowohl resistent gegen Dürren sind als auch gegen Schädlinge. Trotz erschwerter Bedingungen und heftiger Wetterphänomene werfen sie einen guten Ertrag ab.

Es war für Umweltschützer mühsam, sich dem Anbau genetisch veränderter Pflanzen zu öffnen. Die Wende kam, als statt der Großkonzerne gemeinnützige Stiftungen die Entwicklung von gentechnisch verändertem Saatgut übernahmen und dieses open source zur Verfügung stellten. So entstand ein neuer Konsens, ausgehend von einer simplen Einsicht: Die Zahl der Menschen wächst, und alle müssen ernährt werden, aber die Umweltbelastung muss stark schrumpfen. 

Mehr Wertschätzung, weniger Müll

Der Supermarkt ist aufgrund seines Ackers auf dem Dach ein kleines Erlebniszentrum für Familien geworden: Als Karla ihren Laster parkt, kommt sie an einer Gruppe von Kindern im Grundschulalter vorbei. In einem kleinen, abgetrennten Abteil des Gewächshauses können Kinder ihre eigenen Salatpflanzen einsetzen, hegen und schließlich ernten. Auch aufgrund solcher Projekte wissen die Menschen im Jahr 2030 mehr über Lebensmittel. Sie können eine Pastinake von einer Möhre unterscheiden und wissen, dass Rosenkohl ein Wintergemüse ist, Erdbeeren hingegen nur im Sommer reif werden. 

Indem die Menschen zur jeweiligen Jahreszeit das essen, was ihr entspricht, können Wasser, Strom und andere Ressourcen bei Produktion und Transport eingespart werden. Auch hat sich die Wertschätzung der Menschen verändert, was zu der wohl relevantesten Veränderung für den Naturschutz geführt hat: Sie werfen viel weniger weg. Noch im Jahr 2019 landeten in den privaten Haushalten Deutschlands  mehr als sieben Millionen Tonnen Lebensmittel im Mülleimer. Mehr als die Hälfte davon wären noch genießbare Lebensmittel gewesen. Im Jahr 2030 kann diese Menge um 75 Prozent gesenkt werden. Das liegt einerseits am neuen Bewusstsein der Menschen, aber auch an Veränderungen im Handel.

Gutes Geld für gutes Essen

Als Karla ihre Kisten mit Rote Bete und Tomaten auslädt, sieht die Ware etwas anders aus als sie das vor 20 Jahren getan hat. Karla erinnert sich noch an die hohen Qualitätsanforderungen von früher: Gurken sollten am besten kerzengerade, Tomaten perfekt rund und ohne grüne Flecken sein. Rote Bete durfte keine braunen Stellen haben und möglichst gleich groß. 

Wer sich ein Steak oder Filet gönnen möchte, muss dafür deutlich tiefer in die Tasche greifen – wenn es vom echten Tier kommen soll. 

Heute kullern in den Kisten sowohl apfelgroße als auch aprikosenkleine Knollen herum. Manche sind zusammengewachsen, einige haben eine dunkle Druckstelle. Diese mindern die Qualität nicht – schließlich lässt sich eine kleine Stelle mühelos herausschneiden. Die Rote Bete-Sorte „Elsa“, die Karla anbaut, neigt zwar ein wenig zur unregelmäßigen Größe. Dafür ist sie sehr resistent gegen Schädlinge und verträgt auch mal wenig Regen. 

Der Roboter „Kano“ genügt tatsächlich, um die Pflanzen weitgehend frei von Schädlingen und Krankheiten zu halten – Karla muss keinerlei Pestizide spritzen, womit sie viele Insekten töten würde. Leon, der Einkäufer des Supermarkts, ist jedenfalls zufrieden mit der Ware. Für Karla ist das eine große Erleichterung. Sie bekommt für gute Lebensmittel einen guten Preis. Und auch auf ihrem Hof entsteht viel weniger Müll, da sie keine Lebensmittel wegwerfen muss, weil sie optischen Kriterien nicht entsprechen.

Algen sind voll im Trend

Als Karla ihr Gemüse abgeliefert hat, geht sie noch schnell in den Supermarkt. Sie will ein paar Kleinigkeiten besorgen. Die “Neue Landwirtschaft” bringt auch Trends hervor, die sie merkwürdig findet, etwa  zum Halo-Smoothie. Halophyten sind Pflanzen, die mit einer hohen Salzkonzentration im Boden klarkommen und zum Beispiel auf Salzwiesen nahe des Meeres wachsen können. Sie benötigen kaum oder keinerlei Frischwasser. Ein Beispiel dafür ist das sogenannte Meeresgemüse Queller, das früher vielleicht in ein paar wenigen südeuropäischen Küchen Verwendung fand. 

Konzeptstudie für In-Virto-Fleisch. Eine Packung mit Schweinewürsten und Umweltlabeln, auf der Stadt: Laborfleisch
Kommt das Fleisch der Zukunft aus dem Labor, wie diese Designstudie nahelegt?

Heute liegen Gerichte aus Algen und Halophyten im Trend. Auch werden aus ihnen bestimmte Nährstoffe wie zum Beispiel Proteine extrahiert, die dann in künstliche, neue Lebensmittel eingearbeitet werden. 

Von diesen sogenannten Neo-Lebensmitteln aus Halophyten oder Insekten hält Karla nicht besonders viel. Karla ist 52 Jahre alt, im Fränkischen aufgewachsen und fühlt sich in Bezug auf Ernährung manchmal doch ein wenig altmodisch. Sie schätzt noch immer so traditionelle Gerichte wie Nürnberger Rostbratwürste – und gönnt sich diese auch. Sie nimmt einen Becher Halosmoothie in die Hand und beäugt ihn kritisch. 

Zwar ist im Smoothie auch etwas Obst, deshalb schmeckt er durchaus süß. Doch die leicht salzige Note findet Karla bislang sehr fremdartig. Sie stellt den Becher wieder zurück und geht weiter zur Fleischtheke. Sie muss nichts kaufen, denn sie erzeugt Fleisch ja selbst. Aber sie will den Besuch in der Stadt nutzen, um den Markt im Blick zu behalten.

Innereien kommen wieder auf den Teller

Sie denkt an die alten, übervollen Fleischtheken mit Billigprodukten zurück. Es gibt sie nicht mehr: Das Angebot mit Fleisch aus klassischer Nutztierhaltung ist kleiner als früher, viele Produkte sind teuer. Es gibt inzwischen wieder viel mehr Teile vom Tier im Angebot, die in den ersten zwanzig Jahren des Jahrhunderts nicht mehr so schick waren: Innereien, Hühnerfüße, Knochen für Suppen oder Fleisch zum Schmoren. Diese Fleischstücke sind verhältnismäßig preiswert.

Doch wer sich ein Steak oder Filet gönnen möchte, muss dafür deutlich tiefer in die Tasche greifen – wenn es vom echten Tier kommen soll. 

Da viel weniger Tiere zu besseren Bedingungen gehalten werden, sind die Kosten gestiegen. Karla freut sich darüber. Sie mag ihre Kühe und Hühner, steckt viel Mühe in ihre Aufzucht. Sie wünscht sich Wertschätzung für das Lebensmittel Fleisch – wenn ihre Tiere schon sterben müssen. Und sie bekommt für das Fleisch bessere Preise als früher. Deshalb wirft sie nicht mehr so viele Teile des Tieres weg, die niemand haben will.

Wer nicht ganz so viel für natürliches Fleisch ausgeben und außerdem nicht den Tod eines Tieres für seine Ernährung in Kauf nehmen will, kann nun auf ein anderes Angebot zurückgreifen. Rund 60 Prozent des Fleischsortiments besteht aus sogenanntem In-Vitro-Fleisch. Die ursprünglich aus der Medizin hervorgegangene Labortechnologie, die aus Stammzellen echte Fleischfasern wachsen lassen kann, ist im Jahr 2030 ausgereift. 

Die neuen Fleischfabriken – ohne Leid und Töten

Lange war die Produktion von Kunstfleisch noch zu teuer. Heute wächst das kultivierte Fleisch in großen Bioreaktoren heran, es benötigt nur wenige Ressourcen: Ein Bruchteil der Wassermenge, die in der Nutztierhaltung verwendet wird, so gut wie kein Land, keine Medikamente. Einige Flächen, die früher für die Tierhaltung reserviert waren, konnten inzwischen zu Naturschutzgebieten umgewandelt werden. 

Seitdem die Technologie außerdem so ausgereift ist, dass nicht nur „Fleischklopse“ entstehen, sondern auch echtes Muskelfleisch wie Steak kultiviert wird, boomt der Markt um das Kunstfleisch vollends. Karla sieht die Vorteile, trotzdem ist sie etwas skeptisch. Sie ist mit Tierhaltung aufgewachsen und wünscht sich, dass die Tradition fortbesteht – wenn auch in tierfreundlichem und kleinem Umfang. „Ob in dreißig Jahren überhaupt noch jemand Tiere töten wird für sein Stück Fleisch?“, fragt sich Karla.

Am Wochenende wird Oma zu Besuch kommen. Karla weiß, dass ihr die ewigen Gemüsegerichte auf die Nerven gehen, Kunstfleisch akzeptiert sie nicht – und mit Insektenburger braucht man ihr nun wirklich nicht zu kommen. Ihr zuliebe wird Karla Saure Lunge kochen: Geschmorte Kalbslunge mit Lorbeerblättern, Weinessig und selbstgemachten Kartoffelklößen. Ein gleichzeitig sehr traditionelles und sehr modernes Lieblingsessen. Manche Dinge ändern sich eben nie.

Im Projekt „Countdown Natur“ berichten wir mit Blick auf den UN-Naturschutzgipfel über die Gefahren für die biologische Vielfalt und Lösungen zu ihrem Schutz. Die Recherchen zu diesem Beitrag wurden von der Hering Stiftung Natur und Mensch gefördert. Sie können weitere Recherchen mit einem Abonnement unterstützen.

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