Würde für das Mar Menor – warum eine Salzwasserlagune in Europa nun vor Gericht ziehen kann
Die größte Salzwasserlagune Europas, das Mar Menor von Murcia, musste zweimal umkippen, damit seine Anwohner aufwachten. Sie haben dem „Kleineren Meer“ eine Stimme gegeben und wollen es als das schützen, was es für sie ist: eine geliebte „Person“
Dieser Artikel ist Teil unserer Recherche-Serie „Zukunft Mittelmeer – wie wir Natur und mediterrane Vielfalt bewahren“.
Prolog
Einst war ich berühmt für die Seepferdchen, die in meinen Seegraswiesen herumschwebten. Heute sind sie fort, mein klares Wasser hat sich in eine grüne Suppe verwandelt, genährt von den Düngemitteln, die der Regen von den Hügeln von Cartagena in mich schwemmt. Sie lassen die Grünalgen wuchern und nehmen mir die Luft zum Atmen. Viele Jahre habe ich sie klaglos geschluckt. Doch dann ging es nicht mehr. Mir würde übel. Ich spie tausende toter Fische und Krebstiere aus und kippte um. Ich musste sterben, damit die Menschen zur Besinnung kamen.
Die Anzeichen waren mehr als deutlich. Schon 2016 war das Mar Menor – wörtlich das „kleinere Meer“ (neben dem größeren Mittelmeer) – in einem miserablen Zustand. Das Algenwachstum hatte aufgrund der Überdüngung so stark zugenommen, dass es zu einem akuten Sauerstoffmangel im Wasser kam. 85 Prozent der Seegraswiesen starben ab. Doch erst das massive Fischsterben nach starken Regenfällen im Oktober 2019 ließ die Menschen aufwachen: Drei Tonnen Fische waren, verzweifelt nach Sauerstoff ringend, an die Strände gesprungen und dort verendet.
„Das war wirklich eine dramatische Situation. Die Leute waren schockiert und es hat sie wachgerüttelt“, berichtet Ramón Pagán, der seit Jahren Sprecher der Bürgerinitiative „Pakt für das Mar Menor“ ist. „Da fand ein echter Bewusstseinswandel bei der Bevölkerung statt und die Leute organisierten sich.“ Auf einer Massendemonstration in Cartagena, die größte, die es je in Spanien für die Umwelt gegeben hatte, machten 60.000 Menschen ihrer Wut Luft. Denn alle hatten zugesehen, wie die grüne Algensuppe dicker und dicker wurde, ohne dass etwas zur Rettung der Lagune unternommen wurde.
Die Felder von Cartagena und der wirtschaftliche Aufstieg der Region
Neben der ständig zunehmenden Uferbebauung und der touristischen Nutzung ist die intensive landwirtschaftliche Nutzung der Felder von Cartagena die Hauptursache für die Umweltkatastrophe.
Früher standen auf ihren trockenen, terrassierten Hügeln Oliven- und Mandelbäume, Getreide wurde angebaut. Heute wachsen dort massenweise Salat und Gemüsesorten, die bis zu drei Mal im Jahr geerntet werden. Mit künstlicher Bewässerung über den Tajo-Segura-Kanal und viel Dünger hatte man in den 1980er Jahren die Felder von Cartagena in Superproduktionsfelder verwandelt, die der Region Wohlstand brachten.
„Derzeit allerdings befindet sich der größte Teil dieses bewässerten Landes in Händen von einem halben Dutzend multinationaler Unternehmen, Großgrundbesitzern und Investmentfonds“, sagt Ramón Pagán. „Sie haben sich zu den Herren über das gesamte Gebiet gemacht.“
„Hier fand eine radikale agrarische Transformation statt, die Landwirtschaft wurde industrialisiert und die Kleinbauern verkauften oder verpachteten ihr Land an internationale Unternehmensgruppen“, berichtet auch der Umweltanwalt Eduardo Salazar. Er ist Teil des juristischen Teams, das die Rechte für die Lagune eingefordert hatten.
Es wurden illegale Brunnen gebohrt und Pumpen zur Meerwasserentsalzung installiert. Die mit Nitraten, Phosphaten und Pestiziden belasteten Abwässer wurden in die Natur entsorgt und flossen fast ungehindert in die Lagune. Nach Berechnungen des Ministeriums für ökologischen Wandel landeten im Jahr 2022 allein 3.580 Tonnen Nitrate und 19,7 Tonnen Phosphate aus der Landwirtschaft und Viehzucht im Grundwasser der Küstenlagune.
Während dadurch auf den Feldern die Erträge wuchsen, mussten die Gemeinden am Mar Menor tonnenweise toter Fische einsammeln und die Strände täglich von Unmengen an Schlamm und verrottenden Algen befreien. Das schreckte auch TouristInnen ab und die Immobilienpreise in der Region sanken um 500 Euro pro Quadratmeter.
Noch keine Erholung der Lagune in Sicht
Bereits Ende 2017 hatte die Staatsanwaltschaft in Murcia Strafanzeige gegenüber 40 Bauern, Händler, Politiker und Funktionäre erhoben. Darunter ist auch die britische transnationale Gruppe G’s, eine der größten Obst- und Gemüseproduzenten Europas.
Die betroffenen Landwirtschaftsbetriebe werden schwerer Umweltverbrechen beschuldigt. Sie hatten illegale private Brunnen gebohrt, das Wasser entsalzt und die Rückstände, also Salz-und Nitratlaugen, in einem eigenen Leitungsnetz direkt ins Mar Menor entsorgt.
Umweltverbände weisen darauf hin, dass die Leiter der zuständigen Verwaltungen (des regionalen Ministeriums für Landwirtschaft, Wasser und Umwelt sowie der Hydrographische Verband von Segura) das akute Problem der Lagune verschleppt und ihr Umkippen in Kauf genommen hätten. Das Gericht bestätigte, dass es Anzeichen dafür gab, dass es sich dabei um ein vorsätzliches Versäumnis handelte.
Der konventionelle Umweltschutz versagt
„Diese Umweltkrise zeigt das Versagen des derzeitigen Rechtsystems, das nur auf einen bereits angerichteten Schaden reagieren kann, “ meint der Anwalt Salazar, „und das allzu oft private Interessen vor das öffentliche Gut der natürlichen Umwelt stellt.“
An Versuchen, die Lagune zu schützen, hat es bisher nicht gefehlt: Am Mar Menor überlagern sich drei marine und neun terrestrische Lebensräume von öffentlichem Interesse, die offiziell geschützt sein sollten. Das Mar Menor ist im Rahmen des Natura-2000-Netzwerkes geschützt und mit seinen Inseln als besonderes Vogelschutzgebiet (SPA) und als Gebiet von mediterraner Bedeutung (SPAMI) eingestuft. Darüber hinaus gehört es zu den Feuchtgebieten von internationaler Bedeutung gemäß der Ramsar-Konvention.
„Natura-2000 ist ein europäisches Netzwerk mit einer starken Gesetzgebung und starkem Schutz. Aber es hat nicht geholfen, “ erklärt Salazar. Zu stark sind die privaten Interessen.
Schon 1987 gab es ein spezifisches Gesetz, das versuchte, den wild wuchernden Privatinteressen am Mar Menor Einhalt zu gebieten. Doch die Regionalregierung ließ es in der Schublade schlummern und im Jahr 2000 wurde es unter der rechtskonservativen Landesregierung unter José María Aznár (PP) einfach aufgehoben.
Ramón Pagán drückt es so aus: „In Murcia macht man Gesetze, um sie nicht einzuhalten.“
Lösungen? Die Rechte der Natur!
Wie aber kann man die Natur vor Privatinteressen schützen und eine ökologisch gerechtere Gesellschaft schaffen? Das beschäftigt seit Jahren die Professorin für Recht und Philosophie an der Universität von Murcia, Teresa Vicente. Ihre Idee: Das Ökosystem sollte nicht mehr Objekt privater und öffentlicher Interessen sein, sondern selbst Personenrechte bekommen.
Der Natur eigene Rechte zu garantieren, ist ein relativ neues Konzept aus Südamerika. Zuerst wurde es in Bolivien und Ecuador umgesetzt. Ecuador schrieb das Recht in der Verfassung fest und Bolivien verabschiedete ein Gesetz zu den Rechten von Mutter Erde, „Pachamama“. Dieser neue Ansatz betrachtet die Natur nicht als Ressource, sondern als Teil der Erdgemeinschaft, dessen Bedürfnisse über die menschlichen Interessen hinausgehen können.
So sollte das Meer oder „ein See nicht nur sauber genug sein, dass Menschen in ihm schwimmen können, sondern auch so sauber, dass das Leben im Wasser erhalten bleibt und gedeihen kann“, so heißt es im eben erschienenen Buch „Das Meer klagt an! Der Kampf für die Rechte der Natur“ der Rechtsexpertinnen Laura Burgers und Jessica den Outer.
In den letzten 15 Jahren hat sich diese Idee weltweit ausgebreitet: In Kolumbien, Neuseeland und Indien wurden Flüsse mit den Personenrechten ausgestattet, in den USA gibt es entsprechende gesetzliche Regelungen und in Nepal und Australien werden Gesetzesentwürfe geprüft.
Auch in Europa ist die Debatte fortgeschritten. In den Niederlanden soll das Wattenmeer Personenrechte bekommen und in Deutschland laufen mehrere Volksbegehren auf Länderebene zur Anerkennung der Natur als Rechtssubjekt – zum Beispiel in Bayern. Das spanische Gesetz 19/2022 ist jedoch die erste konkrete europäische Umsetzung.
Tonnenweise tote Fische brachten die Wende
Doch wie gibt man der Natur Personenrechte? Um die Lagune zu retten, musste das Team um Teresa Vicente viele Hürden überwinden. Der Weg glich einer Besteigung des Mount Everest, sagt sie im Nachhinein.
Zur Umsetzung holte Vicente weitere Personen mit ins Boot, darunter Eduardo Salazar, der sich in Deutschland auf Umweltrecht spezialisiert hatte. Gemeinsam konzipierten sie eine Gesetzesvorlage, die über eine Bürgerinitiative eingereicht werden musste.
In einer gemeinsamen Aktion unterschiedlicher Bürgerbewegungen gelang es, die notwendigen 40.000 Unterschriften für das Volksbegehren zu sammeln. Doch die konservative Regionalregierung (PP) von Murcia lehnte den Antrag ab – mit Unterstützung der liberalen und der rechtsradikalen Parteien Ciudadanos und VOX.
„Das war ein sehr harter Schlag für uns“, erinnert sich Pagán, „doch Teresa gab nicht auf: Sie brachte den Vorschlag bei der Küsten-Gemeinde Los Alcázares ein. Mit deren Unterstützung konnten wir uns an die (sozialdemokratische) Zentralregierung wenden. Doch dafür wurden nun 500.000 Unterschriften fällig.“
Eine nicht zu bewältigende Aufgabe, dachte Eduardo Salazar: „2021 steckten wir mitten in der Pandemie und hatten nur neun Monate Zeit, verlängerbar um drei Monate. Elektronische Unterschriften zählten nicht und alles wurde von der Wahlbehörde geprüft.“
Doch im August 2021 wiederholte sich das Umweltdrama: Diesmal spuckte das Mar Menor fünf Tonnen toter Fische an seine Strände – ein kaum zu ignorierendes Mahnmal. „Da strömten die Leute herbei zum Unterzeichnen! Wir sammelten spanienweit 640.000 Stimmen, “ sagt der Umweltaktivist Pagán. „Zum Erfolg trug auch bei, dass die Initiative sehr neutral gehalten war und keine Partei dahinterstand.“
Ein Personalausweis für das Mar Menor
Es waren zwei Jahre harter Arbeit. Doch im September 2022 schreibt das Mar Menor Geschichte – sowohl im spanischen als auch im europäischen Rechtssystem. Der Senat billigt die Gesetzgebungsinitiative des Volkes und verabschiedet das Gesetz 19/2022. Es stattet die Lagune und ihr Einzugsgebiet als Ökosystem mit eigenen Rechten aus.
„Es ist jetzt kein Objekt mehr zum Kajakfahren, Surfen oder Baden oder zum Abladen unserer Abfälle, sondern ein Subjekt, das sein Existenzrecht einklagen kann“, erklärt Salazar. Doch damit nicht genug. „Um handeln zu können und einen Manager zu haben, erhält das Ökosystem Mar Menor und sein Einzugsgebiet einen Personalausweis und eine Steuernummer, so wie es auch für Banken oder Unternehmen üblich ist.“
Was machen die Rechte der Natur anders?
War die Rechtsprechung bisher allein an menschlichen Interessen ausgerichtet und die Natur nur dann schützenswert, wenn mit ihrer Zerstörung menschliche Interessen beeinträchtigt wurden, so erhält die Natur nun ein eigenes Gewicht.
„Das Problem sind die Eigentumsrechte der Landwirte und Viehzüchter oder Bauträger, ihr Recht auf Verschmutzung muss eingegrenzt werden“, sagt Salazar. Das sollte mit dem subjektiven Personenrecht möglich sein.„
Juristisch sei das eine echte Herausforderung. Denn normalerweise sei das Umweltrecht im Verwaltungsbereich des öffentlichen Interesses angesiedelt und zum Teil im Strafrecht. “Mit diesem Gesetz können wir erreichen, dass das Mar Menor auch im Zivilrecht eine Rolle spielt. Es kann nun auftreten und sagen: 'Hallo, hier bin ich! Ich bin auch eine Rechtsperson und möchte mein Erbe – also das Ökosystem, das ich repräsentiere – schützen.' Und damit kann das Kleinere Meer auf Augenhöhe auftreten!"
Mehr Partizipation und Demokratie
Das von den spanischen Anwältïnnen entworfene Gesetz sieht den Einsatz von drei Kommissionen vor, die für das Mar Menor sprechen werden. Sie repräsentieren die unterschiedlichen Interessensgruppen. Im repräsentativen Ausschuss sind Vertreterïnnen der Zentral- und Regionalregierung und der Gemeinden vertreten, in der zweiten Kommission die „Hüterïnnen“ des Meers, zu der auch Ramón Pagán zählt. Und im dritten Ausschuss tauschen sich Wissenschaftlerïnnen aus. Ihre Meinung wird von zentraler Bedeutung sein. Denn sie bestimmen über die Maßnahmen, die zur Erholung des Ökosystems ergriffen werden müssen.
Innerhalb der Kommissionen überwiegt das Stimmgewicht des Volkes, „denn die Regierung hat bisher die Interessen der Unternehmen vertreten“, erklärt Salazar „Wir wollen dem Mar Menor mehr Stimme und dem Volk mehr Macht geben. Denn es geht hier auch um mehr Partizipation und Demokratie.“
Würde für das Mar Menor
Insofern ist die Anerkennung der Rechte der Natur ein doppelter Erfolg für die Anwohnerïnnen der Lagune. Auch deshalb, weil sie sich diesem Ökosystem stark verbunden fühlen. Sowohl für Ramón Pagán als auch für Eduardo Salazar ist die Lagune eng mit ihren Kindheitserinnerungen verknüpft: Laufen und Schwimmen lernen, Seepferdchen verfolgen… „Das Mar Menor tragen wir sehr tief in uns“, sagt Pagán.
„Es ist ein großer Schatz“, fügt Salazar hinzu: „Das Gesetz wird dabei helfen, die versteckten Interessen ans Licht zu bringen, die das Mar Menor an den Rand seiner Existenz gebracht haben“, zeigt sich Salazar zuversichtlich. „Das Mar Menor hat gewonnen. Statt unterjocht zu werden, wird es seine Würde zurückbekommen, die wir gemeinsam erkämpfen müssen. Das ist wirklich eine sehr schöne Herausforderung für die JuristInnen und für all die Menschen, die an diesem Gesetz mitgewirkt haben.“
Epilog
Ich weiß nicht genau, wie es um mich steht. Ich liege auf der Krankenstation, aber ich höre Getuschel, man müsse mich bald auf die Intensivstation verlegen. Mir ist noch immer oft übel, ich kriege schlecht Luft, aber meiner Stimme geht es besser. Ob man mich hören wird, wenn ich rufe?