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Kolumne: Moose, Flechten, Algen - Die unterschätzten Klimaschützer auf Balkon und Terrasse
Kolumne: Moose, Flechten, Algen - die unterschätzten Klimaschützer
Im Frühling schrubben wir Moose, Flechten und Algen achtlos weg - dabei reinigen sie die Luft, binden CO₂ und schaffen Lebensräume. Ein Plädoyer fürs Stehenlassen.

Die Klima- und Umwelt-Kolumne erscheint alle zwei Wochen - kritisch, nahbar, lösungsorientiert! Hier schreiben Elena Matera und Lisbeth Schröder im Wechsel.
Der Frühling ist meine Lieblingsjahreszeit. Vielleicht weil ich selbst im April Geburtstag habe. Vielleicht weil ich die Stimmung liebe, wenn die Menschen nach den Wintermonaten aus ihren Häusern gekrochen kommen und die Gesichter in die Sonne strecken. Die Außenbereiche der Cafés füllen sich, vor den Eisläden bilden sich Schlangen, man trägt wieder Jeansjacke statt Wintermantel. Und überall sprießen die Blumen, Weidekätzchen und Flieder.
Frühling heißt für mich auch: Es geht zurück auf meinen Balkon. Hier habe ich schon meinen alten Holztisch geschliffen und geölt, neue Pläne für das Hochbeet geschmiedet und eine Lichterkette ans Geländer befestigt. Und auch die Nachbar:innen um mich herum machen die Balkone und Gärten wieder schön. Bei vielen kommen dabei auch Hochdruckreiniger, Drahtbürsten, Schaber und Eimer voll mit chemischen Reinigungsmitteln zum Einsatz. Es ist jedes Jahr derselbe seltsame Frühjahrsputz gegen das Grün.
Moos, Flechte, Alge – eine stille Allianz
Überall wird geschrubbt, gekratzt, gespritzt. Pflanzen – oder auch Unkraut, wie viele sagen – wie Horn-Sauerklee, Niederliegendes Mastkraut oder Nachtkerze, die sich gerne in Boden- und Mauerfugen ansammeln, werden voller Eifer mit Messer herausgekratzt. Moos aus Pflasterritzen. Flechten von Mauern. Algen von Dächern. Bloß kein Grün. Dabei sind gerade Moos, Alge und Flechte wahre Überlebenskünstler. Und – was viele nicht wissen – sie sind auch kleine Klimaschützer.
Moos, Flechte und Alge blühen nicht bunt. Sie duften nicht. Sie fallen eigentlich überhaupt nicht groß auf. Aber sie sind wichtig, für unser Klima, unsere Luft, unseren Boden. Moose zum Beispiel wachsen in vielen Farben und Formen. Man findet sie auf Felsen, morschen Holz, an Mauern und selbst zwischen Gehwegplatten. Viele von ihnen können bei niedrigen Temperaturen effizient Photosynthese betreiben. Moose speichern CO₂, kühlen ihre Umgebung und filtern sogar Schadstoffe wie Schwermetalle oder Stickoxide aus der Luft.

Eine Studie, veröffentlicht in Nature Geoscience, zeigt: Moose speichern weltweit etwa 6,4 Milliarden Tonnen mehr Kohlenstoff im Boden als kahle Flächen ohne Bewuchs. Das entspricht dem Sechsfachen der jährlichen CO₂-Emissionen, die durch Abholzung, Bergbau und andere Landnutzung entstehen. Für die Studie wurden Böden auf allen Kontinenten untersucht. Das Ergebnis: Böden mit Moos speichern nicht nur mehr Kohlenstoff, sondern enthalten auch mehr Nährstoffe, haben weniger Krankheitserreger und bauen organisches Material schneller ab. Moose verbessern den Boden, ähnlich wie Wälder, und sorgen für ein stabiles Mikroklima. Also: Warum sollte man diese Alleskönner aus den Fugen rauskratzen?
Was Flechten über die Luftqualität verraten
Auch Flechten sind auf vielen Balkonen zu finden. Diese oft graugrünen, gelb, orange oder braunen verästelten Flecken auf Wänden, Steinen oder Holz sind nicht einmal ein einzelnes Wesen, sondern eine Lebensgemeinschaft aus Pilz und Alge. Sie können nicht nur extreme Trockenheit, Hitze, Kälte und UV-Strahlung aushalten, sie speichern auch Feuchtigkeit und wirken temperaturausgleichend - ein Vorteil, besonders in Städten, wo Fassaden und Balkone sich im Sommer stark aufheizen. Und wie Moose sind auch Flechten Luftreiniger, Schadstoffmesser, Klimazeiger. Wo sie nur in geringer Zahl und Artenvielfalt auftreten, ist davon auszugehen, dass die Luftbelastung erhöht ist.

Und dann wären da noch die Algen, als feiner grüner Film auf Holzplanken oder als dunkler Schleier auf Stein. Auch auf der Terrasse sind Algen Teil des ökologischen Netzwerks. Sie produzieren Sauerstoff – selbst in kleinsten Mengen. Und jede dieser mikroskopischen Pflanzen hilft, CO₂ in Sauerstoff zu verwandeln. Sie sind also nicht nur da – sie arbeiten. Während wir also morgens mit der Kaffeetasse auf den Balkon treten, hat der Algenfilm unter unseren Füßen längst mit der Umwandlung von Licht in Leben begonnen.

Außerdem binden Algen, genau wie Moose und Flechten, Feinstaub und Schadstoffe. Ihre glibberige Oberfläche filtert die Luft, die uns umgibt. In der Stadt sind solche Mikroökosysteme besonders wertvoll, weil sie helfen, das urbane Klima zu regulieren: Sie speichern Feuchtigkeit, wirken kühlend und schaffen mikroskopisch kleine Lebensräume – für Bakterien, Insektenlarven, sogar für winzige Pilze.
Nicht dreckig, sondern lebendig: Wie wir Grün neu sehen lernen sollten
Man sieht also: Alge, Moos und Flechte tun einiges für das Mikroklima auf dem Balkon und im Garten. Und dennoch kratzen wir sie weg oder überschütten sie mit chemischen Mitteln. Warum ist uns der glatte Stein lieber als der bemooste oder der von Flechten gemusterte? Der chemisch gereinigte Balkon statt des sanft grünen Schattens an der Wand?
Natürlich – gerade Algenbeläge auf Holz können sehr glitschig sein. Es geht auch nicht darum, alles wuchern zu lassen. Aber vielleicht könnten wir uns doch etwas von der Vorstellung verabschieden, dass jede Fuge blank sein muss, jeder Zaun steril und dass eine mit Flechten überzogene Mauer nicht schmutzig aussieht. Vielleicht darf da Moos sein, das sich aus einer Mauerfuge drängt. Oder Flechten, die das Dach wie ein Landschaftsgemälde überziehen. Oder ein Hauch Alge, der die Nordwand feuchtgrün schimmern lässt. Das Gleiche gilt für die vielen kleinen Pflanzen, wie Vogelmiere oder Spitzwegerich, die zwischen Fugen wachsen. Dabei haben Wissenschaftler:innen berechnet, dass „Unkräuter“ die Bodentemperatur um bis zu 28 Grad Celsius senken können.
Wir brauchen ein neues Empfinden für Schönheit im Garten, auf der Terrasse, auf den Balkonen – eins, das das Kleine sieht. Das Langsame, Unscheinbare, Lebendige, Grüne. An meiner Balkonmauer wachsen zwei Flechten, die von Nahem wie kleine Miniwälder aussehen. Als würde man von oben auf Tausende winzige Baumkronen schauen, die eng nebeneinanderstehen. Statt sie wegzuschrubben, denke ich mir jetzt: Vielleicht sollte man dieses Leben auch sein lassen.
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