Welttag für Biodiversität: Scheitert der Plan, Europas Artenvielfalt wiederherzustellen?
Ariel Brunner von BirdLife Europe warnt im Interview: Gegner des EU-Renaturierungsgesetzes könnten mit „Angstmacherei, Desinformation bis hin zur glatten Lüge“ die Pläne verhindern: „Wenn wir im Kampf um das Renaturierungsgesetz scheitern, ist es so gut wie vorbei mit dem Versprechen, das Weltnaturabkommen umzusetzen“
Seit 2001 wird der 22. Mai als Internationaler Tag der biologischen Vielfalt gefeiert. Er erinnert an den 22. Mai 1992, an dem der Text der Konvention für die biologische Vielfalt (CBD) offiziell angenommen wurde. Im Dezember vergangenen Jahres haben deren 196 Mitgliedstaaten im kanadischen Montreal das neue Weltnaturabkommen beschlossen. Kern des „Kunming-Montreal-Abkommens für Biodiversität“ ist es, das Artensterben und die Zerstörung von Ökosystemen bis 2030 zu stoppen und die Natur wieder auf einen Pfad der Erholung zu bringen. Zum Welttag für Biodiversität beschreibt Ariel Brunner im Interview die ökologischen und politischen Herausforderungen bei der Umsetzung des Abkommens. Brunner ist bei BirdLife International, dem weltweiten Dachverband von Vogel- und Naturschutzorganisationen, für Europa und Zentralasien zuständig.
Herr Brunner – wo stehen wir ein halbes Jahr nach Verabschiedung des historischen Kunming-Montreal-Abkommens für den weltweiten Naturschutz bei der Umsetzung in Europa?
Ariel Brunner: Wir erleben in Europa gerade einen sehr ernsthaften Versuch, dieses Abkommen mit Leben zu füllen. Die Europäische Kommission hat mit ihrem Vorschlag für ein Renaturierungsgesetz eine sehr gute und umfassende Initiative gestartet, mit der viele Kernelemente des Kunming-Montreal-Abkommens in rechtlich bindende Vorgaben für die Renaturierung von Ökosystemen in alle Mitgliedstaaten übersetzt würden. Sollte das Gesetz Wirklichkeit werden, würden wir damit ein wirklich gutes Beispiel für den Rest der Welt geben.
DerEntwurf für die Verordnung, sieht vor, bis 2030 geschädigte Ökosysteme auf 20 Prozent der Fläche der Europäischen Union ökologisch wiederherzustellen, also zu renaturieren. Aber das Vorhaben ist noch lange nicht in trockenen Tüchern. Wie erleben Sie das in Brüssel?
Es gibt extreme Widerstände der Lobbys für die intensiven Formen der Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Fischerei, die sehr offensiv und in aller Offenheit versuchen, das Gesetz zu Fall zu bringen. Leider bekommen sie seit einiger Zeit auch Unterstützung von Seiten der konservativen Parteien im Europaparlament, allen voran von der EVP-Gruppe mit dem CSU-Politiker Manfred Weber an der Spitze.
Die EVP-Gruppe, zu der aus Deutschland CDU und CSU gehören, hat Anfang des Monats damit gedroht, das Renaturierungsgesetz und die ebenfalls geplante Verordnung zur Verringerung des Pestizideinsatzes zu blockieren. Das Argument ist, dass beides zu starke Zumutung für Landwirte bedeute…
Sie haben nicht nur eine Resolution dagegen geschrieben, sie fahren eine regelrechte Anti-Natur-Kampagne und scheuen sich dabei auch nicht, sich auf Methoden zu verlegen, die wir bisher eher von Donald Trump kennen. Ich muss es so hart ausdrücken: Die konservativen Parteien fahren eine Kampagne, die auf Desinformation und Lügen basiert.
Das sind harte Vorwürfe. Wie belegen Sie das?
Beispielsweise wurde behauptet, das Renaturierungsgesetz wolle jahrhundertealte Dörfer zerstören, um Feuchtgebiete zu renaturieren. Niemand hat das je vorgeschlagen, so etwas würde nie passieren. Sie setzen auf platte Lügen und auf Angstmacherei. So wird behauptet, Renaturierung würde zu explodierenden Lebensmittelpreisen führen und die Hungerkrise verschärfen. Dabei wissen wir doch, dass die Landwirtschaft nur überleben und die Lebensmittelsicherheit nur aufrechterhalten werden kann, wenn wir die Naturzerstörung beenden und Böden und Wasser damit entlasten.
Hält die EU-Kommission dem Druck bisher Stand?
Für den Augenblick ja. Es gab sehr klare Stellungnahmen in dieser Richtung von EU-Umweltkommissar Virgenius Sinkevicius und Kommissionsvize Frans Timmermans. Sie versuchen, Fakten und Wissenschaft in der Debatte hochzuhalten, aber sie stehen unter extremen Druck einiger Regierungen und politischer Gruppen. Das Ganze ist eine sehr toxische Kampagne, die maßgeblich von Herrn Weber angeführt wird.
Und wie verhält sich Deutschland aus Ihrer Sicht in der Debatte?
Die Haltung Deutschlands ist im Augenblick sehr unklar. Das liegt wahrscheinlich auch an den Konflikten innerhalb der Koalition. Deutschland ist ganz sicher nicht darauf aus, die Renaturierungsverordnung zum Scheitern zu bringen. Aber genauso wenig war bisher zu sehen, dass Deutschland das Gesetz energisch verteidigt. Wir brauchen Deutschland aber dringend als starke Stimme. Die Bundesregierung muss sich laut und deutlich für das Gesetz aussprechen.
Entscheidet der Erfolg oder der Misserfolg der Renaturierungsverordnug darüber, ob Europa auf dem richtigen Weg ist, das Kunming-Montreal-Abkommen zu erfüllen oder es nicht zu erfüllen?
Ja absolut. Es ist das Kernstück des Green Deal und damit der Umsetzung des Montreal-Abkommens, wenn es um Biodiversität und Ökosysteme geht. Es ist das zentrale rechtlich bindende Instrument für eine Wende in der Naturkrise. Alle harten Punkte aus dem Weltnaturabkommen – wie der Schutz von 30 Prozent der Lebensräume und die Renaturierung geschädigter Ökosysteme – finden ihre Entsprechung im Renaturierungsgesetz und in der EU-Biodiversitätsstrategie. Wenn wir im Kampf um das Renaturierungsgesetz scheitern, ist es so gut wie vorbei mit dem Versprechen, das Weltnaturabkommen umzusetzen.
Am Vorschlag der Kommission gibt es durchaus auch Kritik von ökologischer Seite. Im Umweltausschuss des EU-Parlaments und auch von BirdLife wurde gefordert, die Renaturierungsvorgabe von 20 auf 30 Prozent anzuheben und Vorgaben für bestimmte Lebensräume verbindlicher zu fassen.
Man kann immer Mehr und Besseres fordern, der Kommissionsvorschlag ist nicht perfekt. Wir selbst haben Verbesserungsvorschläge gemacht. Aber es ist ein guter Vorschlag, der in vielen Punkten präziser gefasst ist als das Montreal-Abkommen. So muss Renaturierungen wichtigen Lebensräumen und bestimmten Arten zugute kommen, und sie müssen beispielsweise dazu führen, dass der Rückgang von bestäubenden Insekten gestoppt wird und der dramatische Rückgang von Vögeln der Agrarlandschaft. Wenn wir in der Umsetzung des Montreal-Abkommens überall auf der Erde ein ähnliches Niveau und eine ähnliche Qualität haben wie im Entwurf der Kommission für das Renaturierungsgesetz, dann wäre das nicht weniger als eine globale Revolution für besseren Naturschutz. Der eigentliche Kampf wird nicht um Details am Vorschlag geführt, sondern darum, dass er auch verabschiedet wird.
Auch die Pestizidrichtlinie wird blockiert, obwohl auch Wissenschaftler eine drastische Verringerung des Einsatzes von Agrarchemikalien fordern.Eine neue Studie identifiziertgerade den übermäßigen Pestizideinsatz als die wichtigste Ursache für den Verlust von hunderten Millionen Vögeln in der EU. Wie stehen die Chancen, hier noch etwas erreichen zu können?
Der Widerstand gegen die Pestizidrichtlinie folgt demselben Muster wie der gegen die Renaturierung. Es sind dieselben Leute, hinter denen dieselbe Lobby steht und sie nutzen dieselben Mittel: Angstmacherei, Desinformation bis hin zur glatten Lüge. Die Agrarlobby weigert sich mit Händen und Füßen gegen jede Änderung im System der Lebensmittelproduktion. Wir erleben gerade massive Rückschläge in praktisch allen Bereichen, die die Natur und unsere Lebensgrundlagen betreffen: Vom Naturschutz, über die Lebensmittelproduktion bis zur Kreislaufwirtschaft oder der Energieeffizienz. Das große ganze steht unter Feuer. Und alles, was die Landnutzung berührt, steht am stärksten unter Feuer.
Welches Signal würde von einem Scheitern des Renaturierungsgesetzes an die anderen Staaten ausgehen, die ebenfalls das Montreal-Abkommen umsetzen müssen?
So wichtig die Botschaft eines erfolgreichen Renaturierungsgesetzes an die Welt wäre, so verheerend wäre die Botschaft, wenn es scheitern würde. Es geht hier auch um die Glaubwürdigkeit Europas vor den Augen der Welt. Es gibt viele Politiker in vielen Ländern der Erde, die den Kampf für Biodiversität und für Klimaschutz für einen Versuch halten, die reichen Länder reich und die armen Länder arm zu halten. Europa kann als die reichste Weltregion zeigen, dass dies nicht stimmt, indem es bei sich anfängt, der Natur wieder auf die Beine zu helfen. Wir können nicht von Ländern wie Brasilien und Indonesien glaubwürdig verlangen, dass sie ihre Wälder erhalten sollen, nachdem wir unsere zerstört haben, wenn wir keine Anstrengungen unternehmen, diese Fehler rückgängig zu machen.
Im Juni kommenden Jahres findet die nächste Europawahl statt und die Parteien beginnen bereits mit dem Wahlkampf. Droht jetzt eine Blockade in einer Zeit, die angesichts der dramatischen Ökokrise eigentlich entscheidend ist, um Fortschritte für die Natur zu erzielen?
Es ist klar, dass die Konservativen den Widerstand gegen das Renaturierungsgesetz zum wichtigen Wahlkampfthema machen wollen. Gleichzeitig stehen wir unter Zeitdruck. Wir müssen das Renaturierungsgesetz und weitere Teile des Green Deal in den nächsten neun oder zehn Monaten unter Dach und Fach bringen, bevor sich das Parlament auflöst. Das hört sich nach viel Zeit an, ist es angesichts der langsam mahlenden Mühlen der Politik in Europa und in den Mitgliedsländern aber nicht.
Wir erleben ja bereits eine Verzögerungsstrategie, beispielsweise beim Versuch, schärfere Vorgaben für den Gebrauch von Pestiziden auf den Weg zu bringen. Was würde es bedeuten, wenn die Renaturierungsverordnung nicht mehr unter dieser Kommission kommen würde?
Wir werden auf jeden Fall viel Zeit verlieren, die wir angesichts des Zustands der Natur nicht haben. Ein neues Parlament und eine neue Kommission werden viel Zeit brauchen, bis sie voll arbeitsfähig sind und sich mit diesem Thema befassen werden. Und es wird neue Mehrheiten geben, werden die ökologischer sein oder eher das Gegenteil? Wir wissen nicht, wie eine neue Kommission aussehen wird, ob sie an den Vorschlägen festhalten wird. Im besten der schlechtesten Szenarien verlieren wir ein paar Jahre. Im schlechtesten Fall wird der Green Deal einfach archiviert und vergessen.
Der Schutz der Natur kommt derzeit nicht allein von Seiten der Agrarwirtschaft massiv unter Druck. Auch für den Ausbau erneuerbarer Energien werden gerade Natur- und Artenschutzvorschriften auf nationaler und europäischer Ebene beschnitten. Gerät die Biodiversität im Namen des Klimaschutzes unter die Räder?
Das ist ein sehr reales Risiko. Wir erleben gerade eine sehr undurchdachte und zerstörerische Welle von Deregulierungen auf gesetzlicher Ebene im Namen der Erneuerbaren Energien. Diese Bestrebungen werden übrigens massiv gerade aus Deutschland vorangetrieben, leider auch von Seiten grüner Politiker. Das richtet viel Schaden an. Wir dürfen nicht Artenschutz und Naturschutz gegen den Klimaschutz ausspielen.
Wie können wir beides unter einen Hut bringen?
Wir stehen vor einem wirklichen Problem und hier muss auch unser eigenes Lager in gewisser Weise aufwachen. Wenn wir wollen, dass die Biodiversität überlebt, müssen wir dringend den Klimawandel begegnen. Sonst bleibt nichts übrig. Dazu brauchen wir eine extrem rasche Dekarbonisierung. Das bedeutet: wir brauchen verdammt viele neue Windkraftanlagen, neue Solarparks, Hochspannungsleitungen und mehr. Und natürlich müssen wir den Energieverbrauch massiv reduzieren. Das bedeutet eine industrielle Revolution und eine beispiellose Transformation für die Gesellschaft. Die neue industrielle Revolution muss größer und schneller sein als die ursprüngliche industrielle Revolution.
Und wo bleibt die Natur in dieser schönen sauberen Welt voller Elektroautos, Windräder und Solarparks?
Natürlich brauchen wir gleichzeitig einen massiven Schub für die Renaturierung und eine Reform der Art und Weise, wie wir Land und Meer nutzen. Energiewende und Naturwende: Jede dieser Transformationen ist extrem schwierig. Beides gleichzeitig zu tun ist noch schwieriger. Aber wir kommen nicht darum herum, mit dieser Herausforderung umzugehen. Wir brauchen mehr alte Wälder, wiedervernässte Moore und Grünland. Aber wir brauchen auch mehr Windparks. Da kommen wir nicht weiter, nur zu sagen, dass Windparks die Natur gefährden oder andersherum, dass die Natur den Ausbau von Windkraft behindert: Statt das eine gegen das andere auszuspielen, müssen wir auf allen Ebenen der Gesellschaft – in der Politik und in der Zivilgesellschaft – damit beginnen beides gleichzeitig zu denken.
Wie soll das funktionieren?
Alles muss auf den Tisch. Und dann müssen wir kluge Entscheidungen treffen, die von den Erkenntnissen der Wissenschaft geleitet werden. Es wird Kompromisse geben müssen. Aber diese Kompromisse sollten nicht zufällig sein, sondern das Ergebnis kluger Abwägungen, bei denen Biodiversitätsschutz und Klimaschutz gleichbedeutende Faktoren sind. Wir müssen den größtmöglichen Nutzen mit dem geringstmöglichen Schaden erzielen.
Im Weltnaturabkommen wird als oberstes Ziel beschrieben, dass die Welt bis zum Jahr 2050 in Harmonie mit der Natur lebt. Sind Sie optimistisch, dass das gelingt?
Das würde ich so leichthin nicht behaupten. Wir müssen die wissenschaftlichen Fakten und Trends zur Kenntnis nehmen. Und die gegenwärtigen Trends sind absolut schrecklich. Im Augenblick sind wir auf dem Weg in eine sehr, sehr dunkle Zukunft. Aber wir sehen, dass wir die Probleme an vielen Stellen gelöst haben, wenn wir gehandelt haben. Ich war gerade mit meiner Familie in Südfrankreich wandern. Der Himmel war voller Geier – an einem Ort, an dem sie vor 30 Jahren noch ausgestorben waren. Wir haben Gesetze verabschiedet, wir haben ernsthafte Anstrengungen für ihren Schutz unternommen, wir haben mit der lokalen Bevölkerung gerarbeitet – und wir haben die Art zurückgebracht. Wir können es schaffen.