Pilze sammeln im Herbst: Warum es mehr als ein Hype ist

Pilzesammeln ist zum Trend geworden. Großstädter ziehen mit Körben in den Wald und posten ihre Funde auf Instagram. Für Autorin Patricia Friedek ist Pilzesammeln mehr als das: Für sie ist die Pilzjagd im Herbst Teil ihrer polnischen Identität.

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Ein Maronenröhrling auf dem Waldboden zwischen Laub und Moos.

Mit Pilzen ist es ein bisschen wie mit der Partnersuche. Man darf eigentlich nicht suchen. Dann findet man nichts. Und wenn man nicht sucht, steht plötzlich der Perfekte vor einem.

Schon von weitem sehe ich ihn glänzen, die Oktobersonne hat ihn verraten. Sie spiegelt sich in seiner hellbraunen Kappe, ein knackiger Stil bohrt sich ins Laub. Ich spüre, wie die Aufregung mir ein Grinsen ins Gesicht treibt, als ich ihm näherkomme. Ich hatte es schon fast aufgegeben. „Ein Steinpilz, der erste des Jahres!“, würde ich am liebsten rufen, aber unterdrücke den Freudenschrei, um die Stille des Waldes nicht zu brechen. Schnecken oder Würmer haben seinen Hut angeknabbert, aber das macht ihn nicht weniger hübsch. Im Gegenteil. Ich drehe den Pilz aus dem feuchten Moos, er ist nicht zu alt und nicht zu jung, um ihn stehenzulassen – genau richtig. Ich führe ihn zu meiner Nase und ziehe seinen Duft ein. Er hat den perfekten Pilzgeruch. Holzig, nussig, etwas süßlich. Für mich riechen Pilze nach Kindheit. Sie gehören zu meinem Herbst dazu, wie der Pumpkin-Spice-Latte zum Herbst der Hipster gehört.

Steinpilz, leicht angeknabbert, wächst im Moos.
Der Steinpilz: Mit das Beste, was einem im Wald begegnen kann.

Es gibt Fotos von mir als Kind, auf denen ich im polnischen Wald neben einem Flechtkorb voll mit Pilzen hocke, der so groß ist wie ich selbst. Stolz lege ich da eine Verschnaufpause vom Sammeln ein und halte einen Pilz fest, der kaum in meine Kinderhand passt. Seit ich mich entsinnen kann, ging es mit meiner polnischen Verwandtschaft jedes Jahr ab dem Spätsommer in die Pilze. Oder wenn man es wörtlich aus dem Polnischen übersetzt: auf die Pilze. Schon mit vier Jahren wusste ich, wie ein Pfifferling aussieht (gelblich-orange, nicht so knallig und rund wie sein giftiger Verwandter) und dass der Steinpilz das Beste ist, was einem im Wald begegnen kann. Manchmal tat meine Großmutter so, als hätte sie einen Pilz nicht gesehen, nur damit ich mich umso mehr freute, wenn ich ihn fand. Ich durchschaute ihr Spiel, und umso stärker war mein Ehrgeiz geweckt, einen eigenen Steinpilz zu finden.

Wie eine Detektivin im Wald

Damals ging es mir nicht um die Pilzpfanne, die am Abend so köstlich duften würde. Die glibberige Konsistenz von Pilzen fand ich ekelig, außerdem bereiteten sie mir Bauchweh. Es ging um das Erlebnis im Wald, sich wie eine Detektivin zu fühlen, die nach Hinweisen suchte, um der Lösung ihres Falls ein Stück näher zu kommen. Riecht es hier nach Pilzen? Ist der Boden feucht genug? Gibt es Giftpilze? Wenn es Giftpilze gibt, verbirgt sich hier auch etwas Essbares. Wo versteckt sich das Essbare?

Inzwischen ist die Pilzsuche für mich zu einer Gelegenheit geworden, Zeit mit der Familie und in der Natur zu verbringen, ob in Polen oder in Deutschland. Oft lasse ich mein Handy zu Hause, wenn ich losgehe, und genieße es, die Kuriositäten zu entdecken, die der Wald zu bieten hat. Leuchtend orangene Korallen, die wie jene aus dem Meer aussehen, aber zwischen Moos und Laub aufblitzen. Gelbliche Kugeln, die, wenn man aus Versehen drauftritt, Staub verpulvern. Pilzkolonien, die sich um einen Baumstamm ranken, als hätte sie jemand aus ästhetischen Gründen absichtlich platziert. Wenn man zwischendrin essbare Pilze findet, umso aufregender. Mittlerweile freue ich mich auch auf die Pilzpfanne am Abend.

Frau mit lockigem Haar mit Flechtkorb im Wald.
Unsere Autorin Patricia Friedek geht schon Pilze sammeln, seit sie denken kann.

Zunächst fand ich es befremdlich, als mir immer häufiger Fotos und Videos von deutschen Pilzsammlern und ihren Funden in den Instagram-Feed gespült wurden. Das ging vor ein paar Jahren los, um die Corona-Zeit herum. Da präsentierten plötzlich Influencer – oder „Pilzfluencer“ – ihre Maronenröhrlinge in der Kamera, von denen ich bis dahin nur den polnischen Namen kannte. Da ploppte ein Pilzpodcast auf. Und auch in meinem engeren Bekanntenkreis beobachtete ich, wie junge Großstädter, bewaffnet mit Apps und Ratgebern, in den Wald zogen und ihre Trophäen in der Story posteten. War Pilzesammeln jetzt zum neuen Digital Detox für Millenials geworden? Der nächste Hipster-Herbst-Trend nach dem Kaffee mit Kürbisgewürzgeschmack? Ich fühlte mich, wie man sich fühlt, wenn man einen Lieblingskünstler hat, der auf einmal im Mainstream angekommen ist. Alle hören nun seine Musik, aber du hast schon vorher entdeckt, wie gut sie ist. Und jetzt ist sie nichts Besonderes mehr.

War Pilzesammeln jetzt zum neuen Digital Detox für Millenials geworden? Der nächste Hipster-Herbst-Trend nach dem Kaffee mit Kürbisgewürzgeschmack?

RiffReporter-Autorin Patricia Friedek

Für mich ist Pilzesammeln mehr als ein Trend. In Osteuropa hat die Pilzsuche jahrhundertealte Tradition und gilt in vielen Ländern als Volkssport. Die Polinnen und Polen zelebrieren ihre Pilze sogar mit großen Festen. Tourismusorganisationen und Gemeinden veranstalten Wettbewerbe im Pilzpfücken, es gibt gemeinsame Kochaktionen. Das größte Pilzfestival, das „Święto Grzybów“, findet jedes Jahr Anfang September in Węgliniec (Kohlfurt) statt. Im kommunistischen Polen wurde betriebliches Pilzesammeln organisiert; die Führungskräfte jagten Tiere, die Arbeiter Pilze.

Unzählige Pilzgerichte in der osteuropäischen Küche

Die Tradition hat zum einen wirtschaftliche Gründe: Expert:innen vermuten, dass sie mit der früher niedrigen Einkommenssituation in vielen osteuropäischen Ländern zusammenhängt. Tschechien etwa ist ein gebirgiges Land, wo aus topografischen Gründen die Erträge aus der Landwirtschaft vielerorts karg waren. So waren Pilze über Monate für viele Menschen die einzige Nahrungsquelle. In Polen werden Pilze auch als „Fleisch des Waldes“ bezeichnet. Ein kostenloses, nahrhaftes Produkt, das man vielfältig verarbeiten kann. In der osteuropäischen Küche gibt es unzählige Gerichte, in deren Rezept Pilze in jeglicher Form auftauchen. Besonders an Weihnachten kommen getrocknete Pilze aus den Funden im Herbst auf den Tisch: Als Teigtaschen („Pierogi“) oder knusprig gerollte Pfannkuchen („Krokiety“) mit einer Sauerkraut-Pilz-Füllung, als Pilzsuppe oder als Kohlrouladen mit Kartoffeln und Pilzen. Parasolpilze wälzen wir meistens in einer Panade und braten sie an wie ein Schnitzel.

Doch die Pilzsammel-Tradition in Polen geht tiefer. Es gibt Polinnen und Polen, die sagen, dass Weihnachten ohne Pilze seinen Zauber verliert. Überhaupt herrscht dort eine Art Mythos um die Pilze und deren Ernte. Der polnische Anthropologe Roch Sulima sagt, dass das Pilzesammeln einer „Wanderung im Jenseits“ gleichkomme. Pilze würden etwas Geheimnisvolles, fast schon Übernatürliches bergen. Zum Beispiel gibt es die Überzeugung, dass Pilze nur in unserer Abwesenheit wachsen, etwa in der Nacht, und man deshalb ganz frühmorgens losgehen müsse, um sie zu pflücken. Es existiert auch der Aberglauben, dass sie sehen und hören können: Vor dem Klang der Stimme laufe ein Pilz weg, ebenso wenn man ein Messer sichtbar bei sich trage. In der Kaschubei glaubte man, dass schwangere Frauen nicht zum Pilzesammeln mitkommen sollten, damit sie nicht von bösen Mächten beeinflusst werden. In vielen polnischen Regionen wird das Pilzesammeln mit dem Mondzyklus in Verbindung gebracht. Auch meine Familie hat manche dieser Überzeugungen an mich weitergegeben: „Wo es Fliegenpilze gibt, gibt es auch Steinpilze“, zum Beispiel.

Ein Orangener Pilz an einem Baumstamm.
Der Wald hält allerlei Kuriositäten und Überraschungen bereit.

In Deutschland sei die Pilzsammelkultur je nach Region verbreitet, sagt Moritz Schmid, den man durchaus als Pilzfluencer bezeichnen kann. Das Pilzesammeln sei vor allem in Ostdeutschland verbreitet, sagt Schmid. In der DDR sei das Pilzesammeln von Generation zu Generation weitergegeben und Pilze als günstige Nahrungsquelle betrachtet worden. In Baden-Württemberg hingegen seien Pilze kaum ein Thema, hat Schmid beobachtet. Er selbst stammt aus der Nähe von Hamburg und hat die Pilzliebe von seinen Großeltern geerbt. Schmid bestätigt meinen Eindruck, dass die Beliebtheit von Pilzen in Deutschland während der Pandemie enorm zugenommen hat. Vorher hätten sich nur wenige für sein Buch Into the Woods interessiert, er hatte lange Zeit nur ein paar Hundert Follower auf seinem Instagram-Account intothewoods_mushrooms. Inzwischen sind es knapp 55.000. Hier macht Schmid Werbung für Pilze: Er verbreitet Wissen über sie und setzt sie auf Fotos in Szene. Eine PR-Agentur für Pilze.

Großstädter nehmen an Pilzwanderungen teil – aber nicht nur die

Seit zwei Jahren bietet Moritz Schmid Pilzwanderungen an. An diesen nähmen gerade Stadtmenschen teil, die sich für Selbstversorgung und Natur interessieren; die das als Ausgleich zu ihrem stressigen Alltag nutzten. Aber auch „Helga und Bernd, die schon ihr Leben lang Pilze sammeln und etwas Neues lernen wollen“.

Schmid beobachtet, dass es einen Wandel weg vom reinen Zweckdenken gebe, in den Wald zu gehen, um den Korb voll zu bekommen. Er führt das auch auf das Bedürfnis zurück, Abstand vom Smartphone und vom Konsum zu nehmen. Das Erlebnis im Wald, sich die Hände dreckig zu machen und mal am Moos zu riechen, sei einfach erdend. Alles, was mit dem Sammeln zusammenhänge, habe meditativen Charakter: die Suche, das Sortieren, das Säubern, das Sichten der Pilze nach der Wanderung.

Moritz Schmid spricht von einer Pilzkultur 2.0. Die neue Generation der Sammlerinnen und Sammler setze sich in allen Bereichen mit Pilzen auseinander: Pilze als Fleischersatz, Pilze als Material für Kleidung, Pilze als Supplement oder als Medizin. „Die neue Generation beschäftigt sich ganzheitlich mit Pilzen und sieht es nicht nur als Essensbeschaffung – und das finde ich cool.“ Auch wenn Social Media zwangsläufig dazu führe, dass Menschen das Thema kompetitiv angingen.

Inzwischen versuche auch ich, den Trend für mich zu nutzen und es positiv zu sehen, dass so viele andere sich für dieses Hobby begeistern können. Ich tausche mich mit Bekannten aus und folge einigen Pilzaccounts, um mitzubekommen, wann die Maronenröhrlinge sprießen oder wo man in Deutschland gute Pilz-Spots findet. Und vielleicht habe auch ich kürzlich ein Foto von meinem Steinpilz in der Instagram-Story gepostet.

Dieser Text erschien zuvor in kürzerer Form bei 10nach8 von Zeit Online.

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