Bedrohen Kunststoffe die Vielfalt des Lebens?
Seit Jahrzehnten verheddern sich Tiere im menschlichen Müll oder verschlucken ihn. Dabei ist buntes Plastik im Ozean nur der sichtbarste Teil der Probleme für die Biodiversität
Es war eine ganz gewöhnliche Makrele, die Dr. John Bailey dem Amerikanischen Naturkundemuseum in New York im August 1927 vorbeibrachte. Und doch war der Fisch, den Bailey auf einem Markt in Connecticut gekauft hatte, etwas Besonderes. Denn dieses Exemplar von Scomber scombrus war auf mysteriöse Weise mit einem Objekt verwachsen, das definitiv nicht zu seinem Körper gehörte: einem Gummiband.
Kurz hinter den Kiemen des Fisches kam es mitten aus dem Körper heraus, schlang sich von außen um die Oberseite herum und bohrte sich auf der anderen Seite wieder in den Fisch hinein. Der elastische Ring hatte dabei soviel Spiel, dass er sich durch den Körper hin- und herschieben lies. Wie war das Gummiband in die Makrele gelangt?
Rätselhafte Funde vor fast einem Jahrhundert
Es blieb nicht der einzige Fund dieser Art, den Eugene Willis Gudger, Bibliothekar und später Fischkurator des Museums, vor über 90 Jahren aufzeichnete. Gudger war erstaunt, menschengemachte Objekte in den Körpern von Tieren wiederzufinden. Er erfuhr, dass bei Fischern in Boston bereits vor der Jahrhundertwende 1900 die ersten Makrelen mit Gummibändern gemeldet worden waren. Aus Europa gab es ähnliche Beobachtungen, und auch bei Blau- und Schwertfisch einzelne Fälle.
Der deutsche Biologe Ernst Ehrenbaum hielt das Phänomen für einen schlechten Scherz von Fischern, die die Tiere “beringt” und zurück ins Meer geworfen hätten. Doch Eugene Gudger hielt dagegen. “Ich komme zu dem Schluss, dass der Fisch als Jungtier in das Gummiband hineingeschwommen ist”, schrieb er. Gudger vermutete, dass die Gummibänder – damals schon Büroinventar – von den Müllkippen und Straßen der Städte ins Meer gelangt oder auf See verklappt worden waren.
Gummibänder und Reifen, in denen sich Fische verfingen
Die kleinen Fische hatten sich offenbar vornüber in den Bändern verfangen, vielleicht als sie zum Fressen an die Wasseroberfläche kamen. Während sie heranwuchsen, schnürte sich das Band fester um ihre Körper. Bei einigen schloss sich das Gewebe um den Fremdkörper. So musste das Gummiband in den Körper der Makrele gelangt sein.
Ein Wissenschaftler aus Kuba sandte Gudger daraufhin einen Zeitungsbericht mit dem Foto eines fünf Meter langen Hais, der mit einem Autoreifen um den Körper ins flache Wasser getrieben worden war. Der hilflose Fisch, der kaum noch schwimmen konnte, wurde an Land gehievt und sofort erlegt. “Kein Mensch von gesundem Verstand würde versuchen, Teile eines Automobils über den Kopf eines großen, wilden Hais bis hinunter über seine Brustflossen zu ziehen”, stellten Eugene Gudger und sein Kollege entschieden fest. Der Hai musste zufällig in das Müllteil hineingeschwommen sein, ähnlich wie die Makrelen in die Gummibänder. Vielleicht hatte der Fisch durch den Ring Beute erblickt, war durch die Öffnung geschwommen und mit der Rückenflosse unglücklich hängen geblieben?
Hunderte Millionen Tonnen Neuplastik pro Jahr
Zur Zeit dieser ersten Berichte von Meeresmüll gab es noch nicht viel Plastik. Der Einsatz von Kunststoffen in Industrie, Gewerbe und Alltag stand ganz am Anfang. Mittlerweile werden pro Jahr mehrere Hundert Millionen Tonnen davon hergestellt. Die jüngste Schätzung geht davon aus, dass allein 2020 zwischen 24 und 34 Millionen Tonnen davon in die Ozeane, Flüsse und Seen gelangt sind. Das entspricht etwa dem 80– bis 113-fachen Gewicht des Kölner Doms (300.000 Tonnen). Eine noch unbekannte Menge landet Jahr für Jahr in weiteren Teilen der Umwelt, wie im Boden – mit gravierenden Folgen für die Natur.
Plastik schädigt heute eine große Zahl von Lebewesen direkt, indem es Tiere stranguliert oder in Netzen festsetzt, in denen sie sterben. Viele Lebewesen, von kleinsten Planktonorganismen bis zu den großen Walen, fressen die im Wasser treibenden Plastikteile. Im Körper kann der Müll nicht verdaut werden und schädliche Substanzen freisetzen. Langlebiges, mit vielen Chemikalien angereichertes Plastik ist für die Lebewesen, deren bisherige Evolution frei davon verlaufen ist, eine absolute Neuigkeit.
Vorfahren des Plastiks: Kautschuk und Guttapercha
Gummi ist älter als die synthetischen Kunststoffe, die wir heute unter dem modernen Sammelbegriff Plastik kennen. Es wird aus caoutchouc gemacht, dem Milchsaft (Latex) des Kautschukbaums. Seine Eigenschaften sollen bereits Kolumbus beeindruckt haben, als er 1496 ein Fußballspiel in der Karibik beobachtete, schreibt Stephen Fenichell in seinem Buch “Plastik – Unser synthetisches Jahrhundert”.
Kautschuk war faszinierend – leicht, flexibel, formbar und wasserdicht, sogar Bleistiftspuren konnte es wegradieren. Doch im gemäßigten Klima Europas und Nordamerikas verlor das biegsame Material an Qualität und wurde klebrig und brüchig. Im 19. Jahrhundert begannen Tüftler, den Kautschuk zu bearbeiten, um ihn auch für kühlere Regionen nutzbar zu machen.
Zu diesen Tüftlern gehörte Charles Goodyear. Er erfand den Prozess der Vulkanisierung, der Kautschuk in Gummi verwandelte. Das wiederum eignete sich gut für eine weitere Zukunftstechnologie: Das Automobil. Goodyears Name wurde schließlich von zwei Reifenfabrikanten aufgegriffen und zur bekannten Marke.
Ein ähnlich spannendes Material war der Saft des Guttapercha-Baums. Anders als Gummi konnte das Material auch Salzwasser standhalten. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die ersten Telegraphenkabel für die internationale Kommunikation auf dem Meeresboden verlegt, isoliert mit Guttapercha. Doch gleich gab es Störfälle – Haie bissen in die Kabel und Wale verhedderten sich darin, oft tödlich.
Seeungeheuer als erste Belege von Meeresmüll?
Zur selben Zeit florierten die Geschichten von Seeungeheuern. Robert France, Wissenschaftler an der Dalhousie University, hält es für möglich, dass diese Sichtungen erste Belege für die Folgen von Meeresmüll sind. Die Fischerei nutzte damals Seile aus natürlichen Materialien, die durch Behandlung mit Teer und Farben schon hartnäckig und langlebig waren. Ist es möglich, fragt France, dass Schildkröten oder Wale, die sich in alten verlorenen Seilen verfingen und versuchten, sie abwerfen, für mythische Ungeheuer gehalten wurden? Belegen lässt sich diese These nach so langer Zeit nicht.
Ob nun die Seeschlangen und Monster dazugehören oder nicht: Die Lebewesen der Meere kamen schon früh in Berührung mit menschlicher Infrastruktur und menschlichem Müll. Mit dem Plastikzeitalter erhöhte sich die Wahrscheinlichkeit solcher Begegnungen. Die “Geisternetze”, die auch ohne ihre Fischer unentwegt weiterfischen, sind nun aus synthetischen Fasern. Immer mehr Verpackungen, Wegwerfprodukte und andere Dinge treiben ziellos durch den Ozean.
Tausende von Arten sind betroffen
Auf dem Online-Portal “Litterbase” sammelt ein Team des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung wissenschaftliche Belege für die Begegnungen von Meerestieren mit Meeresmüll. Aus der AWI-Datenbank ergibt sich, dass mittlerweile über 3.700 Arten von Mikroben, Pflanzen und Tieren mit Meeresmüll interagieren. Sie fressen ihn, verheddern sich darin oder siedeln sich auf dem Müll an, von dem ein Großteil aus Kunststoffen besteht.
Bei über 900 Arten von großen Meerestieren wurde der Müll bereits im Verdauungstrakt gefunden oder führte dazu, dass Tiere sich verheddern, ergab eine Studie des Meeresinstituts Wageningen. Dazu gehören alle sieben Arten der Meeresschildkröte, die Mehrzahl der Wal- und Seehundsarten, über die Hälfte der Seevögelarten und einige hundert der über 30.000 Fischarten. Bei jeder dieser Arten ist mindestens ein Fall bekannt.
Wie schlimm das für die betroffenen Tiere sein kann, zeigen die Bilder von Seehunden, denen Reste von Fischernetzen tief in die Haut schneiden, oder das virale Video einer Oliv-Bastardschildkröte aus Costa Rica. Der Mitschnitt ist nichts für schwache Gemüter. Darin ist zu sehen, wie Biologïnnen der Schildkröte mit einer Zange einen Strohhalm aus der Nase ziehen.
Auch die Bilder des Fotografen Chris Jordan haben viele Menschen aufgerüttelt. Sie zeigen die Überreste von Albatros-Küken mit Mägen voller Plastik. Auf den Midway-Inseln im Nordpazifik, einem früheren Militärstützpunkt der USA, treffen sich jedes Jahr hunderttausende der Seevögel zum Brüten. Um die Küken aufzuziehen, fliegen die Eltern oft tagelang auf See, um kleine Fische, Kopffüsser und Krebstiere aus dem Wasser zu sammeln. In der Nahrung, die sie ihren Jungen ins Nest mitbringen, sind auch Plastikteile, die auf dem Meer treiben.
Was tun die Feuerzeuge, Zahnbürsten, Flaschendeckel und Plastikfragmente den Tieren an? Die kleinen, spitzen Teilchen könnten die Mägen der jungen Vögel durchbohren. Sie sind nicht verdaulich, so dass der Müll im Bauch liegen bleibt und den Platz für richtige Nahrung nimmt. Allerdings sind solche Fremdkörper nicht ganz neu: Albatrosse bringen ihren Jungen schon immer alle möglichen harten Brocken mit nach Hause. Unter dem Treibgut sind auch die Schnäbel der Kalmare, ihrer Lieblingsnahrung. Bevor die halbstarken Jungen zum ersten Flug ansetzen, würgen sie die Fremdkörper wieder aus, wie der Film “Albatross” zeigt.
Nicht gefährdet – trotz Plastik in der Nahrung
Laut der Weltnaturschutzunion IUCN ist die Population der Laysanalbatrosse mit mehr als 1,6 Millionen erwachsenen Tieren stabil. Dass die Vögel in der Vorwarnstufe als “potenziell gefährdet” geführt werden, hat eine ganze Reihe von Gründen. Fischerleinen und Überfischung machen den Tieren zu schaffen, Winterstürme und Überschwemmungen, die der Klimawandel verstärkt, bedrohen ihre Lebensräume. Die Tsunami-Welle, die 2011 nach dem Erdbeben in Japan über den Pazifik rollte, zerstörte etwa 300.000 Nester. Neuerdings greifen invasive Mäuse die Bodenbrüter an. Die Vögel nehmen außerdem giftige Stoffe wie Öl, Chlorkohlenwasserstoffe und Blei aus dem Anstrich der alten Militärgebäude auf.
Plastik gehört schon seit vielen Jahrzehnten zum Alltag der Laysan-Albatrosse. Eines der ersten Fotos, das die Überreste eines Kükens mit Plastik im Bauch zeigt, stammt aus dem Jahr 1966, ist also über 50 Jahre alt. Heute verfüttern Albatrosse jährlich rund fünf Tonnen Plastik an ihre Jungen, schätzt die US-Umweltbehörde NOAA.
Menschliche Eingriffe bedrohen die Mönchsrobbe
Plastik ist damit ein Stressfaktor von mehreren für die Laysan-Albatrosse. Die Art hält sich dennoch wacker. Für eine andere Tierart sieht es schlechter aus. Von der hawaiianischen Mönchsrobbe gibt es laut NOAA mittlerweile nur noch 1400 Exemplare, sie ist damit die seltenste Robbenart der Welt. In den letzten Jahren konnten sich die Meeressäuger zwar etwas erholen – ums Überleben kämpfen sie dennoch, nicht nur mit Haien und streitsüchtigen Artgenossen.
Die Tiere verheddern sich oft in Meeresmüll, vor allem in Haken oder alten Fischernetzen und Leinen aus Plastik. Auch für sie ist der Müll längst nicht das einzige menschengemachte Problem. Touristen und Boote kommen den Robben zu nahe, Nutz- und Haustiere infizieren sie mit Krankheiten und durch den steigenden Meeresspiegel schrumpft der Lebensraum der Tiere, die gern am Strand ein ausgiebiges Schläfchen in der Sonne halten. Manchmal werden sie sogar erschossen – obwohl das verboten ist.
Der wichtigste Grund für die brenzlige Lage der Mönchsrobben ist aber die fehlende Nahrung: Die heranwachsenden Robben finden einfach nicht genug zu fressen. Die Ursachen dieses verknappten Angebots sind komplex. Konkurrenz durch andere Tiere könnte eine Rolle spielen, sowie der menschengemachte Klimawandel und die Fischerei.
Es ist oft eine Kombination aus verschiedenen Faktoren, die einzelne Arten oder ganze Ökosysteme bedroht, wie das Beispiel der Albatrosse und Mönchsrobben zeigt. Verschiedene menschengemachte Probleme wie der Klimawandel, die Überfischung und Vermüllung, das Eindringen invasiver Arten und die Auswirkungen von Schadstoffen üben dann gemeinsam Druck auf Pflanzen, Tiere und andere Organismen aus.
Globaler Wandel: Wenn sich vieles auf einmal ändert
Erste Studien zeigen beispielhaft, wie verschiedene Faktoren globalen Wandels konkret zusammenwirken können. So wird es für Korallen schwieriger, mit der Versauerung der Meere umzugehen, wenn die Wassertemperatur steigt – ein Doppelschlag für die Tiere. Wenn Riffe Plastikmüll ausgesetzt sind, infizieren sich die Korallen leichter mit einem Krankheitserreger, dem der Klimawandel Vorteile verschafft.
In der Realität wirken natürlich mehr als nur zwei oder drei Faktoren zusammen. Solche Wechselwirkungen zu untersuchen ist für die Forschung eine riesige Herausforderung. Doch in einer Welt globalen Wandels greift es zu kurz, nur einen Faktor alleine zu betrachten. Die Gesamtwirkung lässt sich auch nicht einfach aus der Summe der einzelnen Stressfaktoren ableiten. Ihr Zusammenwirken hat eine eigene Qualität, die Veränderungen in den Ökosystemen auslöst.
Auf dem Müll im Meer wachsen neue Welten
Das bedeutet aber nicht, dass es allen nur schlechter geht. Im globalen Wandel gibt es auch Gewinner. Auf den kleinen Plastikteilen in den Meeren wachsen neue Lebenswelten heran, Mikroben und Algen, die sogenannte Plastisphäre. Im Schatten größerer Teile treibenden Mülls siedeln Fische und andere Meerestiere. Alte Bojen werden zu bewohnten Mini-Inseln, eine Insektenart nutzt den Müll im Meer zur Fortpflanzung, indem sie dort ihre Eier ablegt. Der Schrott, den der Tsunami 2011 von der japanischen Küste ins Meer zog, half invasiven Arten, den Pazifik zu überqueren.
Plastik im Meer zerstört also nicht nur Leben, es schafft auch eigene Ökosysteme und erschließt einigen Arten neue Welten. Bei über einem Drittel der in der Litterbase verzeichneten Begegnungen zwischen Lebewesen und Müll siedeln sich die Organismen auf dem Müll an, profitieren also. Doch wie gut ist das für die Stabilität des Gesamtsystems?
Makro- und Mikroplastik gelangt schon jetzt in fast alle Ökosysteme, in die Meere, Flüsse, Seen und Böden. Es könnte zu Nanoplastik zerfallen, das tiefer in den Körper eindringen kann. Selbst die abgelegensten Ökosysteme sind von der Verschmutzung betroffen. Kleinste Plastikteile wandern durch die Luft und mit den Meeresströmungen um die Welt, sie könnten die Bodenstruktur verändern. Was bedeutet es, dass langlebiges Plastik nun so allgegenwärtig auf dem Planeten verteilt ist? Wie stark belastet der Faktor Plastikmüll die Vielfalt des Lebens?
“Ich bin überzeugt, dass Plastik dazu führen wird, dass einige Arten aussterben, und es bricht mir das Herz”, erklärte der Meeresbiologe Daniel Pauly von der Universität von British Columbia gegenüber dem Hakai-Magazin.
Das Magazin GEO fragte Rita Triebskorn, Ökologin an der Eberhard Karls Universität Tübingen, ob die Risiken von Mikroplastik unter 5 Millimeter nicht vielleicht überschätzt würden. Sie beobachte bisher keine negative Wirkungen bei ihren Versuchen mit Polystyrol und Forellen im Labor, so die Forscherin – aber draußen in der Natur seien die Tiere natürlich auch nicht nur einem Stressfaktor ausgesetzt, sondern “kämpfen mit einem Sammelsurium von Stoffen”. Dazu gehören etwa Chemikalien aus Industrie und Haushalt sowie Pflanzenschutzmittel – und eben verschiedenste Typen von Plastik und ihre Zusatzstoffe.
Der Druck auf Lebewesen und Ökosysteme steigt
Seitdem sich Wale in den ersten Unterseekabeln verhedderten, Seeungeheuer durch die Meere spukten und auf den Fischmärkten Makrelen mit Gummibändern auftauchten, hat sich viel verändert. Der Druck ist in allen Bereichen gewachsen, wie die Liste planetarischer Belastungsgrenzen zeigt. Dazu gehören etwa die aus dem Lot geratenen Stickstoff- und Phosphor-Kreisläufe, der Klimawandel und die menschliche Landnutzung. MehrereForschungsgruppen sehen die Voraussetzungen für gegeben an, auch Plastik in diese Liste aufzunehmen: Es ist global vorhanden, kaum aus der Umwelt zurückzuholen und könnte in sensiblen Ökosystemen zu disruptiven Veränderungen führen.
Die Experten des UN-Weltbiodiversitätsrats gehen davon aus, dass die Belastungen für die Natur durch die Zunahme des Plastikmülls weiter steigen werden. Wenn nichts getan wird, könnte die Menge an Plastik, die pro Jahr in den Meeren, Flüssen und Seen landet, schon 2030 bis zu 90 Millionen Tonnen betragen, schätzten Wissenschaftlerïnnen kürzlich im Wissenschaftsjournal „Science“. Das heißt, in nur einem Jahr würde soviel Plastik in der aquatischen Umwelt landen, dass es 300 Mal schwerer wäre als der Kölner Dom. Die jährliche Verschmutzung hätte sich dann in nur zehn Jahren verdreifacht.
Wie lässt sich die Plastikflut noch aufhalten?
Solch drastische Szenarien will die Weltgemeinschaft verhindern, etwa mit den Resolutionen der Vereinten Nationen, der G7 Ocean Plastics Charter oder den Our Ocean-Verpflichtungen. Doch selbst unter der optimistischen Annahme, dass die bisherigen Pläne weltweit umgesetzt würden, kann das die Flut an Plastikmüll nicht stoppen. Die Menge an Müll dürfte weiter steigen, wie die Studie zu möglichen Zukunftsszenarien in “Science” zeigt: Allein im Jahr 2030 könnten dann noch bis zu 50 Millionen Tonnen Plastik zusätzlich in die Umwelt gelangen. Das entspräche immer noch dem 166-fachen Gewicht des Kölner Doms.
Um den Stress für die Lebewesen und Ökosysteme durch Plastik nicht weiter zu erhöhen, sondern zu senken, braucht es mehr als die bisherigen politischen Versprechen und Maßnahmen. “Wir müssen aufhören, Wegwerfprodukte herzustellen und Materialien ins System zu geben, die nicht wiederverwendet oder wirklich recycelt werden können”, sagt die Wissenschaftlerin Stephanie Borrelle, die Leitautorin der Science-Studie.
Die Projektionen der Forscherin und ihrer Kollegïnnen zeigen, dass die Menge an Plastikmüll weltweit massiv reduziert und mit einer deutlichen Verbesserung der Entsorgungssysteme sowie gezielten Aufräumarbeiten gekoppelt werden muss – allein um mit der wachsenden Produktion Schritt zu halten. Im optimistischsten Szenario der Forscherïnnen würden dann im Jahr 2030 “nur” noch acht Millionen Tonnen zusätzlicher Plastikmüll in die Meere, Seen und Flüsse gelangen. Dann müssten nur noch 27 Kölner Dome zum Vergleich auf die Waage. Das heißt, der Berg an Müll in der Umwelt wächst Jahr für Jahr weiter, aber eben langsamer.
Die Industrie in die Verantwortung nehmen
Kann das die Antwort sein? Was, wenn man das Problem wirklich lösen wollte und den Eintrag in die Umwelt auf vier oder zwei Millionen Tonnen senken wollte, oder sogar auf Null? Die Verantwortung kann nicht nur auf den Schultern von Verbraucherïnnen und der kommunalen Müllwirtschaft lasten. “Wir müssen darüber nachdenken, die Hersteller von Plastik verantwortlich für die Entsorgung des Mülls zu machen – sie müssen die nötige Infrastruktur aufbauen”, sagt Stephanie Borrelle. “Wir brauchen Standards, damit Recycling einfacher wird. Und wir dürfen den Müll nicht mehr auf Deponien abladen oder nach Südostasien schicken, das ist weder fair noch ethisch.”
Noch wird die Öl- und Gasindustrie, die die Rohstoffe für Plastik billig herstellt, kräftig subventioniert. Wenn diese Subventionen gekappt würden und sich die Staaten auf eine Deckelung oder sogar eine Reduktion der Produktion bestimmter Materialien, Zusatzstoffe oder Produkte einigen würden, könnte das den Weg hin zu einer Welt mit weniger Plastik ebnen. Es ist nicht unmöglich, sagt Stephanie Borrelle, “wenn wir den politischen Willen haben, wirklich das zu tun, was nötig ist”.
Expertïnnen setzen sich für globales Abkommen ein
Im Wissenschaftsjournal “Science” fordert eine internationale Gruppe Forscherïnnen nun, ähnlich wie bei der Rettung der Ozonschicht vorzugehen: Damals wurde die Produktion von FCKWs, die die lebenserhaltende Schutzschicht in der Atmosphäre zerstörten, schrittweise gesenkt. Statt also nur auf Emissionen oder Müll zu schauen, heißt es, die Produktion direkt an der Quelle zu senken. Bis zum Jahr 2040 sollte die Produktion von Neuplastik bis auf Ausnahmen, etwa in der Medizin, ganz heruntergefahren werden, fordern die Wissenschaftlerïnnen, und durch recyceltes Material ersetzt werden. Für diese Kreislaufwirtschaft müsse außerdem sichergestellt werden, dass problematische Substanzen aus der Produktion und dem Recycling verbannt würden und der Müll soweit möglich aus der Umwelt entfernt werde.
Plastik kennt keine Grenzen, wenn es um die Welt reist. Ein internationales, bindendes Abkommen wäre deshalb ein wichtiger Schritt, um die Folgen von Kunststoffen in den Griff zu bekommen und klare Ziele zu setzen – von der Herstellung über den Gebrauch des Materials bis zu seiner Entsorgung.
Im Projekt „Countdown Natur“ berichten wir mit Blick auf den UN-Naturschutzgipfel über die Gefahren für die biologische Vielfalt und Lösungen zu ihrem Schutz. Die Recherchen zu diesem Beitrag wurden von der Hering Stiftung Natur und Mensch gefördert. Sie können weitere Recherchen mit einem Abonnement unterstützen.
Der historische Teil der Recherche wurde durch eine Residency am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte im Frühjahr 2019 ermöglicht. Die Autorin dankt den Bibliothekarïnnen des Instituts sowie dem Team der Litterbase am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung für die Unterstützung beim Aufspüren alter Zeitungsberichte und Studien, die die Interaktion von Meerestieren mit Müll und Unterseekabeln belegen.