Tote Meere, grüne Monotonie: Wie zu viel Stickstoff global die biologische Vielfalt bedroht

Landwirtschaft, Verkehr und Industrie bringen gigantische Mengen von Stickstoff-Verbindungen in Umlauf. Das schadet Vegetation, der Tierwelt und ganzen Ökosystemen.

vom Recherche-Kollektiv Countdown Natur:
13 Minuten
Luftbild der Küste vor dem Istanbuler Stadtteil Caddebostan, aufgenommen am 7. Juni 2021. Das Wasser ist weitflächig bedeckt mit hellen Schlieren aus Schleim.

Die Ausgangssituation: Stickstoff ist ein begehrter Baustein des Lebens

Not macht erfinderisch – das gilt auch für die Evolution. Seit Jahrmilliarden stehen alle Lebewesen auf der Erde vor ein und derselben Herausforderung: Wie komme ich an genügend Stickstoff? Das Element ist lebensnotwendiger Bestandteil aller Zellen, unter anderem als Bausteine von Eiweißen, ohne die gar nichts läuft.

Die meiste Zeit über war es ziemlich schwierig, an das Element dranzukommen. Unsere Luft besteht zwar zu knapp 80 Prozent aus Stickstoff. Doch in der Luft sind immer zwei Atome des Stickstoffs jeweils so fest miteinander verbunden, dass er für die allermeisten Lebewesen nicht nutzbar ist. Andere Formen von Stickstoff wie Nitrat oder Ammoniak, die Lebewesen wie Pflanzen und Mikroben in ihrem Stoffwechsel verarbeiten können, waren fast immer rar. Lebewesen haben sich einiges an Tricks einfallen lassen, um ihren Bedarf zu decken.

Ein rundblättriger Sonnentau mit roten Leimtentakeln wächst auf Moos  in einem Biotop in den Niederlanden.
Rundblättriger Sonnentau wächst an nährstoffarmen Standorten wie Mooren. Um ihren Bedarf an Stickstoff zu decken, fängt die Pflanze Insekten.

Gefräßige Pflanzen und unterirdische Deals – Stickstoffmangel sorgt für evolutive Vielfalt

Um an Stickstoff zu kommen, fangen etwa der Sonnentau, die Venusfliegenfalle oder Kannenpflanzen proteinreiche Insekten. Bäume wie Buchen, Fichten, Kiefern und Eichen überlassen das mühsame Zusammensammeln von Stickstoff im Boden Mykorrhiza-Pilzen an ihren Wurzeln. Sie liefern im Gegenzug Zucker und andere Leckerli an die Pilzpartner.

Noch eleganter lösen Klee, Ginster, Akazien und andere Arten aus der Familie der Leguminosen ihre Nachschubfrage. Sie leben in Symbiose mit besonderen Bakterien. Diese haben im Laufe der Evolution eine spezielle Fähigkeit entwickelt: Sie können Luftstickstoff in biologisch verfügbare, sogenannte reaktive Formen umwandeln. Mit ihren Stoffwechseltricks waren solche Bakterien – neben chemischen Prozessen bei Gewittern und Vulkanausbrüchen – vermutlich sogar schon seit mehreren Milliarden Jahren auf der Erde die Hauptlieferanten von Stickstoff.

Wildbiene sitzt seitlich an einer rosa Kleeblüte.
Klee und andere Leguminosen können helfen, Düngermenge und Umweltverschmutzung zu reduzieren – bei gleichbleibenden Ernteerträgen. Diese Pflanzen nutzen einen Trick: Sie leben mit Mikroben zusammen, die Luftstickstoff nutzbar machen können.
Wir bringen mehr reaktiven Stickstoff auf der Erde in Umlauf, an Land und in den Meeren, als alle natürlichen Prozesse zusammen.

Das Anthropozän – ein Zeitalter des fatalen Überflusses

Doch nach Milliarden Jahren des weitgehenden Stickstoff-Mangels hat sich die Situation auf der Erde im Verlauf der vergangenen hundert Jahre fundamental verändert. Die Folgen sind zum Teil drastisch: Anstelle von Not herrscht in vielen Regionen der Erde inzwischen Stickstoff-Überfluss. Diesen Zustand hat es in der Evolution des höheren Lebens so noch nie gegeben. Verantwortlich sind wir Menschen.

„Wir sind in Sachen Stickstoff große Player geworden, “ sagt Johan Rockström. Der schwedische Erdsystemforscher ist Direktor am Potsdam Institut für Klimafolgenforschung und hat das Konzept der Planetaren Belastungsgrenzen mitentwickelt. „Wir bringen mehr reaktiven Stickstoff auf der Erde in Umlauf, an Land und in den Meeren, als alle natürlichen Prozesse zusammen.“

Das tun wir vor allem durch die Herstellung von Kunstdünger und durch die Verbrennung fossiler Energieträger. Stickstoff-Kunstdünger wird seit mehr als 100 Jahren vor allem mithilfe des sogenannten des Haber-Bosch-Verfahrens energieaufwändig aus Luftstickstoff gewonnen.

Der Überfluss an Stickstoff ist eine entscheidende Veränderung, die das Zeitalter des Menschen, das Anthropozän, auszeichnet. Die Folgen für die Natur und die biologische Vielfalt sind unübersehbar – wenn man weiß, worauf man achten muss.

Todeszonen in den Meeren – wo Überdüngung den Sauerstoff zum Atmen nimmt

Ein aktuell recht prominentes Beispiel bietet die Türkei. Fotos einer Schleimplage auf dem Marmarameer schaffen es in viele Medien. Den „Seerotz“ produzieren Algen, begünstigt durch warme Temperaturen. Grundsätzlich möglich wird das aber erst durch Überdüngung des Wassers mit Phosphor und mit reaktivem Stickstoff. Der kommt zum Beispiel durch zum Teil unbehandelte Abwässer der Megacity Istanbul ins Meer. Der Schleim bedeckt unter anderem Muscheln, Meeresschnecken und Korallen und schadet den Lebewesen. Wird der Schleim zersetzt, entzieht das dem Wasser Sauerstoff. Weil der für alle höheren Lebewesen lebensnotwendig ist, entstehen so Todeszonen.

An vielen Küsten der Welt treten inzwischen aufgrund der Überdüngung immer öfter solche schädlichen Algenblüten auf, die mit dazu beitragen, dass es inzwischen über 400 marine Todeszonen gibt – unter anderem an den Küsten Europas, Chinas, Indiens und den USA. Das weltweit wohl am schlimmsten überdüngte Meer liegt vor unserer Haustür: die Ostsee.

Meeresoberfläche von oben fotografiert: Schwaden von Cyanobakterien färben das Wasser gelblich-grün.
In der Ostsee treiben immer wieder Massen von Cyanobakterien – auch Blaualgen genannt – wie hier zwischen Rügen und Bornholm. Überdüngung von Land begünstigt solche Algenblüten. Die anschließende Zersetzung der Biomasse entzieht dem Wasser Sauerstoff und fördert die Entstehung von Todeszonen im Meer.

Die Ostsee in einem Stickstoff-Teufelskreis

Vor allem in den tieferen Bereichen der Ostsee erstrecken sich Todeszonen, in denen das Wasser das ganze Jahr über frei von Sauerstoff ist. Die Fläche schwankt jährlich, mehr als 60.000 Quadratkilometer können betroffen sein, so viel wie sonst nie in den vergangenen 1500 Jahren. Das ist ein Gebiet viermal so groß wie Schleswig-Holstein. Die Anrainer der Ostsee lassen zwar inzwischen weniger reaktiven Stickstoff und weniger Phosphor in das Meer ab. Die Lage ist trotzdem weiterhin besorgniserregend.

„Leider verfügt die Ostsee durch die langanhaltende Überdüngung über ihren eigenen Teufelskreis, der immer wieder reaktiven Stickstoff einträgt, “ sagt Maren Voss vom Leibniz-Institut für Ostseeforschung in Warnemünde. Die Professorin befasst sich seit 30 Jahren mit Stoffkreisläufen im Meer und ist – wie sie selbst sagt – frustriert darüber, wie langsam wissenschaftliche Erkenntnisse in politisches Handeln umgesetzt werden. „2002 hatte ich ein EU-Forschungsprojekt, in dem wir klar nachgewiesen haben, dass das Nitrat in der Ostsee maßgeblich aus der Landwirtschaft stammt. Aber immer noch weigern sich die Verantwortlichen, dies einzugestehen.“

Sowohl das Plankton als auch Lebewesen am Meeresboden leiden unter der Überdüngung der Ostsee. Der Effekt kommt auch ganz oben im Nahrungsnetz an: Dass beispielsweise die Dorschbestände in einem schlechten Zustand sind, liegt nicht nur an Überfischung und am Klimawandel, sondern auch an zu vielen Nährstoffen und den damit einhergehenden Todeszonen.

Zu viel Stickstoff ist auch für andere Gewässer ein ökologisches Problem. Selbst wenn in den Medien viel öfter über zu hohe Nitratwerte im Grundwasser berichtet wird: Für die biologische Vielfalt ist der Zustand der Seen und Flüssen entscheidender. Der ist vielerorts in Europa aufgrund von Überdüngung ziemlich schlecht, vor allem in Deutschland.

Hungerkünstler werden verdrängt

Auch an Land kennt die Überdüngung mit Stickstoff keine Grenzen – selbst die von Naturschutzgebieten nicht. Für die Biodiversität an Land kommt die größte Bedrohung in Sachen Stickstoff aus der Luft. In weiten Teilen Deutschland rieselt und regnet seit Jahrzehnten reaktiver Stickstoff vom Himmel – gelöst im Regenwasser oder gebunden an Feinstaub. Hauptquellen der flächendeckenden, ungewollten Düngung von oben sind Ammoniak-Emissionen aus der Landwirtschaft und Stickoxide aus Kraftwerksschornsteinen und dem Verkehr. Laut einer Studie im Auftrag des Umweltbundesamts bekommen in Deutschland 70 Prozent der natürlichen und halb-natürlichen Landökosysteme auch weiterhin mehr Stickstoff aus der Luft ab, als sie vertragen.

Eine Pflanze mit pink-rosa Blüten steht auf einer Wiese, die von Bäumen  umstanden ist.
Erdorchideen wie das Helmknabenkraut wachsen auf Stickstoff-armen Standorten wie diesem Magerrasen auf der Schwäbischen Alb.

Zu den besonders sensibel reagierenden Ökosystemen gehören unter anderem Hochmoore, Heidegebiete und Magerrasen. Bedroht sind besonders Arten, die darauf spezialisiert sind, an besonders kargen Standorten zu leben, zum Beispiel auch insektenfressende Arten wie der Rundblättrige Sonnentau oder Flechten. Viele Flechten-Arten reagieren schon auf nur leicht erhöhte Stickstoff-Einträge auf der Luft sehr sensibel – sie verschwinden dann von Ästen, Steinen oder Böden.

Der große Gleichmacher

Auch auf Wiesen in Europa hat der Stickstoff-Überschuss weitreichende Folgen: Unter mageren Bedingungen konkurrieren verschiedenste Pflanzen gleichberechtigt um das bisschen Stickstoff, die Vielfalt ist hoch. Bei Überschuss sieht es ganz anders aus: Einige Pflanzenarten können die Stickstoff-Düngung besser ausnutzen als andere. Sie wachsen schneller und kräftiger und überwuchern die Konkurrenz. Die Artenvielfalt sinkt dadurch.

Selbst in geschützten Waldgebieten in Mitteleuropa werden seltene Hungerkünstler-Pflanzenarten in der Krautschicht zunehmend durch schnell wachsende Arten wie Brennnesseln, Brombeeren, Springkraut oder Holunder verdrängt. Die Folge: Die Wälder gleichen sich in ihrem Artenspektrum immer weiter an. Es geht insgesamt Biodiversität verloren.

Wälder als Nitratquellen

In gemäßigten Breiten wie in Deutschland ist bioverfügbarer Stickstoff im Waldboden eigentlich heiß umkämpft. Pilze, Mikroben, und Pflanzen mit ihren Wurzeln sind extrem gut darin, dem Boden wasserlösliche Stickstoff-Verbindungen wie Nitrat oder Ammonium zu entziehen. Deswegen sickert natürlicherweise aus den oberen Waldbodenschichten kein Nitrat Richtung Grundwasser. Doch inzwischen sind die Wälder in der Bundesrepublik so weit mit Stickstoff gesättigt, dass fast alle in der sogenannten Bodenzustandserhebung untersuchten Wald-Standorte Nitrat in den Untergrund abgeben.

Brombeerranke im Vordergrund, im Hintergrund Brombeeren und Brennnesseln sowie einzelne Baumstämme.
Brombeeren und Brennnesseln soweit das Auge reicht, ein vertrauter Anblick in vielen deutschen Wäldern und ein klarer Indikator für Stickstoff-Überdüngung aus der Luft.

Unterm Strich wird der Klimawandel verstärkt – und darüber auch das Artensterben

Die biologische Vielfalt wird auch durch den Klimawandel bedroht. Welche Rolle reaktiver Stickstoff in der Umwelt in diesem Zusammenhang spielt, ist in den vergangenen Jahren verstärkt untersucht worden.

Einerseits kann der Stickstoffeintrag aus Luft Bäumen helfen, schneller zu wachsen. So entziehen Bäume der Atmosphäre mehr vom Treibhausgas Kohlendioxid. Das würde helfen, die Erde kühler zu halten. Andererseits wird dieser Effekt am Ende durch einen anderen klimarelevanten Prozess mehr als ausgeglichen: Reaktiver Stickstoff wird von bestimmten Mikroben in Böden und in Gewässern umgesetzt zu Lachgas – ein hochwirksames Treibhausgas.

Fazit: Unterm Strich heizt reaktiver Stickstoff in der Umwelt die Erderwärmung an.

Der „kühlende“ Düngereffekt durch verstärktes Waldwachstum ist außerdem nicht von Dauer. Eine europaweite Analyse des Waldwachstums weist darauf hin, dass vor allem Buchen ab einer gewissen Dosis von Stickstoffeinträgen eher schlechter als besser wachsen. Das hängt möglicherweise damit zusammen, dass die Waldböden durch die Einträge versauern. Außerdem zeigt sich, dass Pilzpartner der Waldbäume, wie bestimmte Ektomykorrhiza-Pilze, negativ beeinträchtigt werden. Dazu kommt, dass Bäume durch Stickstoffeinträge anfälliger für Dürren und andere Stressfaktoren werden. Darauf weist sowohl eine Studie aus der Schweiz hin, als auch eine aus halbtrockenen Savannen-Landschaften in Spanien.

Auch Schmetterlinge und Vögel können betroffen sein

Die Folgen der ungewollten Düngung aus der Luft beschränken sich nicht nur auf die Pflanzenwelt. Sie verändert auch für etliche Tiere die Lebensbedingungen. So können sich die Qualität und die Menge an Futterpflanzen und Nektarquellen verändern oder auch die Nistmöglichkeiten. Es gibt Insekten, die davon profitieren, weil sie mehr zu fressen finden.

Ein ockerfarbener Falter mit weißen Flecken auf den Flügeln sitzt seitlich auf einer hell-violetten Blüte.
Der Komma-Dickkopffalter kommt in trockenen nährstoffarmen Grünlandstandorten vor. Er ist gefährdet, weil seine Wirtspflanzen durch erhöhte Stickstoffeinträge verschwinden.

Schmetterlinge können jedoch auch negativ beeinträchtigt werden. Ein Schweizer Forscherteam hat festgestellt, dass sich Stickstoffeinträge aus der Luft negativ auf die Schweizer Schmetterlingswelt auswirken. Sowohl die Artenzahl als auch die Zahl der Tiere gehen laut der Studie zurück.

Üppig wachsende Brennnesseln oder Brombeeren können im Wald den Bodenlebensraum und das Mikroklima verändern. Es gibt Hinweise, dass bodenbrütende Vögel wie Waldlaubsänger oder Baumpieper derartig zugewucherte Wälder zum Nisten vermeiden – wobei das Ausweichen sich für die Vögel als schwierig erweisen kann.

Zu viel reaktiver Stickstoff im Umlauf beeinflusst also nicht nur Pflanzen, sondern auch alle anderen Lebewesen in Ökosystemen, bei Tieren bestehen allerdings immer noch viele Forschungslücken.

Es ist nicht einfach, den Einfluss von zu viel reaktivem Stickstoff auf den Artenverlust zu beziffern. Eine Zahl dazu kann immer nur so gut sein, wie die zugrunde liegenden Daten: Eine Studie von 2013 schreibt Stickstoff-Einträgen einen Anteil von 5 bis 15 Prozent am aktuellen Verlust von Arten zu. Regional kann der aber weit höher liegen. In den Niederlanden gehen beispielsweise bis zu 50 Prozent der Artenverluste in Naturschutzgebieten auf das Konto der Stickstoff-Überdüngung.

Wildbienen mit dem Bulldozer schützen

Diese flächendeckenden Probleme werfen eine große Frage auf: Erholen sich Landökosysteme von zu hohen Stickstoff-Einträgen aus der Luft, wenn die Belastung zurückgeht? Und wenn ja, wie schnell geht das?

Dazu wird noch mehr Forschung gebraucht, sagt die britische Ökologin und Stickstoff-Expertin Carly Stevens von der Universität Lancaster. „Die bisher vorliegenden Daten deuten darauf hin, dass manche Teile von Ökosystemen sich schnell erholen können, wohingegen andere nach hohen Stickstoff-Einträgen dafür sehr lange brauchen, oder sogar aktive Pflegemaßnahmen für die Erholung notwendig sind.“

Konkret kann das bedeuten, dass auch mal ein Bulldozer anrollt – um beispielsweise Wildbienen vor den negativen Konsequenzen von Stickstoff-Einträgen zu schützen. Ein Beispiel dafür sind die Heide und der Sandtrockenrasen im Landschaftsschutzgebiet Hohe Ward im Münsterland. Sie zeichnen sich durch offene Sandflächen aus.

Weibliche Sandbiene sitzt mit angelegten Flügeln auf sandigem Boden, die Hinterbeine gelb mit Pollen.
Viele Wildbienen stehen nicht auf Insektenhotels. Sie brauchen zum Nisten freie Bodenflächen, so auch diese Sandbiene der Art Andrana Vaga.

Auf die sind zum Teil seltene Wildbienenarten wie unter anderem die Frühlings-Seidenbiene, die Heidekraut-Seidenbiene, die Sandbiene Andrena vaga oder die Hosenbiene Dasypoda hirtipes zum Anlegen ihrer Nester angewiesen. Und an diesen Arten hängen wiederum bestimmte Kuckucksbienen. „Die legen ihre Eier in die Nester der Wirtsbienen und sparen sich selbst das Anlegen eines Nestes, “ sagt Wildbienen-Spezialistin Berit Philipp von der NABU-Naturschutzstation Münsterland. „Wenn magere Standorte durch Nährstoffanreicherung und Sukzession verbuschen und von Brombeeren, Traubenkirsche, Gräsern überwachsen werden, haben diese Wildbienenarten und viele anderen Insektenarten wie zum Beispiel Grabwespenarten, Sandlaufkäfer keine Lebensräume mehr, in denen sie Nistmöglichkeiten und Nahrung finden.“

Spärlich bewachsene, trockene Sandfläche, im Hintergrund einzelne Bäume wie Kiefern und Birken, darüber ein blauer Himmel.
Damit der Sandtrockenrasen und die Heide auf der Hohen Ward bei Münster trotz Stickstoff-Einträgen aus der Luft als Lebensräume erhalten bleiben, ist hier auch schon der Bulldozer angerollt, um den nährstoff-angereicherten Oberboden abzuschieben.

Um die Verbuschung zu verhindern, schiebt die zuständige Stadt Münster alle paar Jahre die obersten, Stickstoff-angereicherten Zentimeter des Bodes mit schwerem Gerät ab. Diese Art von „Nährstoff-Management“ ist allerdings aufwändig und lässt sich nicht auf größeren Flächen anwenden.

Planetare Grenzen: Mit Stickstoff im tiefroten Bereich

Zu viel reaktiver Stickstoff ist aber auch auf globaler Ebene ein Problem: Wie groß es ist, demonstriert das Konzept der Planetaren Belastungsgrenzen. Es zeigt auf, welche Leitplanken wir uns als Menschheit bei der Nutzung der Erde setzen sollten, wenn wir auf einem Planeten mit einem uns vertrauten Klima und einer uns vertrauten Umwelt leben wollen. Dann sollten wir nämlich versuchen, das System Erde in dem Zustand stabil zu halten, den wir in den vergangenen 10.000 Jahren erlebt haben.

Es ist wie bei den drei Musketieren: Einer für alle und alle für einen. Man muss verstehen, dass alle Planetaren Grenzen miteinander zusammenhängen.
Ein Kreisdiagramm mit neun Segmenten, unter anderem Klimawandel, Landnutzungswandel, Biogeochemische Flüsse und Intaktheit der Biosphäre. In diesen vier Bereichen befindet sich das System Erde in der gelben Gefahrenzone bzw. in der roten Hochrisikozone.
Vier von neun planetaren Grenzen hat die Menschheit aktuell überschritten. Besonders kritisch sind der weit fortgeschrittene Verlust der Biodiversität und die Überdüngung weiter Teile der Erde mit Stickstoff und Phosphor.

In dem Konzept gibt es für die Biodiversität ebenso eine planetare Grenze wie für die Freisetzung von reaktivem Stickstoff. Diese beiden Grenzen hat die Menschheit aber bereits deutlich überschritten. Und das ist für die Stabilität des gesamten Systems Erde ein Problem, erklärt der schwedische Erdsystemforscher Johan Rockström:

„Eine der Schlussfolgerungen aus dem Konzept der planetaren Grenzen ist: Solange man sich außerhalb einer der Grenzen bewegt, wirkt sich das negativ auf die anderen Bereiche aus. Es ist wie bei den drei Musketieren: Einer für alle und alle für einen. Man muss verstehen, dass alle Planetaren Grenzen miteinander zusammenhängen. So wie sich beispielsweise das Klima auf alles andere auswirkt, wirkt sich wiederum auch alles aufs Klima aus.“

Deswegen ist es so wichtig, dass die Menschheit versucht, beim Stickstoff wieder in den grünen Bereich zu kommen. Daraus folgt für Johan Rockström aber auch umgekehrt: „Biodiversität ist entscheidend, um Kohlenstoff-Senken zu schützen, und um die Kreisläufe von Stickstoff, Phosphor und Wasser geschlossen zu halten. Das hilft uns wiederum dabei, die Erde in dem Klimazustand zu erhalten, auf den wir als Menschheit angewiesen sind.“

Die Lösung: Weniger Stickstoff verschwenden

Von einzelnen Bundesländern bis hin zur Weltgemeinschaft – auf vielen politischen Ebenen ist das Stickstoff-Problem inzwischen erkannt, steht damit aber nicht unbedingt weit oben auf der Agenda. Die Vereinten Nationen haben 2019 die Colombo-Deklaration verabschiedet. Deren Hauptziel: Bis 2030 soll im Vergleich zu 2020 nur noch halb so viel überschüssiger Stickstoff in die Umwelt gelangen.

Luftaufnahme: Ein Trecker mit Güllefass bei der Ausbringung von Flüssigmist zur Düngung eines jungen Getreidebestandes im Frühjahr, im Hintergrund drei Windräder.
So düngen, dass möglichst viel Stickstoff aus der Gülle bzw. dem Kunstdünger im Getreide landet und möglichst wenig in der Umwelt – ein Schlüssel für mehr Naturschutz.

Die Europäische Union will bis dahin unter anderem die Freisetzung von reaktivem Stickstoff aus Düngern in die Umwelt um die Hälfte verringern. Wenn das so käme, würde das einer aktuellen Studie zufolge wahrscheinlich ausreichen, um sowohl Gewässer als auch Landökosysteme vor zu hohen Stickstoffreinträgen zu bewahren.

Für einen effizienteren Umgang mit reaktivem Stickstoff sprechen am Ende nicht nur die Natur, sondern auch die Kosten, die die Freisetzung verursacht, unter anderem im Gesundheitssektor und bei der Wasseraufbereitung. 2008 lagen die jährlichen Kosten in der EU bei geschätzt 75 bis 485 Milliarden Euro.

Eine planetenfreundliche Ernährung und weniger Verbrenner auf den Straßen

Auf der individuellen Ebene ist der entscheidende Hebel, weniger Fleisch und Milchprodukte zu essen. Wer sich bereits vegetarisch oder vegan ernährt und aufs Auto weitgehend verzichtet, reduziert seine Freisetzung von reaktivem Stickstoff in die Umwelt und schützt so auch die biologische Vielfalt.

Einfach Bioprodukte zu kaufen, ist zwar in der Regel besser für die Biodiversität – aber leider bislang nicht unbedingt in jedem Fall eine Lösung für das Stickstoffproblem. Denn auch ökologische Landwirtschaft verwertet Stickstoff nicht unbedingt effizient genug und produziert pro Fläche nicht genügend Lebensmittel, um die Weltbevölkerung zu ernähren. An nachhaltigeren landwirtschaftlichen Strategien auch im Ökolandbau wird aber geforscht.

Die Herstellung von Lebensmitteln ist jedoch nicht die einzige Stellschraube. Stickoxide aus Auspuffen und Schornsteinen kosten nicht nur Menschen in Städten viele Jahre ihres Lebens. In einigen Regionen Europas, Chinas und im Osten der USA werden die ökologisch kritischen Grenzen der Überdüngung aus der Luft schon allein durch Abgase überschritten.

Insgesamt ist klar: Es braucht tiefgreifende Veränderungen in Landwirtschaft, Verkehr, und der Energieerzeugung, um den massiven Überschuss an reaktivem Stickstoff zu reduzieren. Ansonsten wird das Element, das über Milliarden Jahre die Vielfalt in der Natur mit hervorgebracht hat, zu einem der Haupttreiber ihres Niedergangs.

Im Projekt „Countdown Natur“ berichten wir mit Blick auf den UN-Naturschutzgipfel über die Gefahren für die biologische Vielfalt und Lösungen zu ihrem Schutz. Die Recherchen zu diesem Beitrag wurden von der Hering Stiftung Natur und Mensch gefördert. Sie können weitere Recherchen mit einem Abonnement unterstützen.

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