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Touristen wähnen sich in unberührter Wildnis, doch sie sind am Schauplatz eines deutschen Kolonialverbrechens
Touristen wähnen sich in unberührter Wildnis, doch sie sind am Schauplatz eines deutschen Kolonialverbrechens
Der Ngorongoro-Krater in Tansania unter deutscher Kolonialherrschaft – Leseprobe aus dem Buch „Die Natur des deutschen Imperialismus“ von Bernhard Gißibl
Die Kolonialzeit wirkt bis heute nach. Das ist das Thema des Historikers Bernhard Gißibl vom Leibniz-Institut für Europäische Geschichte Mainz. In seinem Buch „The Nature of German Imperialism“ legt er am Beispiel Tansanias die kolonialen Wurzeln des afrikanischen Naturschutzes offen. Bernhard Gißibl arbeitet als Wissenschaftler am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte Mainz. Er ist Mitherausgeber des Bandes „Civilizing Nature: National Parks in Global Historical Perspective“ (Berghahn, 2012). Sein Buch „The Nature of German Imperialism. Conservation and the Politics of Wildlife in colonial East Africa“ ist aus seiner Dissertation hervorgegangen, für die er den Nachwuchspreis der Vereinigung für Afrikawissenschaften in Deutschland (VAD) erhalten hat. RiffReporter veröffentlicht einen übersetzten und überarbeiteten Auszug aus Gißibls Buch, der zu einem wichtigen, aber vergessenen Schauplatz deutscher Kolonialgeschichte führt – zudem gibt es ein Interview mit dem Historiker zum Thema seines Buchs.
Die Caldera von Ngorongoro ist von bewaldeten Höhenzügen eingeschlossen. Sie beherbergt auf nur 250 Quadratkilometern fruchtbaren Graslands eine beeindruckende Zahl und Vielfalt der afrikanischen Fauna. Löwen und Gnus, Zebras und verschiedene Antilopenarten, Elefanten, Flusspferde, Flamingos und vereinzelt sogar Nashörner leben auf engstem Raum zusammen, weshalb Ngorongoro in einschlägigen Reiseführern gerne als achtes Weltwunder oder als ein riesiger natürlicher Zoo bezeichnet wird.
Der Kessel gehört zu den weltweit bekanntesten Wildnisgebieten Afrikas; zusammen mit dem benachbarten Serengeti-Nationalpark und dem Selous Game Reserve im Süden Tansanias gehört Ngorongoro zu den UNESCO-Welterbestätten des ostafrikanischen Landes. Jedes Jahr besuchen Hunderttausende Touristen den Krater, weil er ihnen eine spektakuläre Safari in einer geologisch einmaligen Umgebung verspricht. Im November 2004 war ich einer dieser Besucher. Zugleich war meine Safari eine Reise in die deutsche Geschichte des Ngorongoro-Kraters.
Um die Mittagszeit kam ich zusammen mit meinem Fahrer und Führer Joseph am Tor der Ngorongoro Conservation Area (NCA) an. Auf der Route von dort in das Innere des Kessels ist nichts dem Zufall überlassen – entlang des Weges wird für den Besucher die Wildnis ebenso inszeniert wie das Heldentum ihres Schutzes.
Eine staubige Straße und viele Windungen erlauben nur langsame Fahrt. Das steigert die Spannung auf den Blick vom Kraterrand, den man nach einer endlos scheinenden dreiviertel Stunde endlich erreicht. Hier, am sogenannten Heroes’ Point, genießen Besucher endlich den erhabenen Blick über die stille Weite des Kraters. 600 Meter tiefer auf dem Boden des Kessels ist die Savannenfauna zu erkennen, ganz klein als Hunderte von schwarzen Punkten, die sich über die Grasfläche und die spärlichen Wälder verteilen.
Ein kurzes Stück weiter am Kraterrand erinnert seit 1981 ein Denkmal an die Wissenschaftler, Jagdaufseher und Parkranger, die für den Naturschutz in Tansania ihr Leben gelassen haben. Etwas weiter entlang des Schotterweges kommt man zu einer steinernen Pyramide – ein weiteres Naturschutzdenkmal, das erstmals auf den deutschen Anteil an der Geschichte des Kraters hinweist.
Eine Inschrift auf der Pyramide erinnert an Bernhard Grzimek, den früheren Direktor des Frankfurter Zoos und seinen Sohn Michael. Ihre Filme und Veröffentlichungen haben die Serengeti und das Ngorongoro-Gebiet Ende der 1950er Jahre in den Fokus des weltweiten Naturschutzes gerückt. Der Gedenkstein erinnert den Besucher daran, dass Michael Grzimek „alles, was er besessen hat, für die Wildtiere Afrikas gegeben hat, auch sein Leben“. Er starb im Januar 1959 im Alter von nur 24 Jahren bei einem Flugzeugabsturz in der Nähe des Ngorongoro, als er gerade unterwegs war, um Populationsgröße und Wanderrouten der Steppentiere aus der Luft zu studieren.
Seinem Vater Bernhard Grzimek wird üblicherweise die Urheberschaft der Bezeichnung Ngorongoros als „achtes Weltwunder“ zugeschrieben. Noch wichtiger waren aber der Welterfolg von Grzimeks Buch „Serengeti darf nicht sterben“ und des gleichnamigen Films aus dem Jahr 1959. Der Film erhielt als erste deutsche Filmproduktion nach dem Zweiten Weltkrieg einen Oscar, machte Grzimek zu einem Star des internationalen Naturschutzes und eröffnete ihm großen Einfluss auf die Naturschutzpolitik Tansanias nach der Unabhängigkeit des Landes im Dezember 1961.
Grzimek wirkte seit den 1960er Jahren an vielen Entscheidungen über das Naturschutzmanagement in Serengeti und Ngorongoro mit, auch, was Umsiedlungen und Einschränkung der Landnutzungsrechte der lokalen Bevölkerung anbelangte. Mit großem Erfolg propagierte er international die Vereinbarkeit von Naturschutz, massenhaftem Naturtourismus und Nationalparks als Instrument wirtschaftlicher Entwicklung.
Aus der Vermarktung des Films wie auch aus seinen öffentlichkeitswirksamen Spendenkampagnen in westdeutschen Massenmedien erzielte Grzimek beträchtliche Summen. Diese Gelder investierte er zum großen Teil in den tansanischen Naturschutz. Seine Zoologische Gesellschaft Frankfurt entwickelte sich dadurch – dem Naturschutzökologen Antony Sinclair zufolge – zum „wichtigsten Geldgeber“ für Naturschutz in der Serengeti und zu einem zentralen Akteur im Naturschutzmanagement Tansanias überhaupt.
Die Erwartungshaltung der meisten Touristen: in Afrika noch unberührte Wildnis erleben
Die Denkmäler am Kraterrand vergegenwärtigen allen Besuchern des Kraters, wem sie diese Begegnung mit einer einzigartigen Natur und Tierwelt im Nordwesten Tansanias zu verdanken haben. Danach geht es endlich hinab in den Krater zum „Game Drive“. Unten angekommen begegneten wir allerdings zuerst einem Massai-Hirten mit seiner Viehherde. Joseph klärte mich darüber auf, dass der Managementplan für Ngorongoro verschiedene Formen der Landnutzung vorsehe, darunter auch die nomadische Weidewirtschaft der Maasai. Diese, so lernte ich, gelten als „Teil des Ökosystems“. Zwar gebe es ab und an Konflikte zwischen Rinderhaltung und den Bedürfnissen der Wildtiere. Insgesamt aber hätten die Massai seit der Gründung des Schutzgebiets 1959 vom Tourismus und den Managementprinzipien profitiert.
So die offizielle Lesart von Naturschutzseite. Joseph war sichtbar erleichtert, als er nicht mehr über Land- und Nutzungskonflikte, sondern über die Fauna des Kraters erzählen durfte. Er hatte eine Ausbildung am renommierten Mweka College of African Wildlife Management absolviert, eine in den 1960er Jahren auch mit deutschen Entwicklungshilfegeldern eingerichtete Schule für Wildhüter. Danach begann er, als Führer von Touristensafaris zu arbeiten. Er wusste alles über die Tiere, ihre Ansprüche an Lebensraum und Vegetation wie auch über das Funktionieren des Ökosystems Savanne im Allgemeinen.
Unser Game Drive war ein voller Erfolg: Neben jeder Menge Antilopen, Elefanten und Flusspferden beobachteten wir unter anderem einen Geparden, der sich, umringt von zwölf Safari-Geländewagen, auf dem Boden räkelte. Als nach mehreren Stunden der Anblick Hunderter grasender Gnus etwas seinen Reiz verloren hatte, stellte ich Joseph eine Frage, die ihn ziemlich überraschte: Ob er mich denn bitte zu den Resten der deutschen Farm im Krater bringen könnte?
Josephs sichtliche Überraschung bestätigte die Beobachtung des Anthropologen Noel Salazar, dass die Führer jenen Teil des Kraters normalerweise auslassen, in dem sich die Reste der Farm und damit Zeugnisse der menschlichen und der Kolonialgeschichte des Kraters befinden. Vermutlich wollen sie nicht die Erwartungshaltung der meisten Touristen enttäuschen, in Afrika noch unberührte Wildnis erleben zu können. Den meisten Besuchern entgeht dadurch just jener Teil von Ngorongoro, der zu den umstrittensten Orten in den kolonialen Naturschutzdebatten vor dem Ersten Weltkrieg zählte.
Optisch geben die Ruinen der deutschen Farm nicht viel her. Außer den Überresten einiger Mauern und den noch immer erkennbaren Treppenstufen ist kaum etwas erhalten. Aber so unscheinbar diese Ruine wirken mag: Sie ist ein wichtiges Symbol für das weitgehend vergessene deutsche Kolonialreich in Ostafrika, ein Stolperstein menschlicher Geschichte in „Afrikas Garten Eden“. Denn die Treppenstufen führen aus der Gegenwart des Naturparadieses in seine Vergangenheit, hinein in die Jahre vor 1914. Und hätte sich die deutsche Kolonialregierung damals mit ihren Plänen durchgesetzt – wer weiß, vielleicht würde es den Krater mit seiner spektakulären Fauna heute gar nicht mehr geben.
Die vergessene Vergangenheit des Ngorongoro-Gebiets
Vor gut einem Jahrhundert gehörten die verbliebenen Steinreste am Bachlauf im Nordwesten des Kraters zu einer für damalige Verhältnisse stattlichen Farm mit Steinhaus, Schuppen und Ställen. Ihr Eigentümer war der Deutsche Adolf Siedentopf, der aus der damals preußischen Provinz Hannover nach Ostafrika übergesiedelt war. Stand April 1913 beschäftigte er vier weiße Angestellte, 58 Maasai und weiteres lokales Personal, mit denen er rund 1.000 Rinder, 2.500 Schafe, 40 Esel und 12 Pferde versorgte. Den Rest des Kraters bevölkerten riesige Wildherden. Zeitgenössische Quellen schätzten das Großwild im Krater auf rund 20.000 Gnus, 1.500 Zebras und Tausende Antilopen. Auch Nashörner wurden regelmäßig gesichtet, Und bis 1907 teilte sich Siedentopf Ngorongoro auch noch mit mehreren Hundert Maasai.
Ngorongoro war nicht Siedentopfs erste Station in Ostafrika. Bevor er sich im Krater niederließ, hatte er weiter westlich in der Nähe des Viktoriasees mit Baumwollanbau experimentiert und auch schon verschiedene Zuchtversuche mit Vieh, Eseln und Straußen unternommen. Im Zuge seiner dortigen Handelsaktivitäten mit Vieh und Elfenbein dürfte er vermutlich den Ngorongorokessel „entdeckt“ haben. Dessen fruchtbarer Kraterboden bot ganzjährig Wasser und erschien ihm als vielversprechendes Farmland, ganz zu Schweigen von den Möglichkeiten für Jagd und Elfenbeinhandel. Ende 1904 bewarb sich Siedentopf daher beim Kolonialgouvernement in Dar es Salaam um die Zuteilung großer Landflächen im Krater, um Viehzucht im großen Stil zu betreiben.
Alles schien für den Krater zu sprechen: Aufgrund der Höhenlage herrschte ein mildes Klima, und der Krater war frei von Tsetsefliegen, den Überträgern der für Vieh tödlichen Schlafkrankheit. Schließlich bot Ngorongoro den für Siedentopf nicht unwesentlichen Vorteil, weitab der nächsten Verwaltungsdienststelle des Gouvernements seinen Geschäften nachgehen zu können. Mit den Auflagen seines Pachtvertrags oder der Jagdverordnung musste er es hier nicht so genau nehmen.
Allerdings hatte Siedentopf unerwartete Konkurrenz. Auch eine Handvoll burischer Siedler hatte den Kessel entdeckt und bemühte sich 1904 um die Zuteilung von Farmland im Krater. Sie waren nach Ende des zweiten Burenkriegs von Süd- nach Ostafrika ausgewandert und galten im Gouvernement eigentlich als perfekte Pioniere zur Erschließung von neuem Siedlungsland, standen sie doch im Ruf erwiesener Tropentauglichkeit und Afrikaerfahrung. Doch gab das Gouvernement letztlich nationalen Gesichtspunkten und einem deutschen Siedler den Vorzug, auch weil Siedentopf glaubhaft machte, er könne für sein Unternehmen erhebliches Kapital in Deutschland mobilisieren. Diese Hoffnung ließ die Behörden auch darüber hinwegsehen, dass es zwischen Siedentopf und offiziellen Stellen schon mehrmals zu Konflikten gekommen war, weil dieser sich um die administrativen Auflagen für weiße Siedler wenig scherte.
Im Dezember 1904 erhielt Siedentopf einen Pachtvertrag über 6.000 Hektar Farmland in Ngorongoro unter der Auflage, baldmöglichst einen Viehstand von 2.000 Rindern aufzubauen. Zudem sollte das Gedeihen seines Unternehmens belohnt werden: Die Kolonialverwaltung stellte für jedes Aufstocken seines Viehbestandes um jeweils tausend Rinder weitere 3.000 Hektar Land in Aussicht. Anfang 1906 erhielt Adolf Siedentopf im Krater Gesellschaft durch seinen Bruder Friedrich Wilhelm, der eine weitere Farm im Süden des Kraters, nahe des Lerai Forest, errichtete.
Die Erwartungen des Gouvernements an die Brüder waren umfangreich: Neben ihrer Viehzucht sollten sie Teile des Kraterbodens aufforsten, die Ausstattung mit Futterpflanzen verbessern und weitere Teile des Kessels in Ackerfläche verwandeln. Zumindest die Anfänge der Siedentopfs waren vielversprechend: Adolf hatte schon bald ein Wohngebäude aus Stein errichtet, getauft auf den Namen „Soltau“ in Erinnerung an die Lüneburger Heide. Die Brüder importierten Eukalyptusgewächse aus Australien, pflanzten Luzerne als vielversprechende Futterpflanze, legten Entwässerungsgräben und Fahrwege für Fuhrwerke an, errichteten umzäunte Kraale für das Vieh und importierten als robust geltendes Zuchtvieh aus Kenia und Südafrika.
Ein einsamer Vorposten deutscher Besiedlung
All dies war allerdings nur dadurch möglich, dass die Brüder ihren Lebensunterhalt durch Jagd sicherstellten. Der immense Wildstand des Kessels und seiner umgebenden Savannengebiete waren für Siedentopf ein wesentlicher Standortfaktor gewesen, denn bereits aus seiner Zeit in Sukuma am Viktoriasee wußte er um den lebhaften Handel mit tierischen Produkten in der Region. Er schoss selbst Elefanten und schaffte es, sich erfolgreich in den regionalen Elfenbeinhandel mit den Maasai als Zwischenhändler einzuschalten; daneben betrieb er einen schwunghaften Handel mit Gnuschwänzen, die in den afrikanischen Gesellschaften am Viktoriasee als Schmuck und zu rituellen Zwecken gebrauchte Wedel sehr gefragt waren. Sowohl Gnus als auch Elefanten waren in Ngorongoro reichlich vorhanden, und tatsächlich finanzierten die Siedentopf den Aufbau ihrer Farmen mit dem Kapital des natürlichen Wildstands Ngorongoros. Die Produkte ihrer Jagd tauschten sie beispielsweise gegen Vieh.
Adolf und Friedrich Wilhelm Siedentopf bildeten einen einsamen Vorposten deutscher Siedlung inmitten jener von weiten Savannen geprägten, historischen Kulturlandschaft zwischen dem Rift Valley im Westen und der Maasaisteppe im Osten, die zeitgenössisch als Maasailand bezeichnet wurde. Obwohl dieses seminomadisch lebende Hirtenvolk der Landschaft ihren Namen gab, waren die Maasai weder die einzige dort lebende Ethnie, noch diejenige mit den ältesten historischen Ansprüchen auf das Land.
Nach ihrer Ankunft in der Region im Laufe des 18. Jahrhunderts verdrängten sie nach und nach andere nomadisch lebende Völker aus der Region und etablierten ein humanökologisches System, das auf saisonaler Migration, ökonomischer Spezialisierung, Tauschökonomie und dem Anspruch auf sämtliche Rinder der Region beruhte. Ngorongoro kam im kulturellen Kosmos der Maasai eine ganz besondere Bedeutung zu. Der Lerai Forest als das einzige bewaldete Gebiet im Kessel selbst diente beispielsweise als Grabstätte sowie als Ort wichtiger spiritueller Zeremonien.
Weite Teile der Forschung gehen davon aus, dass die Maasai im Zuge von deutscher Kolonialeroberung und emutai, der großen Rinderpestepidemie Anfang der 1890er Jahre, auch den Ngorongorokessel verlassen mussten. Tatsächlich verloren die Maasai in den Jahren der „großen Zerstörung“ (die deutsche Übersetzung des Maa-Begriffes emutai) um die 90 Prozent ihrer Rinder sowie zwei Drittel der Bevölkerung. Mehrere Berichte der deutschen Kolonialbehörden belegen jedoch eindeutig, dass die Maasai während der gesamten 1890er und frühen 1900er Jahre den Krater kontinuierlich nutzten und dem Kessel eine wichtige Funktion im Zuge des Wiederaufbaus ihrer Herden und ihrer Sozialstruktur zukam. Erst mit der Landnahme durch die Brüder Siedentopf begann der Prozeß der Vertreibung und Enteignung ihres angestammten Landes in Ngorongoro.
In seinen Eingaben an die Kolonialbehörden stellte Siedentopf den Krater wiederholt als „unbewohnt“ dar, um den Eindruck eines herrenlosen Landes zu erwecken. Tatsächlich machte sich Johannes Abel, der zuständige Distriktbeamte in Moshi, erst im Frühjahr 1905 auf den Weg nach Ngorongoro, um den Krater selbst in Augenschein zu nehmen – also nachdem Siedentopf das Land bereits zur Pacht erhalten hatte.
Abel fand allerdings keinen menschenleeren Krater vor, sondern berichtete von rund 800 Maasai mit um die 500 Rindern und 3.000 Stück Kleinvieh. Für die Klassifikation als herrenloses Land machte dies allerdings keinen Unterschied: In Abels Augen waren die „Ngorongoromasai“ eine einzige „große Räuberbande“, der allein schon aufgrund ihres nomadisierenden Lebensstils keine Landkommission jemals Eigentumsrechte zusprechen würde.
Die Kolonialbehörden gingen zwar davon aus, dass die Maasai Ngorongoro seit Menschengedenken als Weidegrund nutzten. Das konnte allerdings ihre Umsiedlung in ein 1907 in der Maasaisteppe südlich des Kilimanjaro gelegenes Reservat nicht verhindern. Im April 1907 konstituierte sich eine Landkommission, um den Pachtvertrag mit Siedentopf ex post facto zu bestätigen, unter anderem unter Verweis darauf, dass die Maasai aufgrund ihrer ständigen Räubereien deportiert worden wären und damit jegliches Anrecht auf das Land verwirkt hätten. Ab dem Jahresende 1907 war es nur noch einigen wenigen Maasai erlaubt, in Ngorongoro zu verbleiben, um Siedentopf als Hirten und Helfer bei der Viehzucht zu unterstützen.
Als Referenzpunkt diente der Yellowstone-Nationalpark
Um 1907 sah mithin alles danach aus, als bestünde die Zukunft des Ngorongorokraters in intensiver Viehzucht und Viehweidewirtschaft. Doch die Entwicklung von Siedentopfs Rinderfarm entsprach weder seinen grandiosen Versprechungen noch den Erwartungen des Gouvernements. Vorwürfe von Gewalt und Misshandlung von Angestellten, nicht gezahlte Löhnen und nicht erfüllte Auflagen seines Pachtvertrags mischten sich mit Klagen über Wildschäden an seinen Einzäunungen, Meldungen über unerlaubten Import von Vieh und Berichten die unbefugte Weitergabe von Waffen in die Hände einheimischer Farmmitarbeiter.
Den zuständigen Kolonialbehörden galt Siedentopf als unfügsamer und autokratischer, selbsternannter „König von Ngorongoro“, das Verhältnis von Behörden und Siedler verschlechterte sich von Jahr zu Jahr. Als sich im Zuge der wissenschaftlichen Erforschung der Schlafkrankheit auch noch herausstellte, dass die riesigen Gnuherden im Krater ein ständiges Krankheitsreservoir für Vieh und Nutztiere darstellte, setzte in Gouvernementskreisen langsam ein Umdenken ein. Andere Nutzungsmöglichkeiten für Ngorongoro jenseits von Landwirtschaft wurden erwogen, das Potenzial des Kraters als Wildparadies geriet ins Blickfeld. Ebenfalls seit 1907 hatte sich im wilhelminischen Kaiserreich eine zahlenmäßig überschaubare, aber sehr aktive und gut vernetzte koloniale Wildschutzlobby organisiert, die vor der Ausrottung des afrikanischen Großwildes durch die zunehmende Erschließung der Kolonien warnte und die Einrichtung eines Naturschutzparks auch in den deutschen Kolonialgebieten forderte. Als Vorbild und Referenzpunkt diente der Yellowstone-Nationalpark in den Vereinigten Staaten.
Seit 1911 zogen die Kolonialbehörden in Dar-es-Salaam ernsthaft in Erwägung, den Ngorongorokrater zum deutsch-kolonialen Naturschutzpark zu erklären. „Soll dieser einzigartige Wildstand vernichtet werden, um 3–4 Farmen mit einigen tausend Rindern Platz zu machen?“, fragte beispielsweise Oberleutnant Theodor Tafel im März 1913, nachdem er den Ngorongoro-Kessel erneut zur Einschätzung seines Potenzials für Viehzucht bereist hatte. „Gelände für Viehzucht mag sich im Schutzgebiet noch vieles finden, aber in ganz Afrika wohl kaum mehr ein Fleck, der auf so kleinem Raum so grossen Wildreichtum birgt.“
Auch das Reichskolonialamt in Berlin bat das Gouvernement in Dar-es-Salaam, die Option eines Naturschutzparkes in Ngorongoro sorgfältig zu prüfen. Der Umsetzung der Naturschutzpläne stand allerdings die Tatsache im Weg, dass Siedentopf über einen auf Jahrzehnte hinaus gültigen Pachtvertrag verfügte. Zwar wäre man den widersetzlichen Siedler nur zu gerne losgeworden. Doch wollte man von behördlicher Seite keinen allzu großen Druck auf Siedentopf ausüben, um in Kreisen der deutschen Kolonialbewegung nicht den Eindruck einer siedlerfeindlichen Politik zu erwecken, der das Wohlergehen von Gnus mehr am Herzen lag als die Förderung deutschen Pioniergeists in der Kolonie.
Siedentopf lehnte jegliches Kompensationsangebot mit Land außerhalb des Kessels ab. Auch scheiterten alle Versuche, die für einen Rückkauf des Landes als nötig erachtete Summe von 200.000 Mark aufzubringen. Weder Gouvernement, noch Reichskolonialamt noch die Deutsche Kolonialgesellschaft sahen sich imstande, eine solche Summe zu erübrigen; ebenso wenig der dem Vorhaben durchaus wohlwollend gesonnene Verein Naturschutzpark. Als sich nach jahrelangen Verhandlungen der Naturschutzpark als nicht realisierbar herausstellte, entschied sich Gouverneur Heinrich Schnee letztlich doch wieder dafür, Ngorongoro zur weiteren landwirtschaftlichen Erschließung zu öffnen. Im Frühjahr 1914 standen Bewerber Schlange für weiteres Farmland im Krater; Friedrich Wilhelm Siedentopf hatte zwischenzeitlich damit begonnen, betuchte Jagdreisende aus Europa von Ngorongoro aus auf Safari zu führen.
Die weitere Verteilung des Farmlands stand gerade an, als der Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Europa die Pläne der weiteren Erschließung des Kessels auf Eis legte. Allein das Vorrücken der britischen Truppen 1916 bewerkstelligte, was dem Kolonialgouvernement über Jahre hinweg nicht gelungen war, nämlich die Siedentopfs aus dem Krater zu vertreiben. Ohne den Ersten Weltkrieg wäre die ehemalige Siedentopf-Farm im Kessel heute vielleicht keine Ruine und der Ngorongorokessel vermutlich nicht jenes Natur- und „achte Weltwunder“, als das er von der internationalen Tourismus- und Safariindustrie gerne gefeiert wird.
Außerdem bei RiffReporter
Ein Interview mit Bernhard Gißibl: Ist Naturschutz vom Kolonialismus in Afrika geprägt?