Open Economy

Commons-Projekte weisen den Weg in eine Gemeinwohl-orientierte Wirtschaft

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Bild einer Siedlung in Vancouver.

In der Corona-Krise bringen Menschen mit viel Engagement gemeinnützige Projekte auf den Weg – mit Konzepten der Offenheit wie Open Source und Open Hardware. Dass das mit staatlicher Förderung zusammengehen kann, zeigt die Corona-Warn-App. Auf diesem Weg in eine resiliente Gemeinwohl-Ökonomie fehlen aber noch geeignete Förderinstrumente – und der politische Wille.

Teil der KlimaSocial-Serie „An der Weggabelung“ – von Christiane Schulzki-Haddouti

Mitte April verteilten in einer gemeinsamen Aktion mehrere Offene Werkstätten, FabLabs und Makerspaces aus Brandenburg und Berlin 12.000 Gesichtsvisiere an Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen. Die transparenten Visiere können über den Atemschutzmasken getragen werden und decken vor allem den Augenbereich ab. Doch damit nicht genug: Bis Anfang Juni ebbte die Nachfrage nicht ab.

Schnell, dezentral, ehrenamtlich

Innerhalb weniger Tage war Ende März ein dezentrales Produktions- und Designnetzwerk entstanden: Angefangen beim 3D-Design, über die Material-Beschaffung, die dezentrale Produktion in Haushalten und Offenen Werkstätten mit 3D-Druckern und Lasercuttern, bis hin zur Verteilung an Krankenhäuser, Arztpraxen oder Pflegestationen – alles erfolgte in ehrenamtlichem Engagement, das Material wurde gespendet. Dabei wurde auch noch die Produktion um einen industriellen Spritzgussprozess ergänzt, der die Anzahl produzierbarer Visiere auf einen Schlag vervielfachte.

Angefangen hatte die Initiative an mehreren Orten in Brandenburg: Mitglieder des Verstehbahnhofs (Fürstenberg), des Wissenschaftsladens Potsdam e.V. und der Offenen Werkstatt in Spremberg begannen, die international entwickelten Gesichtsvisiere nachzudrucken. Dabei konnten sie einen Prototypen verwenden und weiterentwickeln, der in den Niederlanden als „Open Hardware“ veröffentlicht worden war.

Die Idee der dezentralen Produktion verbreitete sich über das Netzwerk Offene Werkstätten Brandenburg, wodurch auch weitere Werkstätten in Brandenburg an der Havel, Cottbus, Lübbenau und Berlin mit der Produktion begannen. In Berlin waren vor allem die Beuth Hochschule für Technik und Masken.berlin rund um den xhain Makerspace aktiv. Pflegekräfte, in Arztpraxen, Laboren und Apotheken Tätige, sowie alle Personen, die beruflich mit an Covid-19 Erkrankten oder Risikopersonen in Kontakt kommen, konnten sich bei den beteiligten Initiativen melden. Inzwischen ist es Ende Juni, und nach 25.000 Gesichtsvisieren sind fast alle Bedarfe gedeckt.

Daniel Domscheit-Berg, der an der Organisation des Netzwerks beteiligt war, sagt: „Heute haben wir nochmal 30 Stück an eine Einrichtung der AWO für betreutes Wohnen abgegeben. Und wir organisieren gerade einen Transport von 1500 Stück über die Türkei nach Syrien.“ Zwei weitere Lieferungen sollen noch raus, dann ist das Lager leer: Eine soll an Kinderkrankenhäuser im Kongo, eine andere über die Hilfsorganisation CADUS und das Global Diplomacy Lab im Auswärtigen Amt in die Amazonas-Region gehen.

„Informell und unkompliziert“

„Der Erfolg der ganzen Aktion lag darin, dass sie informell und unkompliziert verlief“, erzählt Domscheit-Berg. Er sieht in dem Projekt ein Beispiel für resiliente Produktion durch dezentrale Werkstätten und Aktivisten. Sie konnten die Versorgungslücke schließen, nachdem die regulären Lieferketten zusammengebrochen waren und sich Unternehmen nicht schnell genug an die neue Situation anpassen konnten. Domscheit-Berg glaubt, dass der Staat daraus lernen könnte, indem er sein Fördersystem flexibler gestaltet. Denn bisher arbeiten die Initiativen ehrenamtlich nur auf Spendenbasis. Mit etwas staatlicher Unterstützung hätten sie noch mehr erreichen können.

Daniel Domscheit-Berg arbeitet bereits an einem neuen, eigentlich alten Projekt: Digitale Bildung in die Grundschulen zu bringen. „Ich fände es schlimm, wenn 2020 für viele das Jahr werden würde, in dem sie zum Bildungsverlierer werden“, sagt er. Seit einigen Wochen rüstet er deshalb gebrauchte Laptops auf Linux so um, dass Grundschüler mit ihnen gleich loslegen können. Die aus Spenden bei eBay gekauften Thinkpads werden mit Lernprogrammen betankt und wichtige Websites werden mit den richtigen Startseiten gebookmarkt. In den Ferien wird der Verstehbahnhof, der Makerspace und Veranstaltungsort des havel:lab, regelmäßige Treffen mit den Kindern organisieren.

Commons: Es kommt auf das Soziale an, nicht nur die Technik

Die Produktion der Gesichtsvisiere ist ein Beispiel für Commons-Praktiken, die den Weg in ein alternatives Wirtschaftsleben bereiten können. Werkzeuge, Produkte oder sogar ganze Häuser können ähnlich wie die Wikipedia in einem gemeinsamen Miteinander entstehen. Wesentlich ist ein anderer Blick, der das Soziale in das Zentrum der Aufmerksamkeit stellt. Soziale Regeln spielen eine entscheidende Rolle, um ein freies, faires Arbeiten und Leben zu ermöglichen.

Was sind Commons? Manche sagen dazu auch Gemeingüter, doch es geht um sehr viel mehr als um „Güter“. Die Commons-Expertin Silke Helfrich beschreibt in ihrem Buch „Die Macht der Commons“, wie kleinteilige Selbstorganisation Dinge in Bewegung bringt. Commons entstehen im alltäglichen Miteinander, in der bewussten Selbstorganisation der Gleichrangigen und in der gemeinsamen Befriedigung von Bedürfnissen.

Dies alles gelingt nur, wenn jeder Mensch in ein „Wir“ hineinwächst und lernt. Nelson Mandela etwa erklärte das südafrikanische Ubuntu-Denken so: „Ich bin, weil wir sind.“ Ubuntu ist nicht von ungefähr auch der Name einer erfolgreichen Linux-Distribution. Commons können sich dann besser entfalten, wenn sie politisch dabei unterstützt werden, institutionelle Formen zu entwickeln. Der Staat könnte beispielsweise aktiv werden, um selbstorganisierte Strukturen im Sinne des Gemeinwohls auf stabilere Füße zu stellen. Das fängt an bei der Anerkennung von Gemeinnützigkeit und endet bei der Bereitstellung von Förderprogrammen, die auch kleinste Projekte unterstützen sowie die Vernetzung mit ähnlichen Projekten voranbringen.

Ein Beispiel hierfür wäre das niederländische Förderprogramm der „Digitalen Pioniere“, das zwischen 2002 und 2010 kleinste und kleine Organisationen und Unternehmen förderte, um das Entstehen zivilgesellschaftlich organisierter Medien zu unterstützen. Initiiert vom niederländischen Bildungsministerium wurde bei der Stiftung Kennisland ein Fonds eingerichtet, der die Verwaltung, Planung und Auswahl der Projekte übernimmt. Aufbauend auf den Erfahrungen mit den Digitalen Pionieren wurden weitere Förderinstrumente wie Inkubatoren, Akzeleratoren und Challenges entwickelt.

Öffentliches Geld für öffentliche Software

Wie Commons erfolgreich funktionieren kann, davon bekamen nun auch führende Politiker und Unternehmenschefs bei der Diskussion um die Corona-Warn-App eine Ahnung: Hin- und hergerüttelt im gesellschaftlichen Diskussionsprozess entstand die erste staatliche App auf Open-Source-Basis. Zwar wurde sie mit Millionengeldern von Telekom und SAP zur Reife gepusht, dennoch bleibt der Quellcode der App frei zugänglich für jedermann. Die kritische Datenschutz- und Kryptoszene ist weitgehend zufrieden mit dem Ergebnis.

Für Daniel Domscheit Berg ist die Corona-Warn-App „ein riesiger Schritt in Richtung ‚Public Money, Public Code‘“. Öffentliche Softwarecode durch öffentliche Gelder – das ist die große Forderung der Open-Source-Community. Schleswig-Holstein hat eben eine Regierungsstrategie vorgelegt, um die komplette Verwaltungssoftware auf Open Source umstellen. Hamburg will nachziehen, weitere Länder könnten folgen. Der Bund fremdelt noch erkennbar. „Doch katalysierende Projekte wie die Corona-Warn-App können Mut machen, einen weiteren Schritt zu gehen“, meint Domscheit-Berg.

Wege in ein gemeinwohlorientiertes Ökosystem

Der nächste Schritt befindet sich schon in Vorbereitung: Unter DigitaleZivilgesellschaft.org starteten einige der Organisationen, die auch schon an der Gesichtsvisier-Produktion beteiligt waren, den Aufruf „Digitale Zivilgesellschaft stärken!“ und fordern darin: „Der Aufbau eines gemeinwohlorientierten digitalen Ökosystems muss endlich politische Priorität bekommen!“ Vielen Akteuren bricht nämlich gerade die Existenzgrundlage weg, obwohl sie wichtige Angebote für das Gemeinwohl leisten. Im Aufruf heißt es dazu: „Sie arbeiten an freiem Zugang zum Internet wie die Initiativen für freie Funknetze, der Bereitstellung von sicheren Kommunikationswegen, Angeboten zu Freiem Wissen bis hin zu Open-Data- und Freien-Software-Anwendungen.“ Dieses Engagement, so der Aufruf, müsse mit neuen Fördermechanismen unterstützt werden, um nachhaltige Strukturen aufbauen zu können.

Wie akut diese Forderung ist, zeigt die jüngste Entwicklung in den USA: Dort wurde vergangene Woche auf Betreiben der Trump-Regierung der Chefin des Open Technology Fund, Libby Liu, fristlos gekündigt. In ihrer Abschiedsmail warnt sie davor, dass es Pläne gebe, die Fördermittel in einige wenige Closed-Source-Tools umzuleiten. Dass es sich hier um keinen akademischen Streit zwischen Open Source und Closed Source handelt, wird klar, wenn man sich das Portfolio der geförderten Projekte ansieht: Vom Anonymisierungsdienst Tor über den Krypto-Messenger Signal bis hin zu Mailvelope, dem Web-Client für PGP, geht es um zentrale Werkzeuge, die Journalisten, Whistleblower und Bürger weltweit vor Überwachung und Zensur schützen. Sie müssen Open Source sein, das heißt, ihr Quellcode muss überprüfbar sein, um jeden Verdacht der Manipulierbarkeit und Überwachbarkeit auszuräumen.

Ein ähnlicher Fonds wurde in Europa nie eingerichtet, weshalb jetzt bei vielen Akteuren der digitalen Bürgerrechtsszene die Alarmglocken läuten. Dabei bräuchte es nur eine Stiftung, die staatliche Fördergelder organisieren, verwalten und an vertrauenswürdige Projekte weiterleiten müsste. Konkrete Projektideen gibt es genug, und die Kritik an US-Diensten wie Zoom oder Facebook verweist auf den Bedarf. So wird derzeit überlegt, das auf Open Source basierende Web-Conferencing-System Big Blue Button so aufzurüsten, dass es mit Zoom mithalten kann. In ehrenamtlicher Nachtarbeit lässt sich so etwas allerdings nicht mehr stemmen – dafür braucht es Strukturen.

Wie die Corona-Warn-App gezeigt hat, gibt die Politik in Deutschland aber lieber viel Geld an wenige große Unternehmen als wenig Geld an viele kleine gemeinnützige Organisationen. „Es ist nicht nur eine Frage eingefahrener Kommunikationswege, sondern auch eine Frage der Organisation“, sagt Philipp Berg vom Center for Cultivation of Technology in Berlin. Das Zentrum ist eine Non-Profit-Organisation, die das organisatorische Backend für viele nationale wie internationale Projekte mit freier und offener Software liefert. Er glaubt, dass die sich in Gründung befindende Ehrenamtsstiftung des Bundes eine wichtige Lücke füllen könnte. Sie soll ausdrücklich auch digitale Projekte fördern. Letztlich sei aber auch auf europäischer Ebene eine zentrale Anlaufstelle nötig. Die prekäre Lage des Open Technology Fund könnte jetzt dafür den entscheidenden Anstoß geben.

Und jetzt?

Was hat das jetzt alles mit der Klimakrise zu tun? Auf den ersten Blick wenig, denn freie und offene Software gilt vor allem deshalb als „nachhaltige Software“, weil man sie jederzeit flexibel an seine Bedürfnisse anpassen kann. Auf den zweiten Blick viel: Denn das Konzept der „Open Hardware“ funktioniert genauso und lässt sich auf alles übertragen, was sich produzieren lässt. Beispielsweise gibt es Solaranlagen wie SunZilla, die unter eine Open-Hardware-Lizenz gestellt wurden.

Wenn diese Produktion gemeinschaftlich mit Blick auf Gemeinwohl und Nachhaltigkeit organisiert wird, wird der Bezug zur Klimakrise deutlicher: Eine dezentrale, flexible Produktion kann schneller – agiler auf Programmierdeutsch – auf Veränderungen reagieren und ist damit resilienter in Krisen. Was allerdings nötig ist, ist der Aufbau flexibler Strukturen und eine intelligente Steuerung der dezentralen Prozesse. Darin besteht die notwendige Transformationsleistung. Denn was mit Software gelingt, könnte auch mit Hardware jeder Art funktionieren.

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