Legal, aber nicht legitim
Ein Kommentar von Christiane Schulzki-Haddouti
Der feine Unterschied zwischen legal und legitim – er könnte in der Auseinandersetzung um die Rodung des Hambacher Waldes nicht größer sein. Das Beharren der beiden Akteure, die vor über vierzig Jahren eingeschlagene Route nicht zu verlassen, verstößt angesichts der Heißzeit-Studie gegen jede ökologische und ökonomische Vernunft.
Die Rodung des Hambacher Waldes ist bei einem schnellen Kohleausstieg nicht notwendig, zeigt ein Gutachten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung.
Die Politik sollte im Sinne des Gemeinwohls einen schnellstmöglichen Kohleausstieg voranbringen.
Es ist eigentlich nur noch ein kleiner Streifen Wald, der entlang der Abbruchkante des Hambacher Tagebaus noch die Stellung hält. Vom Hitzesommer ist auch er ausgetrocknet: gelbe Herbst-, nein, Spätsommerblätter liegen am Boden. Das dünne Waldband von gerade einmal 200 Hektar ist der Rest eines ursprünglich 4.100 Hektar großen Waldgebiets, das Stück für Stück für den Abbau des denkbar schmutzigsten Energieträgers gerodet wurde: der Braunkohle.
Der Hambacher Wald ist binnen weniger Tage nicht nur lokal, sondern sogar international zum Symbol für eine unentschlossene, wenn nicht sogar tragische Klimapolitik Deutschlands geworden. In der jüngsten Auseinandersetzung um die Rodung des letzten Rests des Hambacher Forsts fallen rasch jede Menge Widersprüche auf.
Zum Beispiel die Behauptung, dass die Kohle unter dem Forst einen beträchtlichen Teil der nordrhein-westfälischen Energieversorgung abdecken würde: So sollen jährlich im Tagebau Hambach rund 40 Millionen Tonnen Braunkohle gefördert werden, mit denen der Energiekonzern RWE 22 bis 25 Milliarden Kilowattstunden Strom erzeugen will. Damit werde rund 15 Prozent des Strombedarfs in NRW abgedeckt, ist etwa bei Spiegel Online oder dem Handelsblatt zu lesen.
Das ist zwar rechnerisch richtig, doch das bedeutet nicht, dass die Kohle unter dem Wald tatsächlich benötigt wird. Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) weist auf eine aktuelle Studie hin, an der sie mitwirkte: Demnach ist die Versorgungssicherheit im deutschen und europäischen Stromsystem auch bei einem beschleunigten Kohleausstieg weiterhin gewährleistet. Deshalb sei die Nutzung des Hambacher Forsts energiewirtschaftlich nicht für die Versorgungssicherheit notwendig. Auch müssten für den Tagebau Garzweiler II fünf Dörfer nicht mehr dem Tagebau weichen. In der Studie heißt es:
„Der Braunkohletagebau in Hambach beschränkt sich in dem schnellen Ausstiegspfad auf 230 Millionen Tonnen, insb. für die Kraftwerke Neurath und Niederaußem. Durch die Verringerung der benötigten Kohlemenge könnte auch auf die Rodung des wegen Naturschutzes schützenswerten Hambacher Waldes verzichtet werden.“
Auch das Timing der Räumungsarbeiten irritiert: Mitte Oktober wird das Oberverwaltungsgericht entscheiden, ob der Wald aus Naturschutzgründen erhalten werden muss. Die DIW-Studie führt an, dass der Hambacher Wald alle Kriterien erfülle, um nach der EU-Richtlinie Flora-Fauna-Habitat ins ökologische Netz „Natura 2000“ aufgenommen zu werden. Er besteht nämlich teilweise aus dem naturschutzrechtlich besonders wertvollen Maiglöckchen-Stieleichen-Hainbuchenwald, in dem über hundert Vogelarten, zehn Fledermausarten, Amphibien und Haselmäuse vorkommen. Diese Vielfalt gebe es nur noch in wenigen der ältesten Wälder in Mitteleuropa.
Genau einen Monat vor der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts aber gab das nordrhein-westfälische Innenministerium den Räumbefehl: 51 Baumhäuser, die Aktivisten in den vergangenen Jahren quer durch den Wald aufgebaut haben, sollen von der Polizei in teils lebensgefährlichen Aktionen „aus Brandschutzgründen“ geräumt werden. Das NRW-Bauministerium argumentierte, dass unter anderem Rettungsleitern fehlten. Nicht nur für die Baumbesetzer, auch für die Polizeigewerkschaften war das ein wenig überzeugendes Argument. Sie forderten die Landesregierung und RWE auf, die Räumung so lange zu vertagen, bis eine politische Lösung im Rahmen der Kohlekommission gefunden ist. Sie soll bis Ende des Jahres einen Plan für den Kohleausstieg in Deutschland erarbeiten.
Dies führt zur nächsten Frage: Warum geht RWE in die Konfrontation? Die bereits erwähnte DIW-Studie kommt zu dem Schluss, dass NRW mit ca. 140 Millionen Tonnen CO2 „der mit Abstand größte CO2-Emittent“ unter den deutschen Bundesländern ist. Außerdem stellt sie fest, dass nur mit der Reduzierung der Braunkohlekraftwerke in Deutschland das sektorale Klimaschutzziel für 2020 sowie für 2030 noch zu erreichen ist. Bei einem schnellen Ausstieg dürften nur noch die zwei modernsten Blöcke in Niederaußem bis 2030 betrieben werden.
Ohne die Kooperation von RWE hat Deutschlands Klimapolitik ein Problem. Vermutlich geht es dem Konzern darum, die Kosten für den schnellen Kohleausstieg mit einer harten Haltung in Hambach in die Höhe zu treiben. Dass die aktuellen Räumungsarbeiten Teil des Verhandlungskalküls sind, legen auch ein Anfang der Woche von Greenpeace veröffentlichtes Rechtsgutachten und eine fachtechnische Analyse nahe. Demnach könnte der Betrieb im Hambacher Tagebuch in diesem Jahr durchaus noch ohne Rodung fortgeführt werden.
Einen Preis nannte RWE-Konzernchef Martin Schmitz vergangenen Donnerstag im Fernsehen: Würde der Wald stehen bleiben, würde das für sein Unternehmen einen Verlust von vier bis fünf Milliarden Euro verursachen. Vier bis fünf Milliarden Euro unter anderem für Stabilisierungsmaßnahmen der Abbruchkante – und für die Nichtverwertung eines Energieträgers, der für die Versorgungssicherheit des Landes nicht mehr notwendig ist. Der aber gleichzeitig dafür sorgt, dass die Braunkohlekraftwerke in NRW zu den größten CO2-Emittenten gehören.
Die von Schmitz genannten Verluste gehen auch von einem bestimmten, zu erzielenden Gewinn aus. Wie der Kohlepreis sich in den nächsten Jahren entwickeln wird, lässt sich aber angesichts der rasant fallenden Preise für regenerative Energien nicht sagen. Eine aktuelle Untersuchung namens „2020 Vision“, die auf der Global Climate Action-Konferenz in San Francisco vorgestellt wurde, geht davon aus, dass der Preisverfall fossiler Energien weitergeht. Bereits 2020 würden Solar- und Windkraft in allen Weltregionen billiger sein als fossile Brennstoffe.
Außerdem ist in Investorenkreisen zunehmend von der „Carbon Bubble“ die Rede. Wenn immer mehr Investoren den Energiekonzernen den Rücken zuwenden, die noch auf fossile Energieträger setzen, dann implodiert das Geschäft möglicherweise früher als den Verhandlern in der Kohlekommission lieb ist. Die RWE-Aktien jedenfalls fallen seit Beginn der Räumungsarbeiten – entgegen dem DAX-Trend. Ob ein direkter Zusammenhang besteht, ist aber noch unklar.
Die Diskussion um die Ausstiegskosten begann, nachdem vergangenen Mittwoch der freie Journalist Steffen Meyn, der die Räumungen seit längerem fast täglich dokumentiert hatte, ums Leben gekommen war. Er war aus rund 20 Metern Höhe gestürzt und Stunden später verstorben. Daraufhin waren die Rodungen vom nordrhein-westfälischen Innenministerium kurzfristig ausgesetzt worden. Am Freitag aber ging es nach kurzer Atempause weiter – mit dem Freiräumen von Rettungswegen. CDU-Innenminister Herber Reul warf den Aktivisten vor, den Räumungsstopp genutzt zu haben, um weitere Baumhäuser zu errichten.
Inzwischen dreht sich der Konflikt um die Frage, wie schnell und wie entschlossen die Politik auf die Klimakrise reagieren will. Welche Priorität räumen die Parteien der Energiewende und dem Klimaschutz ein? Wie schnell können sie Kompromisse schließen, wenn sich die Haltung der Bevölkerung zu dem Thema verändert?
Die Förderungsgenehmigung für das Hambacher Loch hat der Konzern übrigens bereits seit 1977. Noch beruft sich die Politik auf bestehende Genehmigungen und alte Leitentscheidungen, obgleich sich die Vorzeichen drastisch geändert haben. Denn seit zwei Jahren gibt es den Klimavertrag von Paris und damit das Versprechen der Industrienationen „so bald wie möglich“ Klimaschutzmaßnahmen einzuleiten. Das beinhaltet nicht nur die Förderung von CO2-neutralen Energieträgern, sondern auch das schnellstmögliche Abschalten von CO2-schädlichen.
Die Kohlekommission sucht nun nach einem sozialverträglichen Ende der Braunkohle-Förderung. Möglicherweise geht es aber hier um mehr, was ein Vergleich mit der Schlecker-Insolvenz nahelegt: In NRW arbeiten heute laut DIW in der Braunkohlewirtschaft nur noch 8.900 Menschen – ehemals waren es 26.400. Zum Vergleich: Vor der Insolvenz der Drogeriemarktkette Schlecker im Jahr 2012 arbeiteten dort fast 23.000 Mitarbeiter. Die zwischenzeitlich diskutierten staatlichen Transfergesellschaften kamen nie zu Stande. Anders als Schlecker ist RWE aber mitverantwortlich dafür, dass Deutschland die Klimaziele im Jahr 2020 reißt.
Die Politik müsste hier also im Sinne des Gemeinwohls – auch wenn dieses nur national gedacht werden würde – handeln. Das Gegenteil ist jedoch der Fall: Die Regierung des Landes NRW stellt sich hinter die Geschäftsinteressen von RWE, anstatt die Gemeinwohlinteressen zu vertreten. Es ist zwar legal, sich um einen großen Konzern zu kümmern, der bereits über alle erforderlichen Genehmigungen verfügt. Aber mit Blick auf die künftigen Generationen ist das nicht mehr legitim.
Schon unsere Kinder werden mit den katastrophalen Folgen leben müssen, wenn das 2-Grad-Ziel nicht erreicht wird. Eine aktuelle Studie eines norwegischen Technologiekonzerns weist darauf hin, dass selbst bei einem optimistischen Szenario mit einem Temperaturanstieg von 2,6 Grad zu rechnen ist, andere Studien rechnen mit mindestens 3,2 Grad. Die Vereinten Nationen warnen deshalb längst davor, dass viele Megacities entlang der Küsten bei 3 Grad nicht mehr bewohnbar sein werden.
Nach dem Hitzesommer und der alarmierenden Heißzeit-Studie sind viel mehr Menschen für das Thema sensibilisiert. Die Bauern fordern Milliardenhilfen für massive Ernteausfälle, ohne sie auch nur annähernd bekommen zu können. Möglicherweise bleiben uns nur wenige Jahre, um ein Abgleiten in eine Heißzeit noch abzuwenden. Planungen, die bis 2030 oder 2050 reichen, wären demnach bereits obsolet. Angesichts des engen Zeitrahmens sinkt das Verständnis für ein weiteres Taktieren der Politik in der Bevölkerung:
Vergangenen Donnerstag übergaben Vertreter der Bürgerbewegung Campact und der Umweltverbände Greenpeace und BUND mehr als 500.000 Unterschriften von Bürgern für den Erhalt des Hambacher Forstes der NRW-Umweltministerin Ursula Heinen-Esser. Sie waren in einem Zeitraum von nur drei Wochen gesammelt worden. Dabei betonte Tina Seibert von der Jugendorganisation des BUND, dass viele junge Menschen nicht verstehen, dass die Politik angesichts des Klimawandels nicht konsequent genug handelt.
Der renommierte Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber sagte kürzlich in einem lesenswerten Interview mit der Berliner Zeitung, dass seine Hoffnung geschwunden sei, dass die Politik auf die Klimabedrohung angemessen reagieren könne. Die lineare Erzählung, wonach die Politik einfach den Expertenempfehlungen folgen könne, funktioniere nicht. Dagegen würden „ganz viele bunte, chaotische, nicht-lineare Dinge“ in der Gesellschaft immer wieder Hoffnung geben:
„Es gibt fulminante technische Entwicklungen bei den Erneuerbaren Energien. Es gibt viele zivilgesellschaftliche Bewegungen wie das Divestment, also das Abziehen des Kapitals aus den fossilen Brennstoffen, oder die Proteste gegen die unverantwortliche Weiternutzung der Kohle.“
Insofern könnte der Hambacher Wald tatsächlich zum Fanal für einen raschen Ausstieg aus den schmutzigen fossilen Energieträgern werden. Die Entscheidung wird dabei nicht von oben getroffen, sondern von verschiedenen Bewegungen „von unten“ erzwungen.