Klimalösung aus der Natur: Am Mittelmeer entstehen neue Seegraswiesen

Wo früher üppige grüne Unterwasserwiesen zu finden waren, wollen Biologen und Umweltinitiativen Seegräser wieder neu anpflanzen und so Fische, Küsten und Klima schützen. Kritiker warnen vor Fehlern bei der Renaturierung

vom Recherche-Kollektiv Ozean & Meere:
16 Minuten
Vor blauem Himmel wachsen dicht an dicht grellgrüne große Blätter.

Auf keinen Fall will Graziano Caramori die Hoffnung mit Füßen treten. Deshalb trippelt der Italiener vorsichtig durch das hüfthohe Wasser der Lagune von Caleri, während er den Boden vor sich angestrengt absucht. „Irgendwo hier müsste das Tanggras sein“, sagt er, „sofern unsere Zöglinge den Winter überstanden haben.“ Der Biologe von „Life Transfer“, einem von der EU geförderten Renaturierungsprojekt, sucht ein Seegras, das Muschelzüchterinnen hier im vergangenen Jahr unter Wasser in den schlammigen Boden gesetzt haben. Es waren nur ein paar wenige Zentimeter große unscheinbare Halme – und doch steckt Caramori große Hoffnung in sie. Hoffnung auf besseren Schutz von Fischen, Muscheln, Küsten und des Klimas.

Wasserverschmutzung wirkt bis heute nach

Seegräser sind die einzigen Blütenpflanzen, die es schaffen, in Salzwasser zu leben. Sie bilden weite, monoton grüne Teppiche, die auf den ersten Blick weitaus weniger spektakulär wirken als etwa Korallenriffe, tatsächlich aber ein Hotspot der Biodiversität sind. Im offenen Meer entlang der Küsten ist es das Neptungras Posidonia, das bis in über 40 Meter Tiefe große Gebiete besiedelt. Es gilt als „Ökosystem-Architekt“. In den flachen Lagunen, wo sich Fluss- und Meerwasser vermischen, dominieren zwei Arten des Seegrases Zostera sowie das Tanggras (Cymodocea nodosa), das Biologe Caramori an diesem Morgen sucht.

Weiße glatte Wasserlandschaft mit vielen Pfahlen. Auf einem sitzt eine Möwe.
Die Lagune von Porto di Caleri

Über mehr als 40.000 Kilometer erstreckt sich die Küstenlinie des Mittelmeeres – die man sich gemeinhin als Sandstrand mit klarem türkisem Wasser vorstellt. Tatsächlich war bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ein guter Teil davon von Seegraswiesen bedeckt. Die Schätzungen gehen auseinander, aber mindestens ein Drittel der Habitate – manche Forscher sagen die Hälfte – ist verloren gegangen.

Denn über Jahrzehnte hinweg galten die Seegraswiesen als langweilig, ja verzichtbar. Fischer und Muschelzüchter haben sie in Lagunen rund um das Mittelmeer für Aquakulturen beseitigt oder im Meer mit Schleppnetzen, die den Boden abräumen, zerstört. Entlang der Meeresküsten haben Politiker Seegraswiesen zum Beispiel für größere Häfen, Pipelines oder Dämme zubauen lassen. Millionen Bootsurlauber haben sie mit ihren Ankern aufgerissen und binnen Minuten Schäden verursacht, die über Jahre und Jahrzehnte nicht heilen.

Kinderstube der Fischwelt

Aus den Städten, Äckern und Chemiefabriken sickerten und flossen zudem lange Zeit Abwässer, Kunstdünger und Schadstoffe in die Flüsse, die diesen Cocktail dann auf die Seegraswiesen in den Deltas ergossen – zum Teil geschieht das auch heute noch. Zu viel Stickstoff und Phosphor aus der industriellen Landwirtschaft im Wasser führen dazu, dass Algen das Ökosystem überwuchern, bis das Gewässer umkippen und absterben kann. Speziell das Zostera-Seegras hatte bereits in den 1930er Jahre seine erste Krise, als ein Parasitenbefall dazu führte, dass weite Teile der europäischen Bestände kollabierten. Das wirkt teils bis in die Gegenwart nach.

Doch mit dem Verschwinden der Seegraswiesen wuchs die Erkenntnis, dass hier gerade ein wichtiges Ökosystem verloren geht. Mittlerweile überschlagen sich nicht nur Biologen dabei, das Ökosystem Seegraswiese in den Himmel zu loben. Der natürliche Unterwasser-Rasen wird als Kinderstube der Fischwelt und Lebensraum vieler anderer Meeresbewohner gepriesen, also als Hort der Biodiversität – und mehr noch, als potente Klimaschützer.

Landkarte, die Renaturierungsprojekte bei Venedig und im Po-Delta zeigt.
.

Im fernen Brüssel nehmen EU-Strategen sie zusammen mit Mooren und Wäldern in ihre Pläne auf, wie der Atmosphäre das Treibhausgas Kohlendioxid auf natürlichem Weg wieder entzogen werden kann. Beim sogenannten „naturbasierten Klimaschutz“ sollen Seegraswiesen nun eine zentrale Rolle spielen. Einer Analyse von 2012 zufolge speichern sie weltweit zwischen vier und 20 Milliarden Tonnen Kohlenstoff, was – hypothetisch komplett freigesetzt – 14 bis 72 Milliarden Tonnen CO₂ entspräche. Zum Vergleich: Die Menschheit verursachte 2023 durch fossile Brennstoffe rund 38 Milliarden Tonnen CO₂-Emissionen.

Die Seegraswiesen waren einfach weg, es kam zu keiner natürlichen Wiederbesiedlung.

Michele Mistri

Schon seit längerem wird im Mittelmeerraum damit experimentiert, beschädigte Seegraswiesen zu regenerieren oder neu anzulegen. In letzter Zeit gibt es einen regelrechten Boom solcher Projekte. „Life Transfer“, von der EU mit 3,2 Millionen Euro unterstützt, ist eines der führenden Beispiele.

Keine festen Zielzahlen

Die Biologen Graziano Caramori und Michele Mistri haben es sich zum Ziel gesetzt, mit einem Team von Wissenschaftlern verloren gegangene Habitate in vier Lagunen im Po-Delta wiederherzustellen und die Lehren mit Kooperationspartnern in Spanien und Griechenland zu teilen. Zwei Seegräser aus der Gattung Zostera, das Tanggras sowie die Schraubige Salde (Ruppia cirrhosa), eine Brackwasserpflanze, sollen in der Lagunenlandschaft künftig wieder auf großen Flächen gedeihen.

Eine dünne, sumpfige Landzunge, auf der sich Ibisse tummeln, trennt die Lagune von der Adria. Richtung Festland erstreckt sich eine weite Wasserlandschaft, in der Hunderte Pfosten stecken, um die Reviere von Muschelzüchtern abzugrenzen. Caramori drückt die rechte Hand oberhalb der Augen an seinen Kopf, um sich Schatten zu geben und besser zu erkennen, was sich unter der Oberfläche verbirgt. Dann wird er fündig.

Mann in Wathose steht im Wasser und deutet auf einen grünen Fleck unter der Oberfläche.
Fündig geworden: Graziano Caramori deutet auf ein erfolgreich transplantiertes Tanggras.

Eine etwa ein Quadratmeter große Fläche ist von Tanggras bedeckt. Die Pflanze wächst in dichten Büscheln erstmals wieder auf dem Boden der Lagune, ihre etwa 20 Zentimeter langen, sehr dünnen Blätter schlängeln in der Strömung. Zwischen den Fingern fühlt sich das Tanggras weich an, fast wie Haut. „Letztes Jahr haben wir hier nur ein kleines Büschel eingesetzt, seither hat es ein phänomenales Wachstum gegeben“, freut er sich. Auf die Idee, ein Stück abzureißen und in der Runde herumzuzeigen, kommt Caramori nicht – zu wertvoll ist das botanische Implantat. „In zehn Jahren soll hier alles voll davon sein“, sagt der Projektmanager. Die Projektgebiete im Po-Delta umfassen rund 5200 Hektar. Zusammengenommen ergäbe das ein Quadrat mit 7,2 Kilometer Seitenlänge. Genaue Zielzahlen, welcher Anteil davon bis wann bewachsen sein soll, will Caramori nicht nennen. Es sei noch offen, wann ein neues natürliches Gleichgewicht entstanden sei.

Ohne menschliches Zutun keine Chance auf Erholung

Geleitet und koordiniert wird das Projekt von Michele Mistri von der Universität von Ferrara, die knapp 90 Kilometer von der Lagune entfernt liegt. „Den Anstoß hat ein Projekt in der Lagune von Venedig gegeben“, erzählt Mistri, der an diesem sonnigen Apriltag mit in die Lagune hinausgefahren ist. Dort sei es seit 2014 gelungen, rund 20 Quadratkilometer Fläche neue Seegraswiesen entstehen zu lassen. Im Po-Delta dagegen hätten sich weite Flächen bis heute nicht von früheren Umweltbelastungen erholt. „Die Seegraswiesen waren einfach weg, es kam zu keiner natürlichen Wiederbesiedlung“, sagt Mistri. Die Biologen diagnostizierten, dass es mit menschlicher Unterstützung möglich sei, den Lebensraum wiederherzustellen.

Mann Mittfünfziger mit Stoppelbart und Sonnenbrille, lächelt in die Kamera. Er trägt eine rote Jacke, dahinter strahlend blauer Himmel.
Der Biologe Michele Mistri, Koordinator von „Life Transfer“

Doch angesichts einer Vielzahl von Renaturierungsprojekten rund um das Mittelmeer gibt es auch kritische und mahnende Stimmen. Französische Forscher um den Meeresbiologen Charles-François Boudouresque von der Universität von Aix-Marseille heben in einer 2021 erschienenen Studie hervor, dass es schwierig sei, genau zu bestimmen, wie viel Seegras verloren gegangen sei. Die Daten für frühere Jahrzehnte seien sehr lückig, präzise historische Vergleiche daher schwierig. Es sei bei den Posidonia-Wiesen übersehen worden, dass sie auch natürlich absterben könnten, wenn nämlich die Matten ihrer Wurzelsysteme so dick werden, dass sie die grünen Pflanzen aus dem Wasser herausdrücken. Zudem sei unterschätzt worden, wie gut sich Seegraswiesen vielerorts ganz ohne Zutun des Menschen erholen könnten. Eine Verlustrate von fünf oder sieben Prozent pro Jahr, wie sie in vielen Studien genannt wird, hält Boudouresque für unmöglich. Dies könne höchstens lokal der Fall sein.

Auch Boudouresque spricht sich dafür aus, den Lebensraum dort, wo es nötig und möglich sei, zu regenerieren. Er fordert dabei aber große Umsicht. So sei es zum Beispiel falsch, Seegraswiesen dort anlegen zu wollen, wo die Art noch nie Fuß gefasst hatte. Man dürfe auch die biologische Bedeutung barer Sandflächen nicht unterschätzen, die ihre eigene Fauna hätten und keine leblose Wüste seien, die unbedingt bepflanzt werden müsse. „Das natürliche Ökosystem, etwa Sandböden und küstennahe Riffe, durch Posidonia oceanica zu ersetzen, ist in den meisten Fällen gänzlich unangebracht“, mahnt er. Der Biologe warnt zudem, Fehler der Vergangenheit zu wiederholen, wie die aus Südfrankreich. Dort sei versucht worden, Seegraswiesen mit industriellen Methoden anzupflanzen, bis hin zum Einsatz vorgestanzter Betonteile als Pflanztöpfe, die auf dem Meeresboden versenkt wurden.

Angst vor Nebenwirkungen: Meeresforscher stellen Kodex für Renaturierung auf

Boudouresque, der mit seinen 82 Jahren schon emeritiert ist, lässt es keine Ruhe, dass die gute Absicht, Seegraswiesen wieder auszuweiten, schlecht umgesetzt werden könnte – gerade jetzt, wo mit dem Klimaschutz eine starke neue Antriebskraft dafür wächst. Er hat deshalb einen Verhaltenskodex aufgestellt. Darin steht, dass durch Seegras-Renaturierungen keine anderen Lebensräume gefährdet werden dürften und sie nur bei guten Erfolgsaussichten begonnen werden sollten. Die beiden wichtigsten Regeln: Die Ursachen des Schwunds müssten vor Beginn der Renaturierung beseitigt worden sein. Und wenn Pflanzen zwischen Gebieten transplantiert werden, dürften keine neuen ökologischen Schäden entstehen.

In flachem Wasser eine Fläche mit dem grünen Gras vor der Kulisse der Küste.
Transplantiertes Tanggras.
Hand hält unter Wasser dünne schmale grüne Blätter.
Das Tanggras Cymodocea nodosa

Die Biologen Graziano Caramori und Michele Mistri wollen diese Umsicht im Projekt „Life Transfer“ praktizieren. Die chemische Belastung – vor allem durch Phosphate – sei durch Auflagen der EU so weit zurückgegangen, dass ein Wiederbewuchs möglich sei, sagen sie. In regelmäßigen Abständen überwachen die Wissenschaftler seines Teams die Wasserqualität, messen, wie gut die Seegräser wachsen und untersuchen, wie viel Kohlenstoff die neuen Habitate binden. Einen der wichtigsten Treiber für die Zerstörung von Seegraswiesen – Aquakulturen – versuchen sie zu entschärfen, indem sie mit der Renaturierung eine zusätzliche Einkommensquelle schaffen.

Investition in die eigene Zukunft

Schon im rund 60 Kilometer entfernten Renaturierungsprojekt bei Venedig hat man sich gleich zu Beginn die Frage gestellt, wie es gelingen kann, die örtliche Bevölkerung einzubeziehen – vor allem die Fischer, denen der Schutz der Seegraswiesen früher kein großes Anliegen war. Nach vielen Gesprächen darüber, dass gesunde Seegraswiesen zu mehr Fischnachwuchs führen, entstand eine Partnerschaft. Die Fischer der Region leisteten die Pflanzarbeit im Wasser und wurden dafür bezahlt. „Die Fischer haben die Naturschutzarbeit auch als Investition in ihre eigene Zukunft gesehen“, sagt Mistri. Mehr als 80.000 Stecklinge wurden ausgebracht – und sie wuchsen so gut an, dass es inzwischen möglich geworden sei, ohne ökologischen Schaden einzelne Pflanzen zu entnehmen und für das neue Projekt im Po-Delta zu spenden. Es waren dann auch venezianische Fischer, die im vergangenen Jahr vorsichtig einzelne Pflanzen aus ihren regenerierten Seegraswiesen ausgegraben und in weißen Plastiksäckchen verpackt haben, um sie dem neuen Projekt im Po-Delta zu übergeben.

Frau mit schwarzen Haaren in blauem Anorak lacht.
Cristina Maria Pullara von der Artemisia-Genossenschaft.

Naturschutzarbeit als Zubrot

In Empfang genommen haben die Transplantate Kolleginnen aus einer Genossenschaft namens Artemisia, die sich der Muschelzucht im Po-Delta verschrieben haben. Es ist die einzige Firma in diesem Sektor, die nur von Frauen geleitet und betrieben wird. Vom Projekt „Life Transfer“ hat die Cooperativa Artemisia den Auftrag bekommen, das Tangggras anzupflanzen. Denn auch im Po-Delta sollen die Nutzer der Lagune direkt profitieren. Die Gründerinnen von Artemisia sind an diesem Morgen ebenfalls mit in die Lagune ausgefahren, um das Tanggras nach der Winterpause aufzuspüren. Cristina Maria Pullara hat früher in der Verwaltung von Firmen gearbeitet, ihre Mitstreiterin Virgilia in der Modebranche. Dann entschlossen die beiden gemeinsam, mit Muschelzucht künftig mehr Zeit in der Natur zu verbringen und zugleich für die Umwelt etwas Gutes tun zu wollen. Die Naturschutzarbeit ist für sie ein wichtiges Zubrot.

Ein Quadratmeter Seegras kann genauso viel CO₂ aufnehmen wie ein Quadratmeter Regenwald und das 35 Mal schneller.

Marcel Kuypers, Max-Planck-Institut für marine Mikrobiologie

Als Caramori ihnen das üppig gewachsene Fleckchen zeigt, sieht man beiden an, wie begeistert sie sind. „Es tut wirklich gut, diese Heilung anzustoßen“, sagt Pullara. Sie erzählt davon, dass es bei ihren männlichen Kollegen durchaus noch Ängste davor gebe, durch das Naturschutzprojekt Flächen für die Muschelzucht zu verlieren. Für sie sei aber klar, dass man aus einer Lagune nicht immer nur Ware entnehmen könne, sondern auch etwas zurückgeben müsse. Seegraswiesen seien nicht nur gut für die Artenvielfalt und speicherten CO₂, sie reinigten auch das Wasser, was für die Muschelzucht wichtig sei. „Ich denke, auch hier wird sich noch die Idee durchsetzen, dass wir für eine gesunde Wirtschaft auch eine gesunde Natur brauchen“, sagt Pullara.

Um noch größere Dimensionen als bei den Seegräsern der Lagunen geht es beim Neptungras, das die Küsten des Mittelmeers besiedelt. Posidonia – wie das Gras mit lateinischem Namen heißt – bildet riesige, bis in vierzig Meter Tiefe reichende Habitate. Die Pflanzen gelten mit ihren bis zu 50 Zentimeter langen Blättern als regelrechte Wunderpflanzen für Biodiversität und Klimaschutz. Zum Habitat gehört auch die sogenannte „Matte“, eine Terrasse aus verflochtenen Rhizomen und Wurzeln, die Sedimente festhält. Diese schwächt Wellen ab und stabilisiert die Küstenlinie. Experten sparen nicht mit Superlativen: Sie stufen Posidonia-Wiesen als einen der reichhaltigsten und wichtigsten Küstenlebensräume und eines der produktivsten und komplexesten ozeanischen Ökosysteme ein.

Portraitfoto der blonden Frau, sie lächelt
Nicole Dubilier, Direktorin am Max-Planck-Institut für Marine Mikrobiologie
Schneise in Seegraswiese.
Schiffsanker reißen riesige Schneisen in die Seegraswiesen.
Tiefblaues Meer über Seegraswiese.
Seegraswiesen sind Kinderstube und Zufluchtsorte für viele Fischarten.
Taucher über einem silberfarbenen Gestell, das in einer Seegraswiese steht.
Freitaucher kontrollieren die Unterwasserversuche des Max-Planck-Instituts im Seegras.

Das Neptungras erzeugt alle sechs bis acht Jahre olivengroße Samen, die im Meer umhertreiben und, sofern sie an einer geeigneten Stelle landen, neue Pflanzen erzeugen können. Wichtigster Treiber für die Bestände ist aber die Vermehrung der Gräser über Quertriebe, sogenannte Rhizome. Durch diese Spielart der Klonung entstehen riesige Bestände, die zu einer einzigen Pflanze gehören können. Wissenschaftler schätzen, dass manche Seegraswiesen deshalb zu den ältesten Organismen der Welt zählen und viele Tausend, vielleicht sogar viele Zehntausend Jahre alt sein könnten.

Neptungras bildet Zuckerspeicher im Boden

Dabei speichern die Posidonia-Seegräser auch enorme Mengen Kohlenstoff. „Ein Quadratmeter Seegras kann genauso viel CO₂ aufnehmen wie ein Quadratmeter Regenwald“ und das 35 Mal schneller, sagt Marcel Kuypers vom Max-Planck-Institut für marine Mikrobiologie in Bremen. Früheren Berechnungen zufolge speichern marine Seegraswiesen rund eine Tonne Kohlenstoff pro Jahr und Hektar, was dem Wert von ungestörtem Amazonaswald entspricht, einzelne marine Wiesen bringen es sogar auf knapp sieben Tonnen.

Den Großteil des Kohlenstoffs lagert Posidonia dabei nicht in den Blättern ein, sondern vor allem im Wurzelwerk und im Boden. Bei Forschungsarbeiten rund um Elba – über die ARTE gerade eine sehenswerte Doku bietet – haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für marine Mikrobiologie um Nicole Dubilier und Marcel Kuypers herausgefunden, dass das Neptungras intensiv mit Bakterien kooperiert und dabei riesige Mengen Saccharose im Boden einlagert. Den Zucker umgeben die Pflanzen mit einem Bitterstoff, der Bakterien abschreckt und einen schnellen Zerfall verhindert.

Taucher an einer Seegraswiese greift nach einem Samen.
Manuel Marinelli bei der Arbeit als „Meeresgärtner“.
Ganzes Neptungras liegt auf dem sandigen Meeresboden, die Wurzeln sind zu sehen.
Einen erheblichen Teil des Kohlenstoffe speichert das Neptungras in den Wurzeln, Trieben und im Boden.

Allein rund eine Million Tonnen Zucker, schreiben die Forscher in einer Studie, lagere weltweit im Meeresboden unter Neptungräsern. „Wenn die Seegräser zerstört werden, dann werden diese Berge von Zucker frei und es entsteht sehr viel CO₂ innerhalb kürzester Zeit“, sagt Dubilier. Der Zucker mache aber wiederum nur einen kleinen Teil des gesamten gespeicherten Kohlenstoffs aus.

Nicht sexy, aber reich an Arten

Wie dramatisch schnell Seegraswiesen trotz einer reduzierten Gift- und Düngerfracht in der Umwelt absterben können, hat der österreichische Meeresbiologe Manuel Marinelli erlebt. Schon im Studium Anfang der 2000er Jahre ist Marinelli immer wieder nach Istrien gefahren, wo es in der Nähe von Pula eine Forschungsstation gibt. „Eines der Highlights dort war immer der Tauchgang in der Hausbucht, die wirklich voll war mit herrlichen Seegraswiesen“. Man habe mit einem kleinen, für die Forschung bestimmten Kescher nur zwanzig Meter durch die Wiesen tauchen müssen, „und da waren hundert verschiedene Arten drin, Garnelen, Schnecken, kleine Fische, alles Mögliche, und immer wieder auch Arten, die wir noch nie zuvor gesehen hatten“. Mit ihren monoton grünen Farben wirkten die Seegraswiesen auf den ersten Blick „nicht sexy“, sagt der Biologe, „aber ihre ökologische Rolle ist mindestens genauso wichtig wie die von Korallenriffen.“

Taucher hält Glasbehälter, in den er oder sie olivengroße Samen füllt.
Ein Taucher holt Samen aus einem Glas, um sie an geeigneter Stelle einzupflanzen.

Deshalb saß der Schock tief, als Marinelli vor sieben Jahren nach Pula zurückging, die Sauerstoffmaske aufsetzte und abtauchte. Die vertrauten Posidonia-Wiesen, „waren einfach komplett weg, eine Wüste“, erinnert er sich. Die Frage ließ ihn nicht mehr los, ob das nur ein lokales oder aber ein größeres Problem sei. Dass er, wie er erzählt, nur wenige brauchbare Daten aufspüren konnte, war für ihn der Beginn einer Reise, auf der er sich jetzt seit sechs Jahren befindet. Mit einem Boot und freiwilligen Helfern und Helferinnen fährt Marinelli die Küsten des Mittelmeers ab und kartiert Seegraswiesen. „Leider mussten wir feststellen, dass im Prinzip die nördliche Hälfte der Adria schon relativ leer ist“, sagt er. Um ein lokales Problem habe es sich nicht gehandelt. Verschiedene Auslöser stehen in Verdacht, darunter auch die durch den Klimawandel steigende Wassertemperatur.

„Meeresgärtner“ sehen Transplantation von Pflanzen kritisch

Für Marinelli stand schnell fest, dass er es nicht dabei belassen will, das Problem zu dokumentieren. Deshalb hat er das „Project Manaia“ gegründet, bei dem es darum geht, in Kooperation mit Tauchschulen zumindest in kleinem Maßstab Seegraswiesen wiederherzustellen. Knapp dreißig Tauchschulen entlang der Mittelmeerküsten haben inzwischen ihr Interesse bekundet, mitzumachen. Sie rufen dazu auf, Pflanzenteile einzusammeln, die noch immer von Bootsbesitzern beim Ankern abgerissen werden, und zudem Samen, die es an Land spült. Bei speziellen Kursen weisen die Tauchlehrer dann die Urlauber an, wo man Samen befestigen und wie man Pflanzenteile in den Boden stecken muss, damit neues Leben gedeihen kann. Dabei kommen manchmal sogar biologisch abbaubare Kabelbinder zum Einsatz, um Samen am Fels zu befestigen. Die Nutzung überzähliger Samen gilt als sanfteste Methode der Renaturierung. Transplantationen ganzer Pflanzen sieht Marinelli zumindest bei Posidonia-Projekten kritisch: „Da besteht immer die Gefahr, dass die Entnahme Schäden verursacht“, sagt er.

Wir geben den Anstoß, den Rest muss die Natur machen.

Graziano Caramori

Zum Angebot des Programms mit Tauchschulen gehört auch, am Monitoring mitzuwirken und im nächsten Jahr zu überprüfen, ob das Einpflanzen erfolgreich war. „Das sind kleine Interventionen, aber für den Urlauber entsteht eine deutlich tiefere Beziehung zum Ökosystem Seegraswiese, als wenn er oder sie einfach nur taucht“, sagt Marinelli. Die Deutsche Stiftung Meeresschutz fördert das Citizen-Science-Projekt „Die Meeresgärtner“, das auf der Messe „boot“ in Düsseldorf kürzlich den „Dive Award“ in der Kategorie Klimaschutz bekommen hat. Doch der Fortschritt kommt in kleinen Schritten. „Wir bewegen uns nach wie vor im Quadratmeterbereich, sind also weit weg davon, Fußballfelder zu füllen“, sagt Marinelli.

Neptungras auf dem Meeresboden.
Fische nehmen das neue Biotop in der Nähe der Tremiti-Inseln an. Dazu trägt bei, dass Boote hier nicht mehr ihren Anker auswerfen, weil ihre Besitzer sie an eigens installierten Bojen festmachen können.
Seegras auf Meeresgrund.
In der Nähe der Tremit-Inseln experimentiert der Ökologe Giovanni Chimiento von der Aldo-Moro-Universität im süditalienischen Bari mit Kokosmatten als Untergrund für neue Posidonia-Habitate.

Wie der französische Meeresbiologe Boudouresque macht sich auch Marinelli Sorgen um einen Missbrauch von Renaturierungsprojekten. Ihn erreichen häufig Anfragen, ob man mit der Renaturierung von Seegraswiesen CO₂-Emissionen kompensieren könnte. Dann würde für eine Tonne Kohlendioxid eine bestimmte Summe an ein Naturschutzprojekt bezahlt. Der Käufer, zum Beispiel eine Firma, könnte behaupten, seine Emissionen ausgeglichen zu haben und deshalb „klimaneutral“ zu sein. Das hält der Meeresbiologe aber beim heutigen Wissensstand für „völlig unseriös“. Niemand könne verlässlich sagen, was ein bestimmtes Stück renaturierter Seegraswiese an Kohlenstoff speichere. Er könnte für seine Arbeit viel Geld damit verdienen, sagte er, lehne dies aber kategorisch ab. „Das wäre Greenwashing pur“, sagt er. Hinzu kommt, dass es in der Klimabilanz auch von intakten Seegraswiesen noch Forschungsbedarf gibt. Denn die Pflanzen setzen in ihrer Kooperation mit Mikroorganismen Methan frei, das in der Atmosphäre zwar kurzlebiger ist als Kohlendioxid, aber über hundert Jahre betrachtet 28-mal stärker zur Erwärmung beiträgt. Auf der anderen Seite wurde bisher kaum berücksichtigt, wie viel Kohlenstoff in den Kalkschalen von Meeresorganismen gebunden ist, die in Seegraswiesen ihren Lebensraum haben. Es gibt in jedem Fall noch viele Lücken zu schließen.

Wärmeres Meerwasser wird nur dem Tanggras nicht gefährlich

Auch die Biologen Graziano Caramori und Michele Mistri machen für die Caleri-Lagune keine Versprechungen, wieviel CO₂ sich konkret einsparen lässt. Ihnen reicht es, mit der Anpflanzung von Seegräsern einen positiven Prozess in Gang zu setzen. In der Lagune von Caleri sind die Macher des Projekts „Life Transfer“ und die Muschelzüchterinnen der Artemisia-Genossenschaft erleichtert, dass das im vergangenen Jahr eingesetzte Tanggras den Winter überstanden hat und neue Blätter bildet. Die Truppe kehrt beschwingt von ihrer Exkursion zum Bootsanleger zurück. Caramori schaut zufrieden auf das glatte, hellblaue Wasser hinaus, in dem er gerade noch gewatet ist. „Wir geben den Anstoß, den Rest muss die Natur machen“, sagt er. Nach Abschluss des Projekts würden die neuen Seegraswiesen so viele Samen produzieren, dass sie auch andere Lagunen besiedeln könnten. Für das Tanggras, das in der Lagune eine neue Zukunft bekommen soll, stehen die Chancen gar nicht schlecht. Es ist unter den mediterranen Seegräsern das einzige, das mit steigenden Wassertemperaturen klarkommt. Für Zostera und Posidonia dagegen ist nach der chemischen Verschmutzung und nach den Bauorgien früherer Jahre der Klimawandel samt des unvermeidlichen Anstiegs des Meeresspiegels die nächste große Gefahr – auch für ihre Fähigkeit, Kohlendioxid aus der Atmosphäre fernzuhalten oder wieder zu entfernen.

Das Projekt „Zukunft Mittelmeer – wie wir Natur und mediterrane Vielfalt bewahren“ wird gefördert von Okeanos-Stiftung für das Meer.

Sie haben Feedback? Schreiben Sie uns an info@riffreporter.de!
VGWort Pixel