„Kein Darm, kein Po – und trotzdem froh“
Nicole Dubilier forscht seit Jahren im Mittelmeer. Ihr Interesse gilt vor allem Würmern, die nie essen, sondern von Bakterien ernährt werden.
Dieser Artikel ist Teil unserer Recherche-Serie „Zukunft Mittelmeer – wie wir Natur und mediterrane Vielfalt bewahren“
Ganz nah an den Urlaubsstränden des Mittelmeers ist ein Wunder der Evolution zu Hause, der Wurm Olavius algarvensis. Nicole Dubilier, Direktorin des Max-Planck-Instituts für marine Mikrobiologie in Bremen, hat ihn berühmt gemacht und verrät auch sonst noch einige Geheimnisse des Mittelmeers.
Tomma Schröder: Frau Dubilier, was war ihr eindrucksvollstes Mittelmeer-Erlebnis?
Nicole Dubilier: Mein Mann ist ein großer Segler und wir wollten zusammen von Hydra nach Kos segeln. Plötzlich verwandelte sich das vorher praktisch glatte Meer und es begann zu stürmen, mit so heftigen Windböen, dass ich dachte: „Oh, das Mittelmeer ist doch sehr groß! Wenn wir jetzt untergehen, dann ist die Frage, ob man uns dann findet?“ Ich habe immer wieder meinen Mann angeguckt und hatte absolutes Vertrauen – was mir sonst eher schwerfällt. Aber wenn nur einer wirklich segeln kann und man ist auf dessen Fähigkeiten angewiesen, da muss man sich einfach vertrauen. Dass dieses Vertrauen absolut da war, und wir sicher angekommen sind, das war ein sehr schönes, spannendes Erlebnis.
Was wissen Sie über das Mittelmeer, was sonst kaum jemand weiß?
Dubilier: Weil ich viel segle, weiß ich, dass die Internetverbindung auf dem Mittelmeer viel besser ist als in weiten Teilen Deutschlands. Aber damit mache ich mir jetzt wahrscheinlich keine Freunde… Also etwas anderes, was immer wieder vergessen wird: Das Mittelmeer war ja lange Zeit trocken. Deswegen sind die meisten Arten erst vor 5, 3 Millionen Jahren vom Atlantik dorthin gekommen. Es bietet deshalb eine einzigartige Möglichkeit, Arten-Einwanderungen in einem großen Meer zu verfolgen. Und dann leben dort natürlich auch unsere Würmer, die kennt sowieso keiner!
Die Würmer – die sind Ihr Forschungsgegenstand. Erzählen Sie, was macht Olavius algarvensis, diesen gerade mal zwei Zentimeter langen Wurm so besonders?
Dubilier: Also der Wurm hat keinen Mund, keinen Darm, keinen Po. Und dann haben wir gereimt: …und ist trotzdem froh! Er lebt von Bakterien, die ihn vollständig mit Nahrung versorgen und auch seine Stoffwechselprodukte entgiften. Deshalb hat er im Laufe der Evolution sein komplettes Verdauungssystem verloren. Man kennt Nahrungssymbiosen von Korallen und Algen. Aber die Energie für die symbiontischen Algen bei Korallen liefert das Licht. Bei dem Wurm sind es chemische Verbindungen.
Die meisten Lebewesen leben ja letztlich von Pflanzen, die wiederum auf Licht als Energiezufuhr angewiesen sind. Der Wurm beziehungsweise seine Symbionten, die Bakterien, die brauchen also weder Licht noch Pflanzen?
Die leben nicht von der Fotosynthese, sondern von der Chemosynthese. Diese Form der Symbiose ist zum ersten Mal an heißen Quellen entdeckt worden. In der Tiefsee gibt es kein Licht, aber reduzierte chemische Verbindungen wie Schwefelwasserstoff. Jeder, der im Watt war und mal ein bisschen gegraben hat, weiß, das stinkt dann so nach faulen Eiern – das ist Schwefelwasserstoff. Dieses Gas gibt sehr viel Energie frei, wenn man es oxidiert, also mit Sauerstoff zusammenbringt. Und diese Energie wird von den Bakterien verwendet, um CO2 in Zucker umzuwandeln. Das ist sehr spannend, weil sich Zoologen über Jahrhunderte immer wieder gewundert haben, dass es Tiere mit einem reduzierten Darm gibt. Sie fragten sich: Wie ernähren die sich? Erst vermuteten sie, dass sie die Nährstoffe über die Haut aufnehmen. Erst als man an den heißen Quellen diese riesigen Röhrenwürmer entdeckt hat, ohne Mund und ohne Darm, hat man verstanden, dass die voller symbiotischer Bakterien sind. Dann sind die Zoologen zurückgegangen zu den flachen Gewässern, auch zum Beispiel zu Olavius algarvensis, an dem wir arbeiten, und fanden dort auch symbiontische Bakterien.
Das heißt, dass es im Mittelmeer, dort wo der Wurm lebt, auch nach faulen Eiern riecht?
Dubilier: Eben nicht. Um das verstehen zu können, habe ich sehr, sehr viele Jahre Arbeit hineingesteckt. Wir konnten über lange Zeit keinen Schwefelwasserstoff im Mittelmeersediment messen. Wir fanden immer nur sehr, sehr wenig, vermutlich weil es sofort oxidiert wurde. Aber wenn man mindestens 30 Zentimeter in die Tiefe geht, stößt man auf geringe, aber offenbar für den Wurm ausreichende Schwefelwasserstoffmengen. In der Tiefe gibt es dann allerdings keinen Sauerstoff mehr. Und deshalb muss der Wurm wandern: immer nach unten für den Schwefelwasserstoff und wieder nach oben für den Sauerstoff.
Wo genau kommt dieser Wurm denn vor? Kann ich ihn beim Urlaub am Strand auch sehen?
Dubilier: Wir finden ihn in relativ flachen Küstenregionen. Aber man muss schon wissen, wo man nachschauen sollte. Wir gehen vor allem nach Elba, weil wir wissen, dass wir dort an einer bestimmten Stelle immer Tausende von Würmern sammeln können. Wir waren auch ein paar Mal auf Mallorca, einmal in Frankreich. Da suchen wir dann erstmal mehrere Tage, bevor wir fündig werden, ein sehr mühsames Geschäft! Aber generell kommen sie im gesamten Mittelmeer vor. Mein Team möchte jetzt nach Zypern und nach Israel, also ins östliche Mittelmeer, um herauszufinden, wie die Würmer das Mittelmeer vom Atlantik oder vom Suez-Kanal besiedelt haben.
Wohin führt denn Ihre nächste Mittelmeer-Reise?
Dubilier: Wieder nach Elba zu unserem Wurm-Hotspot. Eigentlich hätte es nach Mallorca gehen sollen, weil es dort die Forschungsstation IMEDEA gibt und die Universität der Balearischen Inseln, an der befreundete Kollegen arbeiten. Als ich zu meinem spanischen Kollegen Ramon Rosselló-Mora gesagt habe: „Wir suchen hier auch einen Standort“, zeigte er mir Fotos von alten Leuchttürmen und sagte, dass man da vielleicht etwas machen könnte. Tatsächlich stehen die meisten Leuchttürme leer, werden nicht mehr bewohnt. Die Hafenbehörde und die Regierung suchen nach sinnvollen Wegen, diese wunderschönen Gebäude zu nutzen.
Das heißt, Sie ziehen demnächst in einen Leuchtturm auf Mallorca und machen dort eine Zweigstelle des Max-Planck-Instituts für marine Mikrobiologie auf?
Dubilier: Zumindest die alte Regierung auf Mallorca, die sehr großes Interesse an der Erhaltung der Natur und einem sanfteren Tourismus hatte, unterstützte die Idee sehr und versprach auch, zwei Millionen Euro hineinzustecken, um den Leuchtturm zu renovieren. Aber im Moment geht es nur sehr, sehr langsam voran. Daher fahren wir erstmal wieder nach Elba.
Kriegt Ihr Wurm dort denn bei den derzeitigen Rekord-Temperaturen im Mittelmeer die Krise oder nimmt er das ganz gelassen?
Dubilier: Das werden wir diesen Sommer sehen. Der Wurm ist ja noch geschützt vom Sand oder Sediment, da ist es ja gerade im Sommer immer ein paar Grad kühler.
Das gilt ja leider nicht für alle Arten. Und zudem gibt es zahlreiche weitere Krisen im Mittelmeer: Verschmutzung, Versauerung, Lärm und Verkehr. Haben Sie irgendetwas davon besonders unmittelbar erlebt?
Dubilier: Am direktesten kann man das jetzt an den Seegräsern sehen. Die blühen viel häufiger als früher, und man vermutet, dass das auch an der Erwärmung liegt. Ich habe gerade gehört, dass angeblich auch ganz viele Blätter schon braun werden. Normalerweise sterben die erst im Herbst ab. Das ist erschreckend. Wenn die Seegraswiesen jetzt so schnell abbauen wie die Korallenriffe, dann würde das die Artenvielfalt im Meer nochmal stärker dezimieren – in einer Geschwindigkeit, die ich mir so nicht hätte vorstellen können.
Das Projekt „Zukunft Mittelmeer – wie wir Natur und mediterrane Vielfalt bewahren“ wird gefördert von Okeanos – Stiftung für das Meer.