Stickstoff: Von der Mangelware zur Überdosis
Anne Preger erzählt in ihrem neuen Buch die Geschichte eines Elements, das lebenswichtig ist – und zugleich hochumstritten
Alle Lebewesen auf diesem Planeten brauchen Stickstoff, um wachsen und gedeihen zu können. Und eigentlich ist dieses nährende Element im Überfluss vorhanden; die Luft besteht zu fast 80 Prozent daraus [siehe Kasten]. Doch nur wenige Lebewesen sind imstande, Luftstickstoff von Natur aus zu nutzen. Weshalb es eigentlich ein Segen war, dass Forscher Anfang des 20. Jahrhunderts eine Methode fanden, Luftstickstoff einzufangen und in Dünger zu verwandeln.
Inzwischen ist aus der epochalen wissenschaftlichen Entdeckung jedoch ein Fluch geworden, wie unsere Flugbegleiter-Kollegin Anne Preger in ihrem gerade erschienenen Buch beschreibt. Sein Titel: „Globale Überdosis. Stickstoff – die unterschätzte Gefahr für Umwelt und Gesundheit“ (413 S., Quadriga, 22 €).
Anne Preger nimmt ihre Leserïnnen mit auf eine Reise. Die Stationen in Deutschland hat sie überwiegend selbst besucht, aber sie zeigt, an zahlreichen Beispielen, auch die globalen Auswirkungen dieser Stickstoff-Überdosis auf Böden, Grundwasser, Biodiversität und Gesundheit.
Und sie besucht Menschen, die an Lösungen für diese Probleme arbeiten: die Agrarexperïnnen am Versuchsgut Lindhof in Schleswig-Holstein etwa, die demonstrieren, wie Milch so produziert, dass möglichst wenig Stickstoff in die Umwelt gelangt. Oder die fränkischen Landwirte und Müllerinnen, die Stickstoff sparen und damit Methoden zum Anbau von Weizen in Backqualität entwickelt haben, die das Grundwasser schonen.
Dabei schafft es die Autorin – studierte Geoökologin – dieses vielschichtige, hochkomplexe Thema auch für Chemie-Muffel verständlich darzustellen – zugleich aber wissenschaftlich fundiert, mit zahlreichen Quellen und Studien belegt. An vielen Stellen ist das Buch einfach witzig – etwa, wenn sie im Kapitel über den Prozess, Stickstoff aus der Luft zu gewinnen, für alle Zwischenüberschriften Titel von Popsongs wählt.
Was das Buch unserer Kollegin aber vor allem besonders macht: Es stellt eines der drängendsten und zugleich am meisten unterschätzten Umweltprobleme zum ersten Mal umfassend und allgemeinverständlich dar.
Joachim Budde:Bevor wir unter der globalen Stickstoff-Überdosis litten, von der Du in Deinem Buch schreibst, hatten die Pflanzen größte Schwierigkeiten mit der Stickstoffakquise. Es gibt viel davon in der Luft, aber für die Lebewesen ist er kaum verfügbar [siehe Kasten]. Wie löst die Natur diese Knappheit?
Anne Preger: Für mich ist es total erstaunlich, welche Wege die Evolution dafür eingeschlagen hat. Besonders faszinierend finde ich die fleischfressenden Pflanzen. Sonnentau zum Beispiel frisst Insekten, aber warum eigentlich? Weil er im Hochmoor wächst, wo Stickstoff totale Mangelware ist. Der Sonnentau lässt sich den Stickstoff frei Haus liefern von Insekten, die ihn anderswo gefressen haben. Das ist eine Speziallösung für die Stickstoffakquise. Viel weiter verbreitet sind Lebensgemeinschaften, die Pflanzen zum Beispiel mit Pilzen eingehen, die sehr gut darin sind, Stickstoff aus dem Boden verfügbar zu machen. Der ultimative Trick ist natürlich, sich mit Lebewesen zusammenzutun, die es schaffen, Luftstickstoff anzuzapfen. Es gibt Bakterien, die das können. Pflanzen wie Klee oder Bohnen und Luzerne bilden an ihren Wurzeln kleine Knöllchen, in denen sie diesen Bakterien ein kuscheliges Zuhause bieten, sie mit Zuckerverbindungen versorgen und dafür Stickstoff bekommen.
Der Mensch braucht für seine Landwirtschaft große Mengen Stickstoff und hat Pflanzen wie Klee als Zwischenfrucht benutzt, um ausgelaugte Felder aufzupeppen. Aber irgendwann dauerte ihm das zu lang und er hat sich andere Quellen gesucht. Auch bei denFlugbegleiternhast Du ja schon malüber diese „beschissene Idee“ mit Seevogelkot geschrieben…
Ob die Idee wirklich beschissen war, kommt auf die Perspektive an. Schon vor mehr als 1000 Jahren haben Menschen im Norden des heutigen Chile Vogelkot als Dünger genutzt. Das haben Archäologieteams herausgefunden. Denn dieser Guano ist sehr stickstoffreich und enthält noch andere wertvolle Nährstoffe wie Phosphor. Auf Inseln vor der Pazifikküste von Südamerika stand der Kot viele Meter hoch an. Die Inka haben ihre Guano-Lieferanten geschätzt und geschützt. Es war bei ihnen offenbar sogar verboten, die Inseln zur Brutzeit zu betreten oder Seevögel zu töten. Bei Todesstrafe. Dass es dann auch in Europa und in Amerika zu einer regelrechten Guano-Manie gekommen ist, daran ist letztendlich der Forschungsreisende Alexander von Humboldt schuld. Anfang des 19. Jahrhunderts hat er Guano von seinen Reisen aus Südamerika mitgebracht und als naturwissenschaftlicher Influencer seine chemisch interessierten Kollegen dazu gebracht, sich mit Guano als Dünger auseinanderzusetzen. In den folgenden Jahrzehnten haben sich unter anderem die Europäer Guano in Massen von der Pazifikküste Südamerikas geholt, und das war leider sowohl für die Vögel schlecht als auch für die Menschen, die den Guano unter absolut menschenunwürdigen Bedingungen abgraben mussten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war das Geschäft mit diesem „weißen Gold“ vorbei, weil es einfach nicht mehr genug Vogelkot zum Abbauen gab.
Seit Anfang des 20. Jahrhunderts sind wir Menschen selbst in der Lage, Stickstoff in seiner reaktiven Form aus der Luft zu holen. Die Entwicklung dieser Technik ist ja eine spannende Geschichte, die Du detailliert erzählst. Wie funktioniert diese Technik und wie hat sie bewirkt, dass wir es heute mit einer Überdosis Stickstoff zu tun haben?
Das Außergewöhnliche, das dem deutschen Chemiker Fritz Haber und seinem Team gelungen ist: Sie haben im Labor unter extremem Druck und extremen Temperaturen die beiden fast unzertrennlichen Stickstoffatome in der Luft doch separieren und mit Wasserstoff verbinden können. Am Ende tropfte Ammoniak aus der Reaktionsanlage. Daraus konnte man Dünger und später auch Sprengstoff machen. Das war – ganz verkürzt – der Anfang. Carl Bosch von BASF hat dieses Prinzip innerhalb kürzester Zeit in einen Prozess umgewandelt, der im großen Stil funktioniert. Dieses Haber-Bosch-Verfahren ist im Grunde wie eine Gelddruckmaschine. Wir können immer neues Geld, neues Stickstoff-Geld drucken. Das hat die Menschheit seitdem in stetig steigender Menge gemacht.
Beim Stichwort „Geld drucken“ denke ich sofort daran, dass irgendwann mehr Geld im Umlauf ist als die Wirtschaft verträgt. Auf Stickstoff übertragen: mehr als die Umwelt verträgt.
Es ist zu viel da, viel zu viel …
… die Überdosis …
Genau. Das größte Problem für die Natur ist, dass wir durch den reaktiven Stickstoff, den wir zusätzlich in Umlauf bringen, in vielen Lebensräumen die Kräfteverhältnisse verändern. Nicht alle Pflanzen profitieren gleichermaßen davon, dass auf einmal reichlich Stickstoff vorhanden ist und jeder sich sattfuttern kann. Die genügsamen Arten, die langsam wachsen, sind ja eigentlich an eine Welt des Mangels angepasst. Die geraten ins Hintertreffen, werden nach und nach verdrängt und sterben lokal sogar aus. Wer sich die Rote Liste der bedrohten Pflanzenarten anguckt: In Deutschland führt sie fast jede dritte Pflanzenart als gefährdet auf. Aber unter den genügsamen Arten ist es jede zweite, diese sind also besonders von der Nährstoff-Überdosis beeinträchtigt.
Eine dieser Hungerkünstler ist der Sonnentau, von dem wir schon gesprochen haben. Da könnte man ja meinen: „Na gut, ein bisschen mehr Dünger kann ihm nicht schaden, dann braucht er weniger Fliegen zu fangen.“ Warum ist das ein Denkfehler?
Wo Sonnentau mehr Stickstoff aus der Luft bekommt, braucht er in der Tat weniger Fliegen zu fangen. Das Problem ist nur: Viele andere Pflanzen kommen auf einmal an diesem kargen Standort viel besser klar und überwuchern den Sonnentau einfach. Das sieht man auch in den Wäldern. Die kriegen ja sowieso aus ganz vielen menschlichen Quellen Extra-Stickstoff ab: Durch Gartenbesitzerïnnen, die ihren Rasenschnitt am Waldrand abladen, durch Hundehalterïnnen, die sich eine Plastiktüte für den Kot sparen (anstatt ihn mitzunehmen, was besser wäre, trotz Plastiktüte), und natürlich durch Straßenverkehr, Kraftwerke, Industrie und Landwirtschaft. Ammoniak, Stickoxide und andere stickstoffhaltige Verbindungen in der Luft rieseln über Wind, Staub und Regen auf die Wälder nieder. Am Waldboden wachsen normalerweise zum Beispiel Blaubeeren, die sind ziemlich genügsam. Die werden aber ähnlich wie Sonnentau mehr und mehr von Brombeeren verdrängt, wenn die plötzlich genug Stickstoff im Boden finden. Da verschieben sich die Kräfte.
Überall Brombeeren und Brennnesseln, überall dieselben Pflanzen – ist das die McDonaldisierung der Natur, von der Du schreibst?
Genau. Und das hat wiederum Folgen für Vögel, etwa im Wald. Es gibt Untersuchungen aus Westfalen zu Baumpiepern, die darunter leiden. Die Brennnesseln verändern das Mikroklima am Waldboden, es wird feuchter und kühler. Und das ist für einen bodenbrütenden Vogel wie den Baumpieper und seinen Nachwuchs negativ.
Ein wichtiges Argument für all den Kunstdünger ist, dass wir ohne ihn die Weltbevölkerung nicht mehr ernähren könnten. Was ist da dran?
Meinen Recherchen zufolge ist da ziemlich viel dran. Man muss es aber differenziert sehen. Es gibt Regionen auf der Welt – zum Beispiel viele Gegenden im Afrika südlich der Sahara – wo schon ein bisschen mehr Stickstoff die Ernten deutlich verbessern könnte. Schätzungen zufolge wird aktuell etwa die Hälfte der Menschheit mithilfe von Kunstdünger ernährt. Und die Weltbevölkerung wächst ja noch weiter. Wenn wir versuchen würden, die Menschheit ohne Kunstdünger zu ernähren, würde das dazu führen, dass wir eine viel, viel größere Anbaufläche bräuchten, um die gleiche Menge an Lebensmitteln zu ernten.
Heißt das, wir sind dazu verdammt, Stickstoff-Junkies zu bleiben?
Nein. Wir müssen aber deutlich effizienter mit Stickstoff umgehen und den Stickstoffkreislauf geschlossener halten. Also anstatt immer mehr zusätzlichen Stickstoff mit Haber-Bosch aus der Luft zu holen und die Menge an reaktivem Stickstoff auf dem Planeten immer weiter zu vergrößern, sollten wir sämtlichen reaktiven Stickstoff, den wir schon haben, effektiver nutzen. Wissenschaftler vom Potsdam Institut für Klimafolgenforschung haben Zukunftsszenarien entwickelt, wie wir zehn Milliarden Menschen nachhaltig und gesund ernähren können, ohne die Belastungsgrenzen des Planeten etwa in Hinblick auf Stickstoff zu übertreten.
Welche großen Stellschrauben müssen wir bewegen, um von der Überdosis runterzukommen?
Wir müssen Dünger sehr viel effizienter einsetzen als heute. Vom Dünger sollte mehr in der Ackerpflanze und am Ende eben auf dem Teller landen, weniger in der Umwelt, wo er Schaden anrichtet für unsere Gesundheit oder die Natur. Wir sollten weniger Kohle, Erdöl und Erdgas in Kraftwerken oder in der Industrie verbrennen – also Energie sparen – und weniger Auto fahren. Jeder Einzelne sollte viel weniger tierische Produkte essen als das Menschen in Deutschland im Schnitt heutzutage tun. Denn pflanzliche Lebensmittel lassen sich in der Regel stickstoffeffizienter herstellen als tierische Produkte. Ein weiterer wichtiger Punkt ist unsere Vorratshaltung: Wir sollten versuchen, weniger Lebensmittel in der braunen Tonne landen zu lassen, sondern sie zwei, drei Tage vorher zu essen, solange sie noch gut sind.
Das sind ja alles Maßnahmen, die auch zur Bekämpfung der Klimakrise, zur Eindämmung des Flächenverbrauchs und zum Stopp der Biodiversitätskrise nötig wären …
Das ist doch eigentlich zauberhaft. Dass wir mit diesen Maßnahmen gleich mehrere positive Effekte erzielen können: die Stickstoffbelastung der Umwelt reduzieren, den Klimawandel bremsen, Lebensraum und bessere Lebensbedingungen für viele Arten erhalten. Wir befinden uns in einer Win-Win-Win-Situation. Johan Rockström, der Leiter des Potsdamer Instituts für Klimafolgenforschung, spricht vom „Musketier-Effekt“: Einer für alle, alle für einen. Es gibt Maßnahmen, die für mehrere der großen globalen Fragen unserer Zeit Lösungsansätze bieten.