Wie die tunesische Phosphatindustrie den „Kindergarten des Mittelmeers“ zerstört
Tunesiens Düngemittelhersteller leitet seit mehr als fünfzig Jahren hochgiftige Abfälle ins Wasser und zerstört die einzige Oase direkt am Mittelmeer
Dieser Text ist Teil unserer Recherche-Serie „Zukunft Mittelmeer – wie wir Natur und mediterrane Vielfalt bewahren“.
Ein Flüsschen windet sich zwischen Palmen durch die Oase, an seinem Ufer reitet ein Mann auf einem Maultier. Kleine Wellen schwappen sanft an den Strand. Es sind idyllische Szenen, die alte Fotos der tunesischen Stadt Gabes zeigen. Die einzige Oase, die direkt am Mittelmeer liegt, eine der wenigen Küstenoasen weltweit. Es hätte so schön sein können, auch heute noch. Doch von der Idylle ist wenig geblieben. Dort wo früher der Mann auf dem Maultier ritt und Kinder im Wasser plantschten, sind heute nur noch staubige Pfade übrig. „Wir sind eine Stadt ohne Seele“, sagt Khayreddine Debaya.
Das idyllische Gabes von früher kennt der Designer nur aus Erzählungen und von alten Bildern. Die Oase ist heute in weiten Teilen ausgetrocknet, die Palmen verdorrt. Im trockenen Flussbett liegen Müll und alter Bauschutt, über der Stadt ein stechender Geruch. Der Strand ist schwarz, hin und wieder werden tote Fische oder Schildkröten angeschwemmt. Dabei kommen rund zwei Drittel des tunesischen Fischbestands aus der Region. Besonders für seine Sardinen ist Gabes bekannt.
Das Versprechen der Modernisierung
Nachdem Tunesien 1956 von Frankreich unabhängig geworden ist, sollte das Land modernisiert werden. „Traditionelle Fischerei und Oasen-Landwirtschaft seien rückständig, wurde den Leuten eingebläut. Industrialisierung wurde als Lösung verkauft und die Leute haben es akzeptiert“, erzählt der Aktivist des Kollektivs „Stop Pollution“.
1972 eröffnen im Norden der Stadt, direkt am Meer, die staatlichen Chemiewerke (Groupe Chimique Tunisien, GCT). Tunesiens damaliger Präsident Habib Bourguiba verspricht Wohlstand, Entwicklung, blühende Landschaften. Mehr als fünfzig Jahre später ist von diesen Versprechen wenig geblieben. Rund ein Viertel der mehr als 300 000 Einwohner des Verwaltungsbezirks sind arbeitslos, die Bevölkerung krank, das Meer auf Kilometern klinisch tot. Rund um die Werke haben sich weitere Firmen aus der Chemieindustrie angesiedelt, auf einer Fläche, die größer ist als das Stadtzentrum.
Die täglichen Abfälle sind schwerer als der Eiffelturm
Die Chemiewerke verarbeiten Phosphat, das in den Bergen um die Stadt Gafsa nahe der algerischen Grenze abgebaut wird. Daraus werden hauptsächlich Düngemittel hergestellt, die dann in die ganze Welt verschifft werden, auch nach Europa.
Das Hauptproblem für das Meer: Das Phosphorgips, das bei der Produktion anfällt, wird ungefiltert ins Wasser gepumpt. 14 000 Tonnen pro Tag sind es, mehr als das Gewicht des Eiffelturms, rund fünf Millionen Tonnen pro Jahr, und das seit mehr als fünfzig Jahren. Es ist schwach radioaktiv und mit Schwermetallen belastet, die bei der Reinigung des Phosphats freigesetzt werden.
Massiver Rückgang der Fischarten
„Das Wasser ist sehr stark belastet, unter anderem mit Blei und Cadmium.“ Der Biologe Zaher Drira forscht an der Universität Sfax zu Meeresverschmutzung und hat unter anderem den Schwermetallgehalt im Wasser in der Region untersucht. „Diese reichern sich dann in Fischen, Tintenfischen, Muscheln und anderen Lebewesen an.“
Die Schäden, die der Phosphorgips im Golf von Gabes hinterlassen haben, sind immens. Im Umfeld von zwei bis drei Kilometern der Stelle, wo die zähflüssige, braune Brühe eingeleitet wird, hat sich eine meterdicke Schicht auf dem Meeresgrund angesammelt. Erst in drei Kilometern Entfernung wachsen wieder erste Seegräser. Waren Ende der 1960er Jahre, bevor die Fabrik ihre Arbeit aufnahm, vor Gabes noch mehr als 250 verschiedene Fischarten heimisch, sind es heute nur noch rund fünfzig.
„Dabei ist der Golf von Gabes eine Region, die für das Gleichgewicht des Mittelmeers sehr wichtig ist“, erklärt Aktivist Khayreddine Debaya. „Hier gibt es so viele verschiedene Algenarten wie sonst nirgendwo in der Region. Er ist ein wichtiger Laichgrund für Fische und für die Eiablage von Meeresschildkröten.“ Doch das Ökosystem hat in den letzten Jahren stark an Biodiversität eingebüßt. Um mehr als 90 Prozent sei sie zurückgegangen, sagt das Kollektiv „Stop Pollution“.
Überleben dank der Gezeiten
Wissenschaftliche Studien wie die Arbeiten von Zaher Drira bestätigen die Beobachtungen der Aktivisten. Die Region sei eigentlich der „Kindergarten des Mittelmeers“, immens wichtig für die Biodiversität. Doch immer häufiger komme es zu einer Algenpest, die Eutrophierung sei höher als anderswo. „Seit drei Jahren beobachten wir immer mehr rote Algenblüten. Dabei werden große Mengen tote Fische angeschwemmt.“ Gleichzeitig gehen die Seegraswiesen aus Neptungras zurück. Dies sei direkt auf die Einleitung der Abwässer der chemischen Industrie zurückzuführen, so der Wissenschaftler.
Dass dort überhaupt noch etwas wächst, führt Drira darauf zurück, dass der Golf von Gabes den größten Tidenhub im Mittelmeer aufweist, also den größten Unterschied zwischen Niedrig- und Hochwasser. Dadurch komme es zu einem Wasseraustausch, der die Schadstoffe verdünne und immerhin soviel Sauerstoff zuführe, dass die Lebewesen in den rund 60 Quadratkilometern vor Gabes, die akut von der Verschmutzung betroffen sind, trotzdem noch überleben. „Das ist ein kleines Wunder.“
Enttäuschte Hoffnung auf Stilllegung der Anlage
Obwohl die Probleme, die von den Chemiewerken verursacht werden, seit Jahrzehnten bekannt sind, hat sich erst mit der tunesischen Revolution von 2011 etwas getan. Seitdem könne man zumindest öffentlich über die Probleme reden, erzählt Aktivist Khayreddine Debaya. In der Aufbruchsstimmung nach dem politischen Umbruch hatte sich damals auch „Stop Pollution“ gegründet.
2017 tat sich zum ersten Mal ein Lichtblick auf. Die jahrelangen Proteste der Zivilgesellschaft der Region schienen erfolgreich zu sein: Die damals amtierende Regierung beschloss, die aktuelle Anlage stillzulegen. Diese war schon veraltet, als sie 1972 in Betrieb ging. Eine neue Fabrik sollte an einem neuen Standort aufgebaut werden – auf dem neusten Stand der Technik und mit minimaler Belastung für Bevölkerung und Umwelt. Machbarkeitsstudien wurden in Auftrag gegeben, verschiedene Standorte und Budgets diskutiert. Die Umsiedlung sollte das teuerste Projekt in der Geschichte des Landes werden. Vier Milliarden Dinar (rund 1,2 Mrd Euro) wurden dafür veranschlagt. In acht Jahren sollte alles erledigt sein.
Doch das Projekt scheiterte. Die Bevölkerung des neuen Standortes Menzel Habib und lokale Gremien wurden übergangen und sperrten sich gegen die Ansiedlung. Man habe Fehler in der Kommunikation begangen, gab der damalige Gouverneur der Region zu.
Akute Bedrohung und fatale Langzeitfolgen
Khayreddine Debaya glaubt nicht an diese Lesart. Die ganze Geschichte sei durch die Behörden kalkuliert gewesen, da sie die Verlegung gar nicht hätten finanzieren können. „So können sie sagen, sie hätten ja alles versucht, aber die Bevölkerung war dagegen. Das ist eine klassische Taktik.“ Leider sei sie aufgegangen: Ein Teil der Aktivisten sei in die Falle getappt, hätte sich zerstritten und die Bevölkerung des neuen Standorts beschuldigt, am Scheitern des Umzugs schuld zu sein. „Das hat uns sehr viel Elan und Energie gekostet.“
Der Umweltaktivist kämpft trotzdem weiter. Denn seine Stadt sei eine tickende Zeitbombe. Neben den fatalen Langzeitfolgen der Phosphatverarbeitung und anderer chemischer Industrie für Bevölkerung, Landwirtschaft und Fischerei kommt es im Industriegebiet immer wieder zu Unfällen. 2021 explodierte eine Asphaltzisterne, sechs Menschen starben. Im Jahr zuvor brannte es drei Mal in einer naheliegenden Fabrik, die Ammoniumnitrat produziert. Die Feuer konnten schnell gelöscht werden. „Zum Glück, denn dort lagern 10 000 Tonnen. Das ist fast viermal mehr als die Menge, die bei der verheerenden Explosion in Beirut in Flammen aufgegangen ist.“ Diese hatte im August 2020 mehr als 200 Menschen getötet, den Hafen und anliegende Stadtviertel der libanesischen Hauptstadt zerstört. „Wir müssen ganz, ganz dringend eine Lösung finden.“
Arbeitsplätze oder Umweltschutz?
An den Chemiewerken und dem umliegenden Industriegebiet hängen Arbeitsplätze. Die GCT ist einer der größten Arbeitgeber der Region, landesweit beschäftigt sie insgesamt rund 6500 Personen. Doch diese Arbeitsplätze seien nicht zukunftsfähig, argumentiert Debaya, man müsse lieber jetzt schon in neue Branchen und Technologien investieren. „Die Anlagen sind längst amortisiert und haben ihre Lebensdauer überschritten.“ Außerdem ist der Phosphatabbau in Tunesien seit der Revolution wegen sozialen Auseinandersetzungen in den Abbaugebieten massiv zurückgegangen, genauso auch seine wirtschaftliche Bedeutung. War das Land vor 2011 noch einer der wichtigsten Exporteure, wurde es längst von anderen überholt. Zuletzt wurden in der Westsahara und Norwegen große Phosphatreserven entdeckt. Diese sind außerdem deutlich weniger verunreinigt als das tunesische Phosphatgestein.
Da der Betrieb in wirtschaftlichen Schwierigkeiten stecke, blieben außerdem zuerst die Programme zum Umweltschutz auf der Strecke. Auf der Webseite des Unternehmens steht noch ein Umweltplan für den Zeitraum 2009 bis 2020. Kaum eines der Projekte wurde demnach umgesetzt. Die Pressestelle war bis Redaktionsschluss nicht für eine Stellungnahme zu erreichen. Das wirtschaftliche Argument zähle also heute in Gabes nicht mehr, stattdessen müsse man retten, was noch zu retten sei, meint Debaya.
Hohe versteckte Folgekosten der Umweltverschmutzung
Eine von der EU finanzierte Studie zu den wirtschaftlichen Folgen der Industrieverschmutzung aus dem Jahr 2018 kommt zu dem Schluss, dass die Degradierung der Umwelt die Region umgerechnet rund 23 Millionen Euro jährlich kostet. Fast die Hälfte treffe die Fischerei, ein Drittel den Tourismus, der Rest verteilt sich auf Landwirtschaft und gesundheitliche Folgen. Viele Fischer haben in Gabes in den letzten Jahren aufgegeben, da sich die Arbeit für sie nicht mehr rentiert. Andere sind auf verbotene Grundschleppnetze umgestiegen, um den Fang zu steigern, was mittelfristig den Fischbeständen und dem Ökosystem noch zusätzlich schadet.
Kann der Golf von Gabes noch gerettet werden?
Für Khayreddine Debaya ist der Kampf gegen das Chemiewerk in Gabes eine persönliche Herausforderung. „Das ist ein Überlebenskampf. Die Oase ist Teil meiner Identität. Wenn ich sehe, wie sie jeden Tag weiter zerstört wird, wie die Leute an Krebs sterben, die depressive Stimmung in der Stadt, dann verpflichtet und motiviert mich das, weiterzumachen.“ Auch der Biologe Zaher Drira hat leise Hoffnung, dass es für das Mittelmeer rund um Gabes noch nicht zu spät ist. Denn die Schäden seien nicht so massiv, wie in anderen Gebieten, die er untersucht hat. Trotz der jahrzehntelangen Ablagerungen seien die Indikatoren besser als zum Beispiel in der Region Taparura, nördlich von Sfax, wo bis in die 1980er Jahre ebenfalls Phosphorgips eingeleitet wurde. Die Region wurde seit Mitte der 2000er Jahre umfassend gereinigt. „Doch das Ökosystem ist dort so zerstört, dass nichts mehr zu machen sei. In Gabes kann man es mit viel Anstrengung heute noch retten.“
Doch nichts deutet im Moment darauf hin, dass sich etwas ändere. Zwar habe Präsident Kais Saied schon lange, bevor er in die Politik ging, immer wieder seine Solidarität mit der Bewegung beteuert, erzählt Aktivist Khayreddine Debaya. Doch seit der inzwischen autoritär regierende Politiker 2019 sein Amt angetreten hat, sei die Situation wieder so aussichtslos und verfahren wie vor der Revolution. In anderen Ländern würde das Unternehmen vielleicht pleite gehen und abgewickelt werden. Aber in Tunesien werden auch marode Unternehmen vom Staat oft jahrelang einfach weitergeführt, ohne dass die großen Haushaltslöcher Konsequenzen haben.
Das Projekt „Zukunft Mittelmeer – wie wir Natur und mediterrane Vielfalt bewahren“ wird gefördert von Okeanos-Stiftung für das Meer.