Liebeserklärung an die Klappergrasmücke
Wie ich mich in einen Vogel verguckte, der sich kaum blicken lässt – und dennoch mehr als andere die Nähe des Menschen sucht
Ich kenne sie seit über 50 Jahren, aber fast nur vom Hören. Ihre Stimme ist unverwechselbar; sie hat ihr den Beinamen „Müllerchen“ eingetragen – weil die Menschen, die sie vor einigen hundert Jahren benannten, sich davon an das Klappern eines Mühlrads erinnert fühlten. Ich habe ihren Gesang noch mithilfe einer Schallplatte gelernt; sie selbst habe ich seitdem kaum gesehen.
Und wenn ich ehrlich bin, habe ich es auch selten versucht. Die Klappergrasmücke gehört zu diesen kleinen, graubraunbeigefarbenen Vögeln, die anhand äußerer Merkmale nur schwer zu unterscheiden sind – das hat sie mit den meisten Rohr- und Laubsängerarten gemeinsam. Und sie macht es Beobachterïnnen zusätzlich schwer dadurch, dass sie meist in dichtem Gebüsch herumturnt.
Ihre Stimme: ein zartes Klappern. Oder eher ein Klingeln?
Vor Kurzem aber habe ich sie endlich näher kennengelernt. Genauer gesagt: Sie hat dafür gesorgt, dass ich sie kennenlerne. Dadurch habe ich mich in sie – ja, sprechen wir es ruhig aus: verliebt. Ich habe erkannt, was diesen kleinen, unscheinbaren Vogel so besonders und unverwechselbar macht. Und bin darüber, vermutlich auf Lebenszeit, zum Klappergrasmückenfan geworden.
Ihre Stimme hat mir schon immer einen kleinen Kick gegeben. Zum einen, weil man sie nicht oft hört. Die Klappergrasmücke ist rund zehnmal seltener als ihre häufigste Verwandte, die Mönchsgrasmücke. Höchstens 330.000 Brutpaare leben in Deutschland. Zum anderen ist ihr Gesang wirklich speziell. Mich erinnert er weniger an Mühlradklappern als an das Klingelsignal eines Telefons aus der Wählscheibenära. Aber auch der Vergleich passt nur so halb, denn das Klingelklappern der Grasmücke klingt weicher und zarter.
Hier habe ich sie aufgenommen – an einem Maimorgen in der Lüneburger Heide. Dreimal lässt erhebt sie die Stimme; im Hintergrund rufen Kuckuck, Goldammer und Singdrossel.
Es gibt noch einen dritten Grund, weshalb sie mich immer aufhorchen lässt: Sie singt an den unmöglichsten Orten – dort, wo ich weder sie noch andere Singvögel erwarten würde. Auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums. Zwischen Bürogebäuden am Hamburger Hafen. Oder, wie dieses Jahr, vor einem Baumarkt im Gewerbegebiet unserer Kreisstadt.
Wenn ich mich umschaue, um herauszufinden, wo sie sitzt, sehe ich meist nur ein paar mickrige Büsche auf einer von Asphalt umgebenen Grasinsel. Oder eine schmalen Heckenstreifen, neben dem ständig Autotüren klappen, Passanten vorbeilaufen. Es ist, als hätte die Klappergrasmücke eine sportliche Präferenz für unwirtliche Brutplätze entwickelt; unwirtlich jedenfalls für kleine, scheue Insektenfresser, wie es Grasmücken sind.
Nah am Menschen – und zugleich fast unsichtbar
Es gibt eine biologische Erklärung für dieses Verhalten – dazu gleich mehr. Ich habe aber außerdem noch eine eigene Theorie, weshalb es gerade Klappergrasmücken an naturferne, stark von Menschen geprägte Biotope zieht. Die Theorie beruht freilich nicht auf Wissenschaft, sondern nur auf persönlichem Erleben. Sie besagt, dass die kleinste der fünf heimischen Grasmückenarten eine diebische Lust am Versteckspiel hat. Sie testet jedes Jahr aufs Neue aus, wie nahe sie Menschen, speziell Vogelbeobachterïnnen, kommen kann, ohne entdeckt zu werden.
In diesem Frühjahr hat sie mich ausgetestet. Ich habe, wenn auch nur knapp, bestanden – und zur Belohnung einen faszinierenden Einblick ins Familienleben von Sylvia curruca bekommen, mit der Folge, dass sie mir nachhaltig ans Herz gewachsen ist.
Das Versteckspiel begann in unserem Garten, der in einem mäßig naturnahen norddeutschen Dorf liegt. Der erste Spielzug der Grasmücke war, dass sie sich dort wie auch in der näheren Umgebung zum ersten Mal seit über 20 Jahren nicht hören ließ. Ich war beunruhigt. Wenn ein nicht sehr häufiger Vogel, der sonst zuverlässig am gleichen Ort singt, plötzlich verstummt, dann ist das oft ein Zeichen, dass es der gesamten Population nicht gut geht.
Die Klappergrasmücke war aber nicht verschwunden. Im Gegenteil: Anfang Juni entdeckten wir ihr Nest. Genau gesagt, mein Mann entdeckte es, als er morgens die Fenster unseres Wohnzimmers öffnete. Direkt davor steht eine rund 1,60 Meter hohe Berberitze. Beim Blick in diesen Busch fiel meinem Mann eine kaum faustgroße Verdickung auf, keine zwei Armlängen entfernt, aber durch die Dornenzweige gut abgeschirmt. Hätte sich nicht gerade in diesem Moment etwas Winziges in diesem Knubbel geregt – er hätte das Fenster wieder geschlossen, und wir hätten nie erfahren, dass ein Klappergrasmückenpaar direkt vor unseren Fenstern eine Familie gegründet hatte.
Ein Nest, kaum größer als ein Teetasse
Die geschlüpften Jungvögel hatten uns, theoretisch, tagelang allabendlich beim Lesen oder Fernsehen zusehen können. Mich packt noch nachträglich das schlechte Gewissen, wenn ich daran denke, wie oft unsere Wohnzimmerbeleuchtung sie am Einschlafen gehindert hat, wie oft wir tagsüber ihre Eltern beim Füttern gestört haben. Denn der Busch, in dem ihr Nest lag, steht nicht nur direkt vorm Haus, sondern auch an einem häufig begangenen Kiesweg durch unseren Vorgarten.
Ich stellte Garten- und sonstige Arbeiten nach dem Fund weitgehend ein und verbrachte stattdessen Stunden damit, den Grasmückeneltern beim Füttern zuzusehen. Schlug zunächst im Svensson nach, um sie sicher zu bestimmen, und lernte, dass sie sich von der fast gleichgroßen Dorngrasmücke nur durch einen einheitlich graubraunen Rücken unterscheidet. Ich stellte fest, dass die Eltern fast immer fast gleichzeitig zum Füttern anflogen, zum Teil in Abständen von weniger als fünf Minuten, und dass in dem kaum mehr als teetassengroßen Nest vier Junge ihre Schnäbel aufsperrten.
Einmal ist es mir sogar gelungen, die Eltern beim Füttern zu filmen – durchs Wohnzimmerfenster, daher ohne Ton. (Und mit einer nicht besonders guten Smartphone-Kamera, sorry für die Qualität)
Wir hatten die vier Grasmücken-Küken übrigens gerade noch rechtzeitig vor dem Ausfliegen entdeckt: Wenige Tage später sah ich vom Wohnzimmer aus das das erste aus dem Busch zu Boden plumpsen. Als ich hinausgehen wollte, um nach ihm zu sehen, landete einer der Altvögel wenige Schritte vor mir, mit demonstrativ abgespreiztem linkem Flügel. Wieselte wie eine Maus auf unserem Hof herum, bewegte sich sogar, laut zeternd, kurz ins Innere unserer Garage – alles, um mich vom Betreten unseres Vorgartens abzuhalten.
Es war einerseits fast komisch anzusehen, wie heftig sich der kleine Vogel ins Zeug legte. Zugleich aber spürte ich die existenzielle Panik, die ihn antrieb. Mir wurde bewusst, was ich beim Beobachten oft kaum registriere oder verdränge: wie verletzlich so ein Vogelleben ist, wie viel Kraft und Raffinesse Vogeleltern aufwenden müssen, um ihren Nachwuchs heil durch die ersten Lebenswochen zu bringen, und wie riskant gerade die ersten Stunden und Tage sind, die die Jungvögel außerhalb des Nests verbringen.
Erster Gedanke morgens: Ist die Vogelfamilie noch komplett?
Ich ging wieder ins Haus, damit die Grasmückenfamilie wenigstens vor mir ihre Ruhe hatte. Aber in Gedanken blieb ich bei ihr. Ich hatte die vier Küken und ihre Eltern zu lange beobachtet, um nicht in Sorge um sie zu sein, nicht einen winzigen Teil jenes Dauerstresses nachzufühlen, in dem sie leben mussten. Morgens beim Aufwachen dachte ich zuerst an die Kleinfamilie. Ob die Jungen die Nacht heil überstanden hatten? Waren ihre Eltern wachsam genug gewesen, um sie vor der größten Gefahr zu schützen, die ihnen in unserem Garten drohte: den Katzen, die unsere Nachbarn leider auch zur Brutsaison Tag und Nacht frei herumlaufen lassen?
Das herauszufinden, war jeden Tag eine Herausforderung, denn die Grasmücken versteckten sich gründlich wie eh und je, in den dicht belaubten Büschen unseres Gartens und der Umgebung. Und sie kommunizierten untereinander nur pianissimo, in den feinen, schwer lokalisierbaren Ticklauten, die zur artübergreifenden Universalsprache vor allem kleiner Singvögel gehören. Ich lernte jedoch bald, die Grasmücken aus den übrigen Vogelstimmen herauszuhören – auch weil sie ihre „Ticks“ mit einem weiteren Laut kombinierten, der klang, als würde jemand ein winziges Messerchen über einen Schleifstein ziehen. Jedes Mal, wenn ich diesen Laut hörte, atmete ich innerlich auf: Sie waren also noch da.
Und wenn ich dann den Busch lokalisiert hatte, aus dem sie riefen, konnte ich, mit etwas Geduld, nach und nach auch alle Familienmitglieder aufspüren. Sie huschten, nach Grasmückenart, ständig von einem Zweig zum anderen. Und demonstrierten nebenbei, wie sie und ihre Verwandten ursprünglich zu ihrem Namen kamen: „Grasmücke“ kommt vom mittelhochdeutschen „gra smucka“, das heißt, frei übersetzt, „grauer Schlüpfer“.
Dieses Detail las ich einige Tage später im "Großen Buch der Gartenvögel“, dass der Biologe und Naturführer Uwe Westphal geschrieben hat. Ihn habe ich kürzlich angerufen, um mehr über meine Gartengäste zu erfahren. Denn je länger ich sie beobachtete, desto mehr erkannte ich, wie wenig ich über sie und ihre nächsten Verwandten wusste.
Fünf Grasmückenarten gibt es in Deutschland
Ich hatte gerade mal die „basics“ parat: dass es in Deutschland fünf ihrer Gattung gibt, außer Klapper- noch Mönchs-, Garten-, Dorn- und Sperbergrasmücke, und dass die Mönchsgrasmücke die mit Abstand häufigste von ihnen ist, weil sie als einzige im Herbst nicht ins tropische Afrika zieht, sondern nur ans Mittelmeer und nach England. Was ihre Überlebenschancen natürlich deutlich erhöht.
Was die fünf Arten aber sonst noch unterscheidet oder auch verbindet – Nahrungsvorlieben, Habitatansprüche, regionale Verbreitung – darüber wusste ich wenig bis nichts. Und schon gar nicht konnte ich mir erklären, weshalb die Sylvia curruca ausgerechnet vor unseren Fenstern Quartier bezogen hatte.
Uwe Westphal sind Grasmücken schon deshalb vertraut, weil er seit vielen Jahren regelmäßig Vögel kartiert, also systematisch zählt – in einem Gebiet südlich von Hamburg, in dem vier der fünf Arten vorkommen. Dort beobachtet er, was auch deutschlandweite Studien ergeben haben: Die verschiedenen Grasmückenarten gehen sich in der Regel strikt aus dem Weg. Und zwar nicht obwohl, sondern gerade weil sie eng miteinander verwandt sind. Das ergebe ökologisch auch Sinn, sagte Westphal: Da alle fünf ein ähnliches Nahrungsspektrum haben – Insekten, Spinnen, Beeren – und ähnliche Nistplätze bevorzugen – dichtes Strauchwerk in Bodennähe – vermeiden sie Konkurrenz, indem sie verschiedene Habitate besetzen.
Die Mönchsgrasmücke, Generalistin unter den fünf, ist die Einzige, die häufig in Wäldern vorkommt; sie lässt sich aber auch in naturnahen Gärten nieder. Die Gartengrasmücke dagegen meidet das Biotop, das sie in ihrem Namen trägt; sie besiedelt vor allem ausladende Hecken am Waldrand, vor allem an feuchten Stellen. Die Dorngrasmücke wiederum zieht Hecken und Feldgehölze in der offenen Landschaft vor, Gleiches gilt für die seltene Sperbergrasmücke, die allerdings fast nur im Osten Deutschlands vorkommt, vor allem auf warmen, artenreichen Brachflächen.
Es klappert im Garten, an der Straße, auf dem Friedhof
Auch die Klappergrasmücke ist, von Natur aus, eine Bewohnerin offener und halboffener Landschaften. Sie hat aber zusätzlich eine ökologische Nische erobert, die ihre Verwandten eher meiden: Grünflächen innerhalb menschlicher Siedlungen, von Friedhöfen über Baumschulen und Kleingartenkolonien bis zu Reihenhausvorgärten und Verkehrsinseln. Wie naturnah diese Flächen gestaltet sind, kümmert sie wenig – Hauptsache, es stehen Büsche drauf. Und zum Brüten zieht sie jene vor, die ihre Verwandten eher meiden, und die für ökobewusste Gärtnerïnnen ein rotes Tuch sind: Nadelgehölze wie Thuja, Zuckerhutfichten und Kriechwacholder, aber auch den trostlosen Standardbodendecker Cotoneaster. Solange ihr Nest gut verborgen bleibt und die Umgebung genug Nahrung bietet, kommt die Klappergrasmücke klar.
Dass sie in der Berberitze vor unseren Fenstern Quartier bezogen hatten, fand Uwe Westphal daher wenig überraschend: Aus Klappergrasmückensicht sei das geradezu gehobene Wohnlage. Dennoch, sagte er, sei mein Fund ein Grund zu Freude. Denn Sylvia curruca sei von den vier häufigeren heimischen Grasmückenarten diejenige, die er in seinem Zählrevier am seltensten antreffe. Und das, obwohl dieses ideales Habitat für sie aufweise, und obwohl sie im Norden und Osten Deutschlands laut dem „Atlas Deutscher Brutvogelarten“ – kurz ADEBAR – noch am häufigsten vorkomme.
Wie sich die gesamtdeutsche Population der Klappergrasmücke entwickelt – darüber geben auch die ADEBAR-Zahlen keine genaue Auskunft, obwohl sie auf jahrzehntelangen Monitorings beruhen. Zwar werden ab den 1970er Jahren örtlich Abnahmen gemeldet, aber in Mittel- und Norddeutschland scheint der Bestand stabil geblieben zu sein. Ab 1990 wird er als „fluktuierend“ eingestuft, anders gesagt: Es geht mal rauf, mal runter, aber weshalb, weiß niemand, und die generelle Richtung ist unbestimmt.
Vielleicht ist diese Ungewissheit ja ein Beleg für meine Theorie: dass die Klappergrasmücke einfach zu gern Verstecken mit ihren Beobachterïnnen spielt?
Vor etwa zwei Wochen begann sie wieder zu singen in unserem Garten[AP1] und der Nachbarschaft. Manchmal antwortet ihr sogar eine zweite, wenige hundert Meter entfernt. Vielleicht einer von den Jungvögeln, die mittlerweile, gut einen Monat nach dem Ausfliegen aus dem Nest, längst eigene Wege gehen. Und schon mal für die nächste Brutsaison üben. Aber das ist wieder nur eine subjektive Theorie.
Ich meine, aus dem zarten Klappern neuerdings eine Botschaft herauszuhören. Sie lautet: Hier sind wir! Komm und such uns.
Zum Abschluss noch ein kurze Video-Zusammenfassung unserer Erlebnisse mit Sylvia curruca, mit Original-Soundtrack aus unserem Garten. Die Aufnahmen zeigen, wie schwer Klappergrasmücken zu filmen sind. Aber zumindest die Jungen – drei von den vieren – haben sich einmal kurz gemeinsam präsentiert. (Nochmals sorry für die Qualität; ich habe mittlerweile eine neue Kamera).