Wale in deutschen Gewässern!
Die Meeresforscherin Anja Gallus erzählt von Orcas in der Ostsee, falsch abgebogenen Buckelwalen und cleveren Schweinswalen
Dieser Text ist Teil unserer Recherche-Serie „Zukunft Nordsee und Ostsee – wie sich unsere Meere verändern“.
Frau Gallus, die Welt der Meerestiere wandelt sich derzeit ja sehr, im April kam sogar ein Buckelwal in die Flensburger Förde geschwommen. Können wir bald auf Whale-Watching-Tour gehen an unseren Küsten?
Anja Gallus: In der Nordsee werden tatsächlich vermehrt Großwale beobachtet. Zwar sehr, sehr weit weg von der Küste, aber in den letzten Jahren hat die Anzahl dort zugenommen. Wir hatten auch schon mal Orcas in der Ostsee. Doch eigentlich ist sie für Großwale wie Buckelwale und Finnwale, die sich vor allem von Krill und kleinen Schwarmfischen ernähren, zu klein, zu flach und es gibt zu wenig Futterfische. Aber beim Segeln hat man die Chance, unsere heimischen Schweinswale zu beobachten, je weiter westlich man in der Ostsee unterwegs, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit. Also leider kein Whale-Watching an deutschen Küsten!
Was suchte dann der Buckelwal in Flensburg?
Sein Besuch war eine absolute Ausnahme. Vermutlich handelt es sich um ein Jungtier, das zum ersten Mal von den Fischgründen im Norden in die tropischen Regionen wanderte und dann einfach falsch abgebogen ist – dem Hering hinterher, der im April in die Ostsee einströmt. Und Ende Juni wurde östlich von Rügen ein toter Buckelwal gesichtet. Doch bevor das Schiff des Wasser- und Schifffahrtsamtes ihn bergen konnte, trieb er in polnische Gewässer.
Was zieht denn die Wale neuerdings in die Nordsee?
Wir wissen es noch nicht. Sie wurden in diesem Frühsommer im so genannten „Entenschnabel“ gezählt. Das ist ein Offshore-Gebiet, der letzte Zipfel von deutschen Gewässern in der Nordsee, der interessant ist für Windparkbauer. Nun müssen die Ministerien verhandeln, wie der Ausbau der Windkraft und der Artenschutz miteinander vereinbart werden können.
Sind Wal-Vorkommen ein Hindernis für den Bau eines Windparks? Oder andersrum gefragt: Stören Windparks Wale?
Ja, absolut. Meistens werden die Windräder in den Meeresboden gerammt, wie ein ganz dicker Nagel. Dabei entsteht natürlich enormer Lärm, der sich über duzende Kilometer ausbreitet. Und es ist ja nicht eine Anlage alleine, sondern es sind viele für viele Windparks.
Inwiefern schadet der Lärm den Walen?
Schweinswale müssen täglich ungefähr zehn Prozent ihres Körpergewichts fressen und sind daher sehr opportunistische Fresser. Das heißt, wenn sie keine fetten Heringe finden, weichen sie auf kleine, dünne Fische aus. Für Untersuchungen wurde ein Schweinswal mit einem Sender ausgestattet, der unter anderem auch aufzeichnet, wie oft das Tier sein Maul öffnet. Herausgekommen ist, dass er bis zu 500-mal pro Stunde nach einem Fisch greift. Der Lärm stört die Tiere beim Fischfang. Schweinswale nutzen Klicklaute, um ihre Beute zu lokalisieren. Durch das empfangene Echo weiß der Schweinswal wie groß der Fisch ist, wie schnell und in welche Richtung er sich bewegt. Wenn die Tiere bei dieser intensiven Nahrungssuche durch Umgebungslärm gestört werden, können sie unter anderem ihr eigenes Echo nicht mehr hören und keine Beute fangen.
Mehr Meereslärm mindert also den Jagderfolg und damit ihre Vitalität?
Genau. Wenn Weibchen immer wieder gestört werden beim Fressen, weil sie nichts hören oder ihre Beute nicht lokalisieren können, hat das einen enormen Effekt für das Individuum, aber auch auf die Population im Ganzen. Eine hungrige Wal-Mutter ist nicht kraftvoll genug, um ihr Junges zu säugen. Sie säugen bis zu zehn Monaten, danach ist das Jungtier selbständig. Direkt im Anschluss werden die Weibchen oftmals wieder schwanger und müssen die Doppelbelastung von Schwangerschaft und Nahrungssuche tragen.
Lässt sich der Lärm reduzieren?
Im Fall der Windräder kann man einen Blasenschleier installieren, eine Art Luftvorhang. Dabei wird am Meeresboden, rund um die Stelle, an der die Windrad-Verankerungen eingerammt werden, eine Art perforierter Schlauch ausgelegt. Durch den wird Luft gepresst, die als Blasen aufsteigt und den Schall reflektiert. Er bleibt innerhalb dieses Luftblasen-Zylinders. So können die Schallemissionen in großen Bereichen des Meeres deutlich reduziert werden. Den Schall, der in den Boden eindringt und irgendwo anders wieder austritt, können wir aber noch nicht einfangen.
Und wie geht es den Schweinswalen, der einzigen heimischen Art in deutschen Gewässern, die Sie am Deutschen Meeresmuseum erforschen?
Unterschiedlich. Es gibt drei Populationen: einmal in der Nordsee und Skagerrak. Die zweite in der Beltsee (vom Kattegat, bis etwa Bornholm). Das sind etwa 14.500 Tiere, sie ziehen vor allem im Frühjahr in unsere deutschen Ostseegewässer und breiten sich Richtung Osten aus bis in den Spätherbst. Dann ziehen sie sich wieder in die Beltsee zurück.
Und dann haben wir etwa 500 Schweinswale in der zentralen Ostsee, also östlich von Rügen. Das haben wir vor ungefähr zehn Jahren erstmals in unserer SAMBAH-Studie (Static Acoustic Monitoring of the BAltic Harbour porpoise, etwa: statisch akustisches Monitoring des Ostsee-Schweinswals) festgestellt. Diese Populationen unterscheiden sich genetisch und morphologisch. Das heißt, sie verpaaren sich nicht. Wenn in dieser kleinen Population ein Tier verloren geht, also stirbt, ist das natürlich dramatisch. 500 Tiere – das heißt 250 Weibchen, von denen nicht alle erwachsen sind und gebären können. Sprich: Es sind nicht sehr viele Individuen, die für den Fortbestand einer ganzen Population sorgen sollen.
Wir haben im Juli eine neue Messkampagne begonnen, in die auch viele Anrainerstaaten der Ostsee involviert sind. Dabei werden wir über 300 Unterwassermikrofone ausbringen und schauen uns dann ein zweites Mal diese Population an, um ihre Bestandszahl und die Entwicklung abschätzen zu können.
Wissen Sie so immer, wo die Wale sich rumtreiben?
Diese Tiere der zentralen Ostsee kumulieren sich in der Paarungs- und Geburtszeit vor allem südlich von Gotland. Das ist eine der großen Erkenntnisse unseres statischen akustischen Monitorings des Ostsee-Schweinswals, des SAMBAH-Projektes. Aber darüber hinaus sind sie in der ganzen Ostsee verteilt. Und klar, wenn das Meer zufriert, können die Tiere nicht mehr atmen, also müssen sie die nördlichen Gebiete der Ostsee verlassen und in den Süden ziehen – bis in polnische und deutsche Gewässer. Das heißt, vor allem in den starken Eiswintern kommen die Tiere auch in die Pommersche Bucht östlich von Rügen.
Kollidieren eigentlich viele Schweinswale mit Schiffen, wie wir das leider aus dem Mittelmeer kennen?
Schweinswale bewegen sich zu 80 Prozent in den oberen zwei Metern der Wassersäule. Das ist der Bereich, wo sie potenziell gefährdet sind. Am Deutschen Meeresmuseum machen wir ein Totfund-Monitoring von Meeressäugern, die tot an Land gespült werden, oder die von Fischern abgegeben werden. Bisher haben wir keine Schweinswale gesehen, die durch Schiffskollisionen verletzt wurden.
Können Schweinswale besser als größere Walarten den Schiffen ausweichen?
So ein kleiner Schweinswal ist einfach ein bisschen wendiger. Sie schwimmen bis zu 22 Kilometer pro Stunde, sind also relativ schnell, wenn sie die Gefahr erkennen. Es gibt ein Soundfile-Video von einem besenderten Tier, das zeigt, wie es regelmäßig an die Wasseroberfläche kommt und atmet. Doch mit einmal geht es sehr steil bis auf den Meeresboden runter, verharrt dort und erst da hört man im Hintergrund das Geräusch einer Fähre, die näherkommt und sehr laut wird. Und während die Fähre noch nicht vollständig am Schweinswal vorbei ist, schießt der Wal wieder hoch, um dann kräftig weiter zu atmen. Das heißt, Schweinswale sind in der Lage auszuweichen, aber es kostet sie Zeit und Energie, die sie besser fürs Fressen und Säugen nutzen sollten.
Noch mal zurück zu den Totfunden. Wie viele Wale sterben denn jährlich? Da wird es ja vermutlich auch eine Dunkelziffer geben.
Ja, sicherlich. Nicht jedes Tier wird an Land getrieben, nicht jedes Tier wird gemeldet, nicht jedes Tier können wir bergen, weil es vielleicht an einem unzugänglichen Strand liegt. Leider werden auch Beifänge sehr selten bei uns abgegeben. Wir bemühen uns immer wieder, in Kontakt zu treten mit den Fischern und sie in unsere Forschung einzubinden, weil wir von diesen „frisch“ gestorbenen Tieren sehr viel mehr lernen als von alten Kadavern. Doch viele Fischer fürchten, dass sie vielleicht in der Öffentlichkeit irgendwie als Täter dargestellt werden. Aber um auf ihre Frage zurückzukommen: Um die 60 Schweinswale landen pro Jahr bei uns auf dem Seziertisch. Die meisten davon sind noch nicht geschlechtsreif, haben also noch nie Nachwuchs bekommen.
Das erscheint mir aber viel. Woran sterben denn die jungen Tiere?
Wir haben oft einen Verdacht auf Beifang. Das Problem ist, dass die Tiere mangels Atemreflex nicht ertrinken, also kein Wasser in der Lunge haben, sondern ersticken. Somit lässt sich etwa ein Erstickungstod im Stellnetz schlecht nachweisen. Wir müssen auf andere Merkmale achten, wie Einschnürungen an der Schnauze, an den Brust- oder Rückenflossen. Aber ein Beweis ist das auch nicht, solange der Wal nicht direkt von einem Fischer abgegeben worden ist.
Die natürlichen Feinde von Schweinswalen sind Orcas. Aber wohl nicht in der Ostsee?
Nein. Wir haben schon mal Orcas in der Ostsee gehabt, aber die sind bei uns nicht heimisch, eher Gäste. Eine interessante Studie aus Irland wiederum zeigte, dass Schweinswale, als sie Orcas gehört haben, in eine kleine Bucht geschwommen sind. Sie haben sich also „akustisch versteckt“ und auch aufgehört zu echoorten, damit die Orcas sie nicht hören können. Sie sind ja schon ganz clever!
Was lieben Sie bei Ihrer Forschungsarbeit mit den Schweinswalen?
Es ist immer wieder ein schönes Gefühl, das Schnaufen eines auftauchenden Schweinswals zu hören, auch nach den vielen Jahren, die ich schon in der Schweinswalforschung tätig bin.
Das Rechercheprojekt „Zukunft Nordsee und Ostsee – wie sich unsere Meere verändern“ wird gefördert von Okeanos – Stiftung für das Meer.