Wie Vögel einem Dichter kreativen Schub verleihen
Der Schriftsteller Henning Ziebritzki findet bei Vögeln neue Inspiration und widmet ihnen ein Buch
Eine Amsel hat ihn aus der Schaffenskrise geführt. Henning Ziebritzki sitzt in einem Café der Universitätsstadt Tübingen, wo er lebt und arbeitet. Ringsum lesen, lernen und schwatzen Studentinnen und Studenten. In der Ecke liegen Kinderbücher und Spielzeug für Kinder bereit, die es am Tisch ihrer Eltern nicht mehr aushalten. „Es war 2013“, sagt Ziebritzki, „als ich beim Schreiben eines Gedichts einfach nicht mehr weiterwusste.“
Zur selben Zeit las er gerade einen seiner liebsten Poeten, den Schotten Robin Robertson. „Es gibt ein furchtbares Gedicht von ihm“, erzählt Henning Ziebritzki. „Das Gesetz der Insel“ heisst es. Es handelt davon, wie ein Mann von seinen Verfolgern ins Meer geworfen wird und zwar so, dass nur noch sein Gesicht aus dem Wasser schaut.
Über Augen und Mund werden dem Mann lebende Makrelen gelegt, um fischfressende Basstölpel anzulocken. Dann müssen die Mörder nur noch darauf warten, bis sich einer dieser grossen und kräftigen Meeresvögel mit seinem spitzen Schnabel auf die Fische und den Mann stürzt: „They stood then, / smoking cigarettes / and watching the sky, / waiting for a gannet / to read that flex of silver / from a hundred feed up, / close it wings / and plummet-dive.“
Dieses Gedicht gab Henning Ziebritzki den Anstoss, einfach einmal zu versuchen, einen Vogel zu beschreiben. Nicht einen Basstölpel, aber einen, der in Tübingen häufig vorkommt, eine Amsel. „Das Beschreiben der Amsel hat mich handwerklich entlastet und kreativ befreit“, sagt Ziebritzki. Sich auf diesen einen Vogel zu konzentrieren und ihn auf wenigen Zeilen zu erfassen, löste bei Ziebritzki die Schreibblockade.
Das Gedicht „Amsel“ entstand, das nun auch sein neuestes Buch „Vogelwerk“ eröffnet: „Ein Rascheln im Laub, laut wie von einem massigen / Huftier, schüttelt sie sich aus ihrem Geräuschversteck“. Auf elf Zeilen modelliert Ziebritzki eine alltägliche Begegnung mit einer Amsel, die laut schimpfend vor dem Beobachter flieht: „Reckt das Auge, duckt sich, hüpft weg in ihr / Zetern, Klingen, von der Dämmerung verschluckt.“
Als das Amsel-Gedicht fertig war, schrieb Henning Ziebritzki gleich noch ein Vogelgedicht. Nun war der Graureiher an der Reihe. Eine Vogelart, die an der Ammer, die Tübingen durchfliesst und an der Ziebritzki fast täglich entlanggeht, anzutreffen ist: „Etwas Gesammeltes, Kraft, zarte Strahlen, die meinen Gang / zur Arbeit, an der Ammer, kreuzen: eine gotische Skulptur, deren Schwung und Streifen fast verschwinden vor Holunder, über Wellen, grau.“
Er habe grossen Gefallen an diesen Gedichten gefunden, sagt Henning Ziebritzki. Und so reihte sich im Laufe der Jahre ein Gedicht ans andere. 52 Vogelgedichte versammelt sein bisher fünfter Gedichtband. Es ist der erste, in welchem Vögel eine derart prominente Rolle spielen.
„Vier Momente“ seien ihm bei diesen Gedichten wichtig gewesen, sagt Henning Ziebritzki. Zum einen habe er viel Wert daraufgelegt, dass die Beschreibungen ornithologisch korrekt seien, was ein genaues Beobachten und Recherchieren erforderte. Zum anderen sollte immer der Sprecher ins Spiel kommen, die Gedichte sind daher aus einer subjektiven Warte geschrieben.
„Und jedes Gedicht ist in einem anderen Stil verfasst“, sagt Henning Ziebritzki: „Die Gedichte sollen so verschieden sein wie die Vögel auch.“ Schliesslich tauchen in den Gedichten Zitate und Einflüsse anderer Schriftsteller auf. Das Kormoran-Gedicht etwa bezieht sich auf das gleichnamige Werk des englischen Dichters Ted Hughes „A Cormorant“. Und im „Haussperling“ spielt der römische Dichter Catull eine Rolle. Dieser betrauert in einem seiner Werke den Tod eines zahmen Sperlings, welcher der Geliebten, die im Gedicht besungen wird, überall hin folgen durfte.
Mit Vogelbeobachtung gross geworden
Sind Vögel für Henning Ziebritzki also lediglich ein künstlerisches Material für sein dichterisches Schaffen? Ziebritzki winkt ab. Schon als Junge habe er in der Nähe von Hannover, wo er aufgewachsen ist, Vögel beobachtet. „Ich bin damit gross geworden“, sagt er. In den Jahren seiner Kindheit, den 1960er Jahren, waren die Fluren noch nicht bereinigt und das Vogelleben entsprechend reichhaltig. „Ich kann mich an Dutzende von Gimpeln erinnern, und auf den Telefondrähten, die damals das Land überspannten, sassen Hunderte von Schwalben.“
Es hätte Ziebritzki durchaus gereizt, Biologie zu studieren. Aber der Zufall wollte es, dass daraus nichts wurde. Ziebritzki verweigerte den Militärdienst und beabsichtigte, stattdessen einem Vogelwart zur Hand zu gehen. Doch dies klappte nicht, im Ersatzdienst verschlug es ihn stattdessen in eine Kirchgemeinde. So schlecht gefielt es ihm dort nicht. Denn aus dem Vogelbeobachter wurde ein promovierter, evangelischer Theologe und anschliessend ein Pfarrer im niedersächsischen Oberharz.
Kein angefressener Birder
Nach ein paar Jahren Pfarrdienst zog es ihn anfangs des neuen Jahrtausends weiter nach Tübingen als Lektor eines geisteswissenschaftlichen Verlags, den der 58-Jährige mittlerweile als Geschäftsführer leitet. Daneben führt er ein Leben als Schriftsteller. Die „Neue Zürcher Zeitung“ zählt seine Gedichte „zum Aufregendsten, was gegenwärtig in der deutschsprachigen Lyrik zu lesen ist“.
Im Laufe seiner Karriere ist die Vogelbeobachtung lange brachgelegen, bis er sie nun wiederentdeckt hat. Henning Ziebritzki gehört allerdings nicht zu den angefressenen „Birdern“, die keinen Aufwand scheuen, um möglichst viele Arten zu sehen. „Ich reise nirgendwohin, um Vögel zu beobachten, das ist sowieso ökologisch fragwürdig“, sagt er. „Ich beobachte Vögel dort, wo ich gerade bin, zum Beispiel auf meinem Arbeitsweg durch den Botanischen Garten in Tübingen.“ Auch so komme man auf eine stattliche Artenliste: „Meine umfasst wohl 110 Arten“, schätzt er.
Während er an seinen Vogelgedichten arbeitete, entwickelte Henning Ziebritzki einen ganz speziellen Blick auf die Vögel. „Ich fragte mich ständig, welche Vögel für ein Gedicht geeignet sein könnten. Viele Vögel, die ich gesehen habe, kommen im Buch ja gar nicht vor, wie etwa der Eisvogel oder auch der Raufussbussard.“ Notwendig war eine „zündende Idee“; diese entschied darüber, ob ein Vogel in einem Gedicht verewigt würde oder nicht.
Vögel zwischen Sehnsucht, Künstlichkeit und Tod
Dabei musste der Vogel nicht anwesend sein, sondern er konnte auch ein reiner Gedanke sein wie im Gedicht „Seggenrohrsänger“: „Seit Mittag in der Bar, aber zu Ironie nicht fähig, fast verloschen / ohne Gesang, Flügel und Flug in Downtown Atlanta, erforsche ich / deine Gestalt und deine Welt.“ Als Ziebritzki auf Reise war in den USA und an einer Bar strandete, suchte er nach einer Vogelart, die in möglichst grossem Kontrast zu diesem Ort stand. Für ihn war dies der Seggenrohrsänger, den er selbst noch gar nie gesehen hatte. Seine Gedanken schweiften ab, verliessen die Bar in Atlanta und gelangten in Gebiete, in denen er dem sehr selten gewordenen Rohrsänger vielleicht einmal begegnen würde: „Stelle mir vor, wie ich auf dich / warten werde im Oderbruch, stunden-, tagelang angespannt unbewegt / in der schönen Segge, in Sandsegge, Handsegge, Haarsegge, / um dich wiederzufinden.“
Während der Seggenrohrsänger ein Objekt der Sehnsucht war, schallte Ziebritzki die Nachtigall künstlich aus Lautsprechern im Parkhaus entgegen: „Als wir ausstiegen, fielen Flocken, Schaumkunststoff, / aus Klang auf uns herab, Vogelgezwitscher im verstörten Gehör.“ Die Kohlmeise wiederum lebte zwar, aber wohl nicht mehr lange: „Wie lange hält noch durch, / was deinem Schwung und Singen Richtung gab / und jetzt, blutig auf Beton verklebt, um Himmel und Erde kämpft, wie ein kindlicher Plan?“
Und der Wanderfalke schoss ihm durch den Kopf, als er dem russischen Pianisten Grigori Sokolov zuhörte: „Als hätte jemand eine Lederhaube über seinen Kopf gestülpt, / so reglos sitzt Sokolov plötzlich da. / Kartenhäuser, in Flugbahnen gebaut. / Soviel Erschrecken, soviel Möglichkeit in jedem Ton.“
Schriftstellerei und Umweltschutz gehen Hand in Hand
Das intensive Nachdenken über Vögel in den vergangenen sechs Jahren habe seinen Blick auf die Natur sehr verändert, sagt Henning Ziebritzki. Er sieht sich nicht als „typischen Grünen“, sondern beschreibt seine politische Einstellung als „liberal-konservativ“: „Die Natur ist unsere Lebenswelt, wir sind Teil von ihr, und wenn man Vögel beobachtet, dann nimmt man immer auch deren Habitat war.“ Dass es um dieses oft nicht gut bestellt sei und es vielen Vogelarten schlecht gehe, sei ja leider eine Tatsache.
Viele Schriftsteller, die über die Natur schrieben, seien Umweltschützer gewesen, fügt Henning Ziebritzik hinzu: etwa der bereits erwähnte Ted Hughes oder auch Robert Lowell, ein 1971 verstorbener amerikanischer Dichter. Auch dieser war ein Vogelbeobachter und einer, den Ziebritzki verehrt. Das Gedicht über die bereits vor 100 Jahren ausgerottete Wandertaube ist Lowell gewidmet: „Jedes Gedicht ein Grabstein, auf dem nur das Geburtsdatum steht, / unwiederholbar vorbei, was nicht aufhört, in deinem Kopf aufzuschwärmen, / Aufruhr im Gedankenfleisch.“
Wer nun nach der Lektüre von „Vogelwerk“ den Band begeistert weglegt und auf ein weiteres Buch mit Vogelgedichten von Henning Ziebritzki hofft, wird allerdings enttäuscht: „Für mich ist das abgeschlossen“, sagt er. „Ich will mich nicht auf dieses Thema festlegen.“ Das Vogelbeobachten habe sich bei ihm jetzt wieder vom Schreiben getrennt: „Und das fühlt sich gut an.“
Während am Nebentisch im Café ein paar Studenten konzentriert über ihren Manuskripten brüten, trinkt Ziebritzki seine Tasse aus und erzählt, wie er kürzlich ein paar Tage auf der ostfriesischen Insel Juist verbracht und Trottellummen beobachtet habe. Er habe sich an diesen Vögeln ganz zweckfrei erfreuen können und sich gedacht: „Ich brauche euch nicht mehr.“
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Henning Ziebritzki: Vogelwerk. Wallstein Verlag, Göttingen 2019,64 Seiten. 18 Euro, 28.90 Franken.
Die nächsten Lesungen mit Henning Ziebritzki finden am 21. Januar 2020 in München und am 13. Februar 2020 in Stuttgart statt.
Das Gedicht „Law of the Island“ von Robin Robertson findet sich in dessen Buch „The Wrecking Light“, Picador Poetry. London 2010.