Corona: Im März und April starben so viele Menschen mit Covid-19 wie im selben Zeitraum 2021
Knapp 13.000 Corona-Tote binnen zwei Monaten. Bundesregierung hat Ziel von 80 Prozent Grundimmunisierung noch immer nicht erreicht. USA steuern auf 1 Million Tote zu
In Politik und Bevölkerung hat sich die Wahrnehmung durchgesetzt, die noch immer laufende Omikron-Welle der Corona-Pandemie sei im Vergleich zu früheren Wellen milder. Das stimmt auch: Von 100 Menschen, die sich mit der aktuell vorherrschenden Variante des Coronavirus infizieren, erkrankt ein deutlich geringerer Anteil schwer oder gar mit tödlichem Verlauf.
Im März und April 2020, als es noch keinen Impfstoff gab und die Medizin erst Erfahrungen damit sammelte, Covid-19 zu behandeln, verstarben in Deutschland knapp vier Prozent der registrierten Fälle, also rund jeder Fünfundzwanzigste. Ein Jahr später, im Frühjahr 2021, lief die Impfkampagne bereits an und die Medizin wusste den Schwerkranken bereits besser zu helfen. Aber das Impfmittel war noch immer knapp. Die sogenannte Fallsterblichkeit – der Anteil der tödlichen Verläufe bei registrierten Infektionen – lag damals bei knapp zwei Prozent, jeder Fünfzigste starb an der Krankheit.
Im Frühjahr 2022 ist das Sterberisiko bei einer Infektion nun nochmals deutlich gesunken. Es ging, nimmt man März und April zusammen, auf 0,14 Prozent zurück. Ebenso blieb die Auslastung von Intensivstationen unter früheren Levels.
Die Politik hat auf diese Entwicklung mit einem klaren Schnitt reagiert: Ende März wurden die meisten Schutzmaßnahmen aufgehoben. Zum 1. Mai entfielen in vielen Bundesländern nun weitere Regeln.
Doch gar nicht zum Bild einer „milden“ Welle passt, dass im März und April 2022 zusammengenommen fast genauso viele Menschen im Zusammenhang mit einer Coronainfektion gestorben sind wie im selben Zeitraum des Vorjahrs.
Fast 18 Millionen registrierte Infektionen in diesem Jahr
2021 fielen dem Coronavirus im März und April der Statistik des Robert-Koch-Instituts zufolge 12.805 Menschen zum Opfer. In den acht Wochen bis zum 30. April 2022 waren es 12.698 Menschen. Von der Altersstruktur her sind sich die Verstorbenen ähnlich, der größte Teil ist über 80 Jahre alt, aber es traf auch viele Menschen unter 60 und zudem auch junge Menschen, wobei die RKI-Zahlen hier erstaunlicherweise am wenigsten präzise sind.
Die Erklärung für die gleich große Totenzahl ist simpel: Zwar ist das Sterberisiko bei Omikron deutlich niedriger, aber die Zahl der Infektionen war in den vergangenen Wochen so hoch wie noch nie zuvor in der Pandemie. Seit Jahresbeginn haben sich in Deutschland 17,6 Millionen Menschen nachweislich mit Sars-CoV-2 infiziert, also mehr als jeder Fünfte. Die Dunkelziffer könnte nach Einschätzung von Experten nochmal genauso groß sein.
Die schiere Masse der Infizierten führt zu der hohen Totenzahl. Bei manchen der Verstorbenen kann die Corona-Infektion nicht die hauptsächliche Sterbeursache, sondern eine Begleiterscheinung gewesen sein. Doch das relativiert die Zahlen kaum.
Eine Krankenhauseinweisung „mit“ statt „wegen“ Covid kann heißen, dass der betreffende Mensch durch Covid eine deutlich schlechtere Prognose hat. Ein Herzinfarkt mit Covid ist wegen der Schwächung des Körpers und dem Risiko von Blutgerinnseln riskanter als ohne. Zudem kann ein Sterben mit Covid – sofern der Tod nicht plötzlich wegen Blutgerinnseln in Gehirn oder Lunge unmittelbar eintritt – ein qualvolles Leiden in Atemnot bedeuten. Für Sterbende und ihre Familien macht es keinen Unterschied, wie groß und um wie viel größer als zuvor die Zahl der Menschen mit einem milden Krankheitsverlauf ist. Man könnte es auch so formulieren: Im Frühjahr 2022 haben genauso viele Menschen um einen lieben Angehörigen getrauert, der sein Leben mit einer schweren Infektionskrankheit beenden musste wie im Vorjahr. Menschen haben Lebensjahre verloren, die sie noch mit ihren Partner*innen. Kindern, Enkel*innen und Freund*innen hätten verbringen können. Die Diagnose, eine Überlastung des Gesundheitssystems sei doch ausgeblieben, hört sich am Sterbebett oder bei einer Beerdigung wohl auch eher abstrakt an.
Trotz allem: Die Impfung schützt
In der deutschen Öffentlichkeit ist die hohe Zahl der Toten aber weitgehend untergegangen. Meldungen von 200 bis 300 Toten hätten in früheren Phasen der Pandemie Alarm ausgelöst. Nun wurden sie zum Teil jener „neuen Normalität“, die – angeführt von der FDP und ihrem für das Infektionsschutzgesetz federführenden Bundesjustizminister Marco Buschmann – nach dem Bund auch die Länder ausgerufen haben. Einen vergleichbaren Fall – dass eine einzelne Infektionskrankheit täglich so viele Opfer fordert, aber dies weitgehend ignoriert wird – hat es in jüngerer Geschichte nicht gegeben.
Mit hohen Totenzahlen steht Deutschland nicht allein da. Die USA steuern, nachdem es in der Omikron-Welle lange Zeit täglich 2000 und mehr Corona-Tote gab, auf die traurige Marke von einer Million Pandemietoten zu, während dort womöglich gerade eine neue Welle ihren Lauf nimmt und New York die Alarmbereitschaft verstärkt. In Dänemark starben im März pro Tag so viele Menschen wie in keiner anderen Phase der Pandemie zuvor. Das Land unterscheidet in seiner Statistik genauer zwischen „an“ und „mit“ Covid verstorben und kommt auf einen „Mit“-Anteil von 40 Prozent. Auch in Großbritannien stieg die Zahl der Toten in den vergangenen Wochen nochmal steil an, bevor nun Ende April ein deutlicher Rückgang einsetzte.
Die hohe Zahl von Toten in Deutschland in den vergangenen zwei Monaten bedeutet freilich nicht, dass die Impfung nicht wirken würde. Im Gegenteil weisen alle Zahlen darauf hin, dass eine Impfung der beste Schutz vor einem schweren oder gar tödlichen Krankheitsverlauf ist – wenn auch kein absoluter Schutz. Ohne die Impfstoffe würde es eine riesige Zahl zusätzlicher Toter geben.
Den aktuellsten Auswertungen des Robert-Koch-Instituts zufolge ist das Risiko, in der akuten Phase nach einer Infektion so krank zu werden, dass man ins Krankenhaus muss, bei Ungeimpften Menschen zwischen 12 und 59 Jahren knapp siebenmal höher als bei solchen mit einer zweifachen Impfung und fast achtmal höher als bei Geboosterten.
Bundesländer mit niedrigster Impfquote haben höchste Totenzahlen
In der Altersgruppe ab 60 Jahren Jahre sind Ungeimpfte fünffach stärker im Risiko, mit Covid ins Krankenhaus zu müssen als zweifach Geimpfte und sogar zehnfach stärker als Geboosterte. Der Zusammenhang zwischen der Impfquote und der Tödlichkeit der Pandemie zeigt sich auch bei einem Blick auf die Bundesländer.
Die Liste der Bundesländer mit den meisten Corona-Toten auf 100.000 Einwohnern wird angeführt von Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg. Dieselben Bundesländer sind Schlusslichter bei der Impfquote.
Umso schwerer wiegt es, dass die Impfkampagne inzwischen auf der Stelle tritt. Vor Weihnachten war es durchaus normal, dass in Arztpraxen und Impfzentren eine Million Menschen pro Tag anstanden, um sich gegen das Coronavirus impfen zu lassen. In den letzten zwei Wochen des April waren es insgesamt weniger als 900.000 Menschen und nur rund 32.000 von ihnen kamen zur Erstimpfung.
An Weihnachten 2021 hatte Bundeskanzler Olaf Scholz das Ziel ausgegeben, bis Ende Januar nochmal mehr als 30 Millionen Impfdosen zu verabreichen, was im Zeitraum Mitte November bis Weihnachten gelungen war. Doch bis Ende Januar ließen sich nur halb sie viele Menschen wie geplant eines der Mittel verabreichen, Scholz hatte die Stimmung in der Bevölkerung völlig falsch eingeschätzt und zu wenig getan, um Skeptiker und Zauderer umzustimmen. Die Marke von 30 Millionen zusätzlichen Impfdosen wird erst in diesen Tagen erreicht – mit drei Monaten Verspätung.
Impfquote stagniert – mit gefährlichen Folgen
Von diesen 30 Millionen Dosen sind wiederum nur 2,2 Millionen Erstimpfungen und 4,4 Millionen Zweitimpfungen. Dieser Anteil ist wichtig, denn in der Omikron-Welle sollten so viele Menschen wie möglich insgesamt drei Impfungen bekommen. Zwar können sich Geimpfte nicht nur selbst infizieren und – mit geringerem Risiko eines schweren Verlaufs – Covid bekommen, sie können auch andere anstecken.
Doch aktuelle Studien wie die der Genfer Virolog*innen Isabella Eckerle, Benjamin Meyer und Pauline Vetter in „Nature“ zeigen, dass Geboosterte weniger ansteckend sind als Ungeimpfte, also den Gesamtschutz der Bevölkerung effektiv erhöhen.
Während das 30-Millionen-Ziel nun verspätet erreicht ist, bleibt ein anderes von Kanzler Scholz ausgegebenes Impfziel in weiter Ferne. Bis Ende Januar sollte der Anteil der Menschen mit einer Grundimmunisierung bei 80 Prozent liegen. Erreicht wurden bis Ende April 75,8 Prozent – und der Wert stagniert seit Wochen.
Mit seiner Forderung nach einer Impfpflicht konnte sich Kanzler Scholz Anfang April im Bundestag nicht durchsetzen, der Vorstoß scheiterte krachend. Und von der vom ExpertInnenrat der Bundesregierung geforderten Kommunikationskampagne für die Impfung fehlt weit und breit jede Spur. Der ExpertInnenrat hat selbst seit Wochen zur Pandemielage und zur Politik einfach nur geschwiegen, obwohl er doch die Politik eigentlich fortlaufend begleiten sollte. Selbst zum neuen Infektionsschutzgesetz hat er Rat nichts mehr gesagt.
Weitgehend im Dunkeln liegt, wieviele Menschen nach einer vergleichsweise milden Omikron-Infektion trotzdem nicht gesund werden. Dass Langzeitfolgen von Covid-19 ein reales Phänomen sind und auch Menschen betreffen, die in der akuten Anfangsphase nicht ins Krankenhaus mussten, ist in der Medizin inzwischen weitgehend anerkannt. Allerdings fehlt eine verlässliche und genaue Erfassung der Betroffenen. Die Warnung der Long-Covid-Spezialistin Jördis Frommhold bei einem Auftritt an der Seite von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach, dass Hunderttausende Menschen in Deutschland wegen Covid-Folgen nicht nur gesundheitlich, sondern auch im Erwerbsleben eingeschränkt sein könnten, verhallte folgenlos.
Lassen sich bundesweite Schutzmaßnahmen je wieder durchsetzen?
Die Ampelkoalition hat die Bekämpfung der Pandemie weitgehend aufgegeben und auch früher gestrenge Bundesländer schwenken ein. In Bayern etwa soll das Oktoberfest wieder stattfinden. Da nun im Mai wie in den Vorjahren die Inzidenzen saisonal bedingt sinken dürfte, wird sich die Regierung in ihrem Kurs bestätigt sehen. Am 2. Mai meldete das Robert-Koch-Institut erstmals seit September wieder einen Tag ohne registrierte Corona-Tote. Die Bild-Zeitung machte daraus sofort eine Schlagzeile – aber schon am Folgetag wurden wieder 240 Tote registriert. Das Interesse an negativen Pandemie-News ist gering. Ohnehin haben Politiker*innen derzeit anderes zu tun. Der Ukrainekrieg bindet fast alle politische und öffentliche Aufmerksamkeit.
Doch der nächste Herbst und Winter nahen unweigerlich, und das fortgesetzte Infektionsgeschehen in aller Welt – auch in ärmeren Ländern mit noch niedrigerer Impfquote – ist ein idealer Nährboden für neue Varianten. Zu der stets lauernden Gefahr passt die Stimmung im Land, derzufolge die Pandemie vorbei ist, so überhaupt nicht. So wünschenswert es wäre, dass nach einer sinkenden Sommer-Inzidenz eine Art Grund-Immunität in der Bevölkerung besteht und es nie wieder wirklich schlimm werden kann – garantiert ist es nicht.
Schon zweimal ist das Land gen Jahresende weitgehend unvorbereitet in neue Wellen geschlittert, mit negativen Folgen. 2022 bräuchte es zudem, um sich zu wappnen, einen erheblichen Vorlauf. Denn neue, bundesweite Maßnahmen kann es nur geben, wenn der Bundestag zuvor das Infektionsschutzgesetz ändert und die Voraussetzungen zum Regierungshandeln schafft. Das dürfte angesichts der unterschiedlichen Positionen in der Ampelkoalition ein langwieriges Verfahren sein, das frühzeitig begonnen werden müsste.
Ob eine Rückkehr zu Schutzmaßnahmen wie der generellen Maskenpflicht in Innenräumen in der aktuellen Lage Bundesgesundheitsministers Karl Lauterbach gelingen würde und ob die Bevölkerung sie mittragen würde, ist fraglich. Die Wahrnehmung von „Omikron“ als „milde“ sitzt tief. Dass, wie in den vergangenen Wochen, durchschnittlich knapp 200 Tote pro Tag mit einem kollektiven Schulterzucken hingenommen werden, kann sich jederzeit wiederholen.
Aktualisiert am 3.5., 12 Uhr