Evolution des Menschen: Großes Gehirn oder lange Kindheit – was kam zuerst?
Mit einer Hightech-Analyse an fossilen Zähnen gelang es Forschenden, die Kindheit eines Urmenschen vor 1,77 Millionen Jahren zu rekonstruieren. Das erlaubte verblüffende Erkenntnisse über die sozialen Strukturen und die Weitergabe von Erfahrungen der damaligen Homo-Spezies. Und über die Entwicklung des Gehirns.
Kein Zweifel: Das große Gehirn ist ein charakteristisches Merkmal von uns Menschen und sicher ein Schlüssel zu unserem evolutionären Erfolg. Eine weitere Eigenschaft ist, dass wir als völlig hilflose Babys geboren werden und eine ungewöhnlich lange Kindheit durchleben. Der Vorteil unseres riesigen Denkorgans liegt auf der Hand: Menschen können zum Beispiel komplexe Informationen austauschen, in die Zukunft planen, dank ihrer Intelligenz die Umwelt gestalten und Technologien entwickeln. Die Geburt der hilflosen Menschenbabys wurde bislang oft als eine Art Preis für das mächtige Gehirn angesehen: Weil dieses Organ und somit der Kopf bei einen entwickelten Kind zu groß wären, um durch das Becken einer gebärenden Frau zu passen, mussten die Babys – so die These – in unreifem Zustand auf die Welt kommen, denn in dem frühen Stadium hat das Gehirn noch nicht so viel Volumen. Das sich vergrößernde Gehirn wäre demnach der Grund für die verlängerte Kindheit gewesen. Doch möglicherweise war alles ganz anders.
Zu diesem Schluss kommt jedenfalls ein internationales Team, das eine raffinierte Untersuchung an einem 1,77 Millionen Jahre alten Urmenschen-Schädel aus dem heutigen Georgien vornahm. Das Fossil war in der Ruinenstadt Dmanisi ausgegraben und im Jahr 2002 in der Wissenschaftszeitschrift Science erstmals beschrieben worden. Es handelt sich um den sehr gut erhaltenen Schädel einer frühen Homo-Spezies, in dem fast alle Zähne vorhanden sind. Und auf diese hatten die Forschenden es abgesehen. Denn Zähne sind so etwas wie Zeitkapseln, aus denen die Lebensgeschichte eines Individuums – und eben auch dessen Kindheit – herausgelesen werden kann. Mit einer neuen Hightech-Methode sollte dies nun geschehen, ohne die Zähne aus dem Schädel herauszulösen und ohne sie zu beschädigen.
Zähne speichern die Lebensgeschichte eines Menschen
Das Team verwendete die extrem leistungsstarken Röntgenstrahlen der Europäischen Synchrotonstrahlungsanlage ESRF (European Synchroton Radiation Facility) im französischen Grenoble, um die versteinerten Zähne in mehreren Serien von Experimenten zu durchleuchten. Mithilfe einer speziellen Software und ähnlich wie bei einer CT-Aufnahme erhielten die Forschenden virtuelle mikroskopische Schnitte durch die Zähne, in denen sich die Wachstumsphasen jenes frühen Menschen von seiner Geburt bis zum Tod mit etwa elf Jahren in höchster Genauigkeit erkennen lassen.
„Kindheit und geistige Fähigkeiten versteinern nicht. Deshalb mussten wir auf indirekte Informationen zurückgreifen“, erklärt Christoph Zollikofer von der Universität Zürich in einer Pressemitteilung des US-amerikanischen Dienstes „eurekalert.org“ die Motivation des Teams. Zähne seien ideal dafür, weil sie tägliche Ringe produzierten – ähnlich wie die Jahresringe von Bäumen – und nach dem Tod hervorragend versteinern, betont Zollikofer, Erstautor der in der Zeitschrift Nature publizierten neuen Studie.
Ein Urmensch, der mit elf Jahren schon erwachsen war
Zähne von Erwachsenen eignen sich als Informations-Quellen für die Kindheit, weil sie bereits beim Ungeborenen im Mutterleib angelegt werden. Zwar werden Babys ohne Kauwerkzeuge geboren und dann erscheinen zunächst die Milchzähne, doch sitzen darunter im Kiefer bereits die Anlagen der späteren permanenten Zähne. Diese wachsen langsam und brechen schließlich durch, wenn die Milchzähne ausfallen. Und weil sie während ihres Wachstums ständig neue mineralische Schichten ablagern, speichern sie eine Chronologie der Entwicklung des Individuums (in einer anderen Studie konnte anhand der mineralischen Zusammensetzung der Zähne sogar nachgewiesen werden, wie lange menschliche Vorfahren ihren Nachwuchs stillten).
Den Forschenden der Universität Zürich, des ESRF und des georgischen Nationalmuseums gelang es nun anhand der Zahn-Wachstumsringe die Entwicklung jenes Urmenschen rekonstruieren: „Die Ergebnisse zeigen, dass das Individuum im Alter von elf bis zwölf Jahren starb“, sagt Co-Autor Vincent Beyrand. „Und die Weisheitszähne waren bereits durchgebrochen, so wie es auch bei den großen Menschenaffen der Fall ist.“
Was der Zahnwechsel über die Länge der Kindheit verrät
Jener Elfjährige war seinem Zahnschema nach also bereits erwachsen und ähnelte in diesem Merkmal noch den Menschenaffen. Anders war es jedoch mit dem Wechsel der Milchzähne. Hier ähnelte das Muster der Urmenschen aus Georgien mehr dem heutiger Menschen. „Das zeigt, dass die Milchzähne länger benutzt wurden als bei den Menschenaffen und dass die Kinder dieser frühen Homo-Spezies auf eine längere Unterstützung durch Erwachsene angewiesen waren“, äußert sich Marcia Ponce de León, Team-Kollegin von Zollikofer an der Universität Zürich, in der Pressemitteilung. „Es könnte das erste evolutionäre Experiment einer verlängerten Kindheit gewesen sein“.
Verblüffend allerdings ist: Jene Urmenschen, die vor 1,77 Millionen Jahren im Gebiet des heutigen Georgiens lebten, besaßen noch recht bescheidene Gehirne, die jene der Menschenaffen und der Australopithecinen – bereits aufrecht gehenden Vormenschen – nur wenig an Größe übertrafen. Somit kann die These „Erst wurde das Gehirn größer und deshalb die Kindheit länger“ offenbar nicht stimmen.
Erfahrungen wurden von Eltern und Großeltern an Nachkommen weitergegeben
Vielleicht war es also genau umgekehrt, so die neue These des Teams: Die verlangsamte Reifung und die dadurch verlängerte Kindheit könnten den Austausch kultureller Erfahrungen und ihre Weitergabe von einer Generation zur nächsten gefördert sowie komplexere Verhaltensweisen hervorgebracht haben. Weil all dies mit einem leistungsfähigen Denkorgan besser funktionierte, könnte sich daraufhin das Gehirn vergrößert haben.
Ein weiterer Aspekt dieses Szenarios: Weil es immer wichtiger wurde, wertvolle Erfahrungen von den älteren an die Jüngeren weiterzugeben nahm die Lebensspanne weiter zu, ebenso wie die lange Kindheit. Und schließlich beteiligte sich selbst die Generation der Großeltern – insbesondere der Großmütter – daran, Kinder und Enkel zu unterstützen und ihnen Wissen zu vermitteln.
Dafür, dass das ausgeprägte Sozialverhalten früher vorhanden war als das riesige Gehirn, spricht ein weiteres Fossil aus Georgien, das ebenfalls an jener Fundstelle in Dmanisi geborgen wurde: Der Schädel eines alten, zahnlosen Mannes. „Die Tatsache, dass ein so altes Individuum mehrere Jahre lang ohne einen einzigen Zahn überlebt hat, belegt, dass der Rest der Gruppe sich gut um ihn gekümmert hat“, sagt der ebenfalls an der Studie beteiligte David Lordkipanidze vom georgischen Nationalmuseum. Die älteren Individuen hätten die meisten Erfahrungen und die wichtige Aufgabe gehabt, ihr Wissen an die Jüngeren weiterzugeben, betont der Paläoanthropologe aus Georgien. Die Drei-Generationen-Struktur sei ein grundlegender Aspekt für die Vermittlung von Kultur in der Menschheit. Und sie war wohl auch ein Motor für die Expansion des Gehirns.