Die Spur der Muttermilch
Wie Vormenschen vor zwei Millionen Jahren ihre Babys stillten
Durch Analyse fossiler Zähne konnten Forscher ermitteln, dass Australopithecus africanus-Mütter ihre Kinder etwa ein Jahr lang säugten. In Zeiten der Not allerdings gab es Ausnahmen
Manchmal ist es verblüffend zu erfahren, was moderne Forschungsmethoden zu leisten vermögen. Dass Wissenschaftler anhand der Zahnanatomie erkennen können, ob ein Säugetier vor Millionen Jahren sich eher von Insekten, Fisch, Fleisch oder Pflanzenkost ernährt hat, ist noch gut vorstellbar. Aber dass Forscher ermitteln, wie lange Menschheitsvorfahren einst ihre Kinder gestillt haben? Das klingt überraschend und gelang doch mit speziellen Lasertechniken und der Analyse chemischer Signaturen von fossilen Zähnen. Solche Untersuchungen sind möglich, weil in den Zähnen während des Wachstums Minerale gespeichert werden. So entstehen winzige Schichten – ähnlich wie die Sedimentablagerungen am Boden eines Sees – anhand deren chemischer Zusammensetzung sich Rückschlüsse auf die Ernährung während der Kindheit ziehen lassen.
Die perfekte Nahrung für den Nachwuchs
Muttermilch ist eine der erstaunlichsten Erfindungen der Natur. Vor rund 200 Millionen Jahren haben die Urahnen der Säugetiere die Fähigkeit entwickelt, aus Drüsen der Haut eine Flüssigkeit abzusondern – zunächst vielleicht nur zur Pflege von Fell und Haut oder als Schutz vor Krankheitserregern. Doch das Sekret erwies sich auch als nahrhaft für den Nachwuchs und entwickelte sich im Lauf der Evolution zu einer perfekten Kost: Milch enthält energiereiche Fette und Kohlenhydrate, Eiweiße, Vitamine, Mineralstoffe, Hormone, schützende Abwehrmoleküle und Flüssigkeit – kurz alles, was ein Baby zum Überleben benötigt. Für den Nachwuchs ist es daher bequem und gesund, wenn er möglichst lange von der Milch profitieren kann. Die Bilanz für die mütterlichen Tiere allerdings sieht anders aus. Sie müssen einen erheblichen Teil ihrer Energie für die Produktion der flüssigen Babynahrung aufwenden. Bei einer stillenden Frau etwa steigt der tägliche Energiebedarf um bis zu 30 Prozent. Wie lange Kinder mit Milch versorgt werden, ist daher eine Frage der Abwägung zwischen dem Wohl des Nachwuchses und dem der Mutter. Und damit wird das Stillverhalten zu einer Überlebensstrategie.
Aus diesem Grund ist es für Paläoanthropologen von großem Interesse zu erfahren, inwieweit sich die mütterliche Fürsorge in der menschlichen Verwandtschaft während der Evolution verändert hat. Orang-Utans säugen ihre Jungen bis zu neun Jahre lang – nicht durchgehend, aber immer wieder. Gorillas versorgen den Nachwuchs bis zu vier Jahre mit Muttermilch, Schimpansen ähnlich lang. Heutige Menschen dagegen stillen ihre Kinder wesentlich kürzer, in Deutschland durchschnittlich rund 7,5 Monate lang. Doch wie sah es vor ein paar Millionen Jahren bei unseren Vorfahren und Verwandten aus?
Spurensuche an gut zwei Millionen Jahre alten Zähnen
Eine Forschergruppe unter Federführung des australischen Wissenschaftlers Renaud Joannes-Boyau von der Southern Cross University hat kürzlich die fossilen, gut zwei Millionen Jahre alten Zähne der afrikanischen Vormenschen-Art Australopithecus africanus untersucht. Es waren Zähne von erwachsenen Exemplaren; da jedoch auch die meisten bleibenden Zähne bereits im Kiefer des noch Ungeborenen angelegt werden und im Lauf der ersten Lebensjahre mineralisieren – obwohl sie erst viel später durchbrechen – speichern sie die Ernährungsgeschichte des Kindes. Um diese zu ermitteln, bestrahlten die Wissenschaftler die aufgeschnittene Zahnfläche mithilfe spezieller Lasertechniken und lösten mikroskopisch kleine Substanzmengen heraus. Diese verdampften und wurden dann im Massenspektrometer auf ihre chemische Zusammensetzung hin analysiert.
Da der Laser entlang eines Schnittes durch die Zahnkrone bewegt wurde und der Zahnschmelz einst beim Wachstum in Schichten angelegt worden war, ließen sich die Zahnproben verschiedenen Altersabschnitten im Leben des früheren Vormenschen zuordnen. In den Proben maßen die Forscher die Anteile bestimmter chemischer Elemente, etwa Kalzium, Barium, Strontium oder Lithium. Je nach Nahrung variiert die Zusammensetzung der Elemente ein wenig und hinterlässt im Zahn einen charakteristischen Fingerabdruck. Wurde Muttermilch konsumiert, ließ sich das anhand der chemischen Zusammensetzung erkennen.
In Notzeiten wurden die Kinder wieder gesäugt
Die Muttermilch und andere Nahrung hinterlassen sozusagen Spuren im Zahn. Und weil die Forscher das Elementverteilungsmuster entlang der Wachstumszonen im Zahnschmelz gemessen hatten, konnten sie nun sagen, zu welchen Zeitpunkten das Vormenschenkind gesäugt wurde und wann es andere Kost zu sich nahm. Das Ergebnis der Studie: In den ersten zwölf Monaten wurden die Kinder überwiegend gestillt, danach gingen sie auf andere Kost über. Doch auch später kam es wahrscheinlich in mehr oder weniger regelmäßigen Zeitabschnitten immer wieder vor, dass sie Muttermilch zur Nahrungsergänzung erhielten – wohl in Zeiten der Not, als andere Nahrung knapp wurde. In jenen Perioden haben die Australopithecus-Mütter selbst zurückgesteckt und ihre noch jungen Nachkommen wieder zusätzlich mit Milch versorgt, um deren Überleben zu sichern.
„Die Vormenschen haben offenbar noch flexibler auf Umweltveränderungen reagiert als viele Menschenaffen und ihr Stillverhalten an die jeweilige Situation angepasst“, kommentiert der deutsche Paläoanthropologe Ottmar Kullmer die Befunde. Kullmer, Forscher am Senckenberg Forschungsinstitut in Frankfurt, war selbst an der Studie beteiligt.
Australopithecus, Homo und Paranthropus – Konkurrenz vor zwei Millionen Jahren
Australopithecus africanus lebte in einer Periode vor etwa 3 bis 2,1 Millionen Jahren im südlichen Afrika. Das Wesen war ein Verwandter des Menschen, das Savannen bewohnte, sich aufrecht fortbewegte, aber noch ein relativ kleines Gehirn hatte und wohl nur sehr einfache Steinwerkzeuge herstellte. Interessant ist, dass in jener Periode vor gut zwei Millionen Jahren, aus der die Zahnanalysen stammen, in Afrika neben A. africanus sowohl mehrere Menschenarten existierten – etwa Homo habilis und Homo rudolfensis – als auch die sogenannten Nussknackermenschen (Paranthropus), die mit ihren großen Kiefern auf trockene Nahrung spezialisiert waren. Es war also eine Epoche, in der mehrere Arten aus der Verwandtschaft der Menschen gleichzeitig existierten: Vormenschen (sie gehen aufrecht, verfügen aber noch nicht über die geistigen Fähigkeiten des Homo), Frühmenschen (die ersten Vertreter der Gattung Homo, die bereits komplexere Werkzeuge herstellten und deren Hirngröße zwischen Vormenschen und dem Homo sapiens lag) und Nebenmenschen (Gattung Paranthropus, auch Nussknackermenschen genannt: eine ausgestorbene, spezialisierte Seitenlinie, die sich aus den Vormenschen entwickelt hatte). Sie alle bewohnten damals die afrikanischen Savannen, konkurrierten zum Teil und mussten sich flexibel an ihre jeweilige Umweltsituation anpassen.
Ein anderes internationales Wissenschaftler-Team um den Franzosen Vincent Balter von der Universität Lyon hat nicht nur Australopithecus-Zähne untersucht, sondern auch solche von Paranthropus und frühen Menschen. Den Ergebnissen zufolge haben die Frühmenschen ihre Kinder länger gestillt als die Vormenschen. Allerdings verwendeten die Forscher eine andere Technik: Sie haben die Verhältnisse zweier Variationen des Elementes Kalzium gemessen und ihre Proben lediglich an zwei Stellen im Zahn entnommen. Mit dieser Methodik sei nur schwer zu entscheiden, so Ottmar Kullmer, ob die Frühmenschen ihre Babys über die gesamte Zeit ausschließlich stillten oder nicht doch hin und wieder andere Nahrung zufütterten.
Die Homininen waren Meister der Anpassung
Eines allerdings ist klar: Die Menschen und ihre Verwandten – die Homininen – waren generell äußert anpassungsfähig, auch was ihr Stillverhalten betrifft. Im Lauf der Evolution hat der Mensch seine Stillzeit immer weiter verkürzt und die Babys früher entwöhnt – etwa, weil Mütter ihre Kinder schon bald mit anderer Nahrung fütterten. Weil sich der Abstand zwischen zwei Geburten verkürzt, wenn früher abgestillt wird – der Eisprung setzt dann bei den Frauen schneller wieder ein – konnten die Menschen mehr Nachkommen in kürzerer Zeit aufziehen.
Menschen können also je nach Umwelt und Umständen flexibel reagieren. Das zeigte sich auch beim Übergang vom Jäger-und-Sammler-Dasein zur Lebensweise als Ackerbauer und Viehzüchter vor gut 10.000 Jahren: Die Stilldauer der sesshaft lebenden Frauen nahm ab, weil sie ihre Kinder nun früh zusätzlich mit Milch- und Getreidenahrung füttern konnten. Die Intervalle zwischen den Geburten wurden kürzer und die Zahl der Neugeborenen stieg.
Die Methode soll bald sogar tägliche Schwankungen in der Ernährung erkennen lassen
Weitere Untersuchungen an fossilen Zähnen könnten zeigen, inwieweit die Stilldauer bei verschiedenen Vertretern der Gattung Homo während der letzten zwei Millionen Jahre variierte und wie sie sich der jeweiligen Umweltsituation angepasst hat. „Noch stehen wir mit der Methode am Anfang, doch sie hat ein großes Potenzial“, prognostiziert Ottmar Kullmer, Schon bald werde die Technik eine noch bessere, sogar tagesgenaue Auflösung erlauben. Dann wird es möglich sein nachzuweisen, wie sich die Ernährung kurzfristig veränderte – sogar von einem Tag auf den anderen.