Der Mensch, der ein halber Affe war
Je mehr über die 2015 entdeckte Urmenschenart Homo naledi bekannt wurde, desto rätselhafter erschien deren Existenz – doch jetzt gibt es eine Erklärung
Hätten Forschende vorausgesagt, dass sie eine solche Kreatur entdecken würden, wäre ihnen Spott sicher gewesen: Ein aufrecht gehender kleinwüchsiger Typ mit einem Gehirn etwa so groß wie beim Gorilla, einer vorspringenden Schnauze und besten Kletterfähigkeiten, der in Südafrika lebte als dort längst Menschen mit höheren geistigen Fähigkeiten zu Hause waren. Doch Homo naledi existierte wirklich. Nun glaubt ein französischer Paläoanthropologe dessen seltsame Anatomie deuten zu können.
Am 13. September 2013 machen sich zwei junge Hobby-Höhlenforscher auf, um in das weit verzweigte Netz des „Rising Star“-Höhlensystems in Südafrika einzusteigen und dort neue Passagen zu erkunden, vielleicht sogar Fossilien zu entdecken. Denn das System, rund 50 Kilometer nordwestlich von Johannesburg gelegen, befindet sich in einer Region, in der schon viele Relikte der menschlichen Urgeschichte gefunden wurden.
Die beiden Männer zwängen sich durch eine enge Stelle, die so schmal ist, das nur kleine Menschen hindurch passen und auch das nur, wenn sie sich auf dem Bauch voranschieben, den einen Arm nach vorne gestreckt, den anderen eng an den Körper gelegt. Anschließend passieren sie eine große Kammer und klettern auf der anderen Seite einen zerklüfteten Felsrücken hinauf. Dann erblicken sie eine Spalte im Höhlenboden, durch die ein enger Schacht fast senkrecht nach unten führt. An manchen Stellen ist er kaum 20 Zentimeter breit, und nur weil die Forscher schlank und drahtig sind, gelingt es ihnen, sich durch den zwölf Meter tiefen Schacht nach unten zu zwängen.
Alles ist übersäht mit Knochen
Sie erreichen den felsigen Grund, passieren einen Durchgang, gelangen in eine weitere große Kammer und dann starren sie auf etwas, das sie noch nie gesehen haben: Der ganze Boden ist übersät mit Knochen. Sie sind nicht in Gestein eingeschlossen wie die meisten Fossilien, sondern liegen einfach so da, als habe sie jemand dorthin geworfen. Die jungen Männer bemerken einen Unterkiefer mit intakten Zähnen, der von einem Menschen zu sein scheint. Und sie machen Fotos.
Nach ihrer Rückkehr aus der Tiefe präsentieren die Höhlenforscher ihre Bilder dem Paläoanthropologen Lee Berger von der Witwatersrand-Universität in Johannesburg. Berger arbeitet dort seit Anfang der 1990er Jahre und hat bereits im Jahr 2008 großes Aufsehen erregt, als er die neue Vormenschenart Australopithecus sediba entdeckte (Vormenschen sind Wesen, die zwar schon aufrecht laufen, aber noch sehr an Affen erinnern und gut klettern können). Mit dem ersten Blick auf die Fotos wird Berger klar, welche Sensation am Boden dieser Höhle schlummert: Die Knochen gehören nicht zu heutigen Menschen, sondern zu einer urtümlicheren Art. Ihre Zahl ist riesig und aus dem Boden ragt ein teilweise im Sediment steckender Schädel – vielleicht gar ein komplettes Skelett. Alles deutet auf einen extrem seltenen und überraschenden Fund hin.
Eine noch nie dagewesene Grabungsaktion beginnt
Lee Berger organisiert eine beispiellose Grabungskampagne. Zunächst sucht er über Facebook schlank gebaute Personen mit wissenschaftlichem Hintergrund und Erfahrung in der Höhlenforschung, wählt aus den Bewerbungen die bestqualifizierten aus: Sechs junge Frauen, die die Fossilienkammer erkunden und die Funde bergen sollen. Sodann lässt er oben bei der Höhle ein provisorisches Forschungscamp errichten, Strom- und Kommunikationskabel für Videoübertragungen in die Knochenkammer legen und schart rund 60 Wissenschaftler um sich, die die Fossilien begutachten sollen. Finanzielle Unterstützung leistet die amerikanische National Geographic Society, die in ihrer Mitgliederzeitschrift, Ausgabe vom Oktober 2015, über die Ergebnisse berichtet. Eine erste wissenschaftliche Veröffentlichung erscheint bereits kurz zuvor im elektronischen Wissenschafts-Magazin „eLife“ am 10. September 2015. Und die Ergebnisse bestätigen die anfangs vermutete Sensation.
Insgesamt bergen die Forschenden 1550 Skelettstücke, weit mehr als jede andere Fundstelle in Afrika bislang preisgegeben hat. Die Relikte gehören zu mindestens 15 verschiedenen Individuen – Erwachsenen, Jugendlichen, sogar Säuglingen. Es sind Schädel, Kieferteile, Zähne, Rippen, ein fast vollständiger Fuß, eine Hand, Stückchen aus dem Innenohr.
Die unerklärliche Mischung aus Mensch und Affe
Was sich allmählich vor den Augen der Untersuchenden herauskristallisiert, ist ein extrem merkwürdiges Wesen, das wie eine Mischung aus Affe und Mensch wirkt. Die Größe des Gehirns entspricht der eines Gorillas oder auch der eines Vormenschen (Australopithecus). Die Arme und die gekrümmten Finger eignen sich bestens zum Klettern. Die Zähne wiederum wirken menschlich und Beine wie Füße taugen optimal für den aufrechten Gang.
Die Forschenden nennen die Kreatur „Homo naledi“ („naledi“ bedeutet in der Sprache der Einheimischen „Stern“ und bezieht sich auf den Fossilienfundort, die Dinaledi-Kammer – übersetzt „Sternenkammer“). Wann die Art gelebt hat, ist nicht klar, denn eine Datierung ist zunächst nicht möglich. Vom Aussehen her scheint sie aus der Übergangszeit zwischen Vormensch und Homo zu stammen, also einer Zeit vor 2,5 und zwei Millionen Jahren. Wenn das stimmt, könnte endlich die Wurzel des Menschseins – der Gattung Homo – aufgeklärt werden und der Stammbaum müsste umgeschrieben werden, glauben Berger und sein Team. Dass sie damit völlig falsch liegen, stattdessen jedoch eine ganz andere, nicht weniger aufregende Erkenntnis gewinnen werden, wissen sie noch nicht.
Wie gelangten die Skelette in die Höhle?
Es gibt ein weiteres Rätsel, über das sich die Forschenden den Kopf zerbrechen: Wie um alles in der Welt sind die Knochen in die tiefe, dunkle und extrem schwer zugängliche Kammer gelangt? Nichts an der Fundsituation spricht dafür, dass Homo naldedi dort gewohnt hatte. Von Löwen oder Hyänen getötet und in die Höhle verschleppt, konnte auch nicht sein, überlegt Berger. Sonst hätten die Fossilien Bissspuren von Raubtierzähnen gezeigt. Der Paläoanthropologe verwirft auch die Vermutung, dass die Knochen von Wassermassen in die Kammer gespült worden seien – dann hätte sich am Boden mitgebrachtes Geröll finden müssen, nicht nur das feine, durch Verwitterung der Höhlenwände entstandene Sediment.
Nachdem er alle anderen Möglichkeiten ausgeschlossen hat, kommt Lee Berger zu einem kühnen Schluss: Die Homo naledi-Leute mussten ihre Toten absichtlich in die Kammer gebracht und dort abgelegt haben. Möglicherweise sei der Zugang zur Höhle früher weniger eng gewesen. Es wäre also eine Art Bestattung und damit ein ritueller Umgang mit Toten gewesen. Doch so etwas ist bislang nur vom Homo sapiens, vielleicht noch vom Neandertaler bekannt.
Viele halten Lee Bergers Bestattungs-Theorie für aberwitzig
Kein Wunder also, dass Berger mit dieser Spekulation auf heftige Skepsis bei vielen Kollegen und Kolleginnen stößt. Wie sollte ein so primitiv wirkendes Geschöpf mit seinem Mini-Gehirn über die geistigen Fähigkeiten verfügt haben, sich um die Toten zu sorgen und sich womöglich ein Leben im Jenseits vorzustellen? Zumal bei den Relikten von Homo naledi in der Höhle keinerlei Werkzeuge oder symbolische Gegenstände gefunden wurden – schlicht nichts, was auf eine Kultur hinweist.
Zudem hätten die Urmenschen eine Lichtquelle, also Feuer dabei haben müssen, um den langen Weg durch das stockdunkle Höhlensystem zurückzulegen. Doch es fanden sich weder Asche noch Rußspuren. Die Verstorbenen in die finstere Kammer zu bringen, hätte also komplexe Verhaltensweisen erfordert. Die Gehirnkapazität von Homo naledi aber liegt bei 560 Kubikzentimetern für die als männlich eingeschätzten Exemplare (bei einer Körpergröße von etwa 1,50 Meter) und bei 465 Kubikzentimetern für die etwas kleineren Weibchen. Das entspricht etwa dem Hirnvolumen der Vormenschen (Australopithecinen), von denen weder eine planmäßige Werkzeugherstellung, noch die Beherrschung des Feuers, Sprache oder gar rituelle Handlungen bekannt sind.
Eine Datierung sorgt für große Überraschung
Im Jahr 2017 ist es endlich soweit, dass eine Datierung der Fossilienfunde aus der Höhle möglich wird – und erneut für eine Sensation sorgt. Das Team um Lee Berger ermittelt mit verschiedenen hochmodernen Methoden das Alter von Tropfsteinresten und Sedimenten, die sich am Höhlenboden neben oder auf den Fossilien abgelagert hatten, sowie von drei Zähnen und publiziert die Ergebnisse am 9. Mai 2017 bei eLife: Das Alter liegt demnach zwischen 236.000 und 335.000 Jahren. Homo naledi ist also viel jünger als bislang vermutet und lebte in einer Epoche, in der auch bereits der Homo sapiens existierte, der sich nach neueren Erkenntnissen – ebenfalls aus dem Jahr 2017 – vor mindestens 300.000 Jahren entwickelt hat.
Damit wird die seltsame Mischung aus äffischen und modernen Merkmalen immer rätselhafter. Nicht weniger erstaunlich sind die Ergebnisse einer Analyse des Gehirns, die eine Gruppe um den US-Paläoanthropologen Ralph Holloway 2018 präsentieren. Die Forschenden hatten Abgüsse des Schädelinneren von Homo naledi angefertigt, daraus die Anatomie des Gehirns ermittelt und sie mit der anderer Menschenarten verglichen. Obwohl das Organ des Urmenschen winzig ist, zeigt es strukturelle Veränderungen im Bereich des Stirnhirns und am Hinterhauptslappen, die denen moderner Menschen ähneln. Offenbar ist das Gehirn des seltsamen Südafrikaners deutlich weiter entwickelt als jenes der Vormenschen.
Zu Zeiten von Homo naledi gab es kaum Bäume in Südafrika
All diese Erkenntnisse geben das Bild einer Kreatur ab, die voller Widersprüche steckt: Wie konnte Homo naledi in einer Zeit überleben, in der bereits der Homo sapiens existierte, der ein viel größeres Gehirn mit überragenden geistigen Fähigkeiten besaß, Waffen herstellte und sicher auch über Sprache verfügte? Weshalb war der kleine Südafrikaner hinsichtlich seiner Anatomie eine derart seltsame Mischung aus Läufer und Kletterer – vor allem, wo es in jener Zeit in der dortigen Gegend seit langem keine dichten Wälder mehr gab, sondern nur vereinzelt stehende Bäume?
Über alle diese Fragen hat auch der Paläoanthropologe Jean-Luc Voisin von der Aix-Marseille Université in Marseille nachgedacht. Der Franzose hat seit Anfang 2014 Kontakt zu der Doktorandin Elen Feuerriegel von der Australian National University in Canberra, einer Mitarbeiterin im Team von Lee Berger. Voisin ist auf die Anatomie der Schulter spezialisiert und unterstützt nun Elen Feuerriegel bei der Untersuchung der oberen Gliedmaßen von Homo naledi. Und je mehr sich Voisin mit den Kletterfähigkeiten der seltsamen Kreatur beschäftigt, desto klarer wird für den Paläoanthropologen, wie das alles zusammenpasst.
Eine moderne Hand und doch gekrümmte Kletterfinger
Schulter und Schlüsselbein von Homo naledi sind so konstruiert, dass die Urmenschen ihre Arme – genau wie Affen – leicht nach oben heben und mit wenig Kraftaufwand über dem Kopf bewegen konnten – eine eindeutige Anpassung ans Klettern. Die Anatomie der Hand ist der eines Neandertalers oder eines modernen Menschen recht ähnlich – bis auf die Finger. Denn die weisen eine Krümmung auf, die an ein Baumleben erinnert und sogar noch stärker ist als bei den Australopithecinen. Auch der Fuß offenbart eine derart widersprüchliche Anatomie: Einerseits ließ sich der große Zeh nicht abspreizen und die Unterseite zeigt eine Wölbung, ließ also einen energiesparenden aufrechten Gang zu – alles ähnlich wie bei uns heute. Andererseits sind die Zehen ebenfalls gekrümmt wie bei einem Kletterer.
Das alles scheint überhaupt keinen Sinn zu machen, wo es doch vor 300.000 Jahren in der Welt von Homo naledi nur wenige Bäume gab. Doch Jean-Luc Voisin beginnt den Lebensraum des Urmenschen genauer zu betrachten und schließlich mit ganz neuen Augen zu sehen. Die Rising-Star-Höhlen liegen in einem trockenen Kalkplateau. Wenn im heißen Sommer kurze, aber heftige Regenmassen vom Himmel fallen, lösen sie Gesteine wie Kalk, Dolomit oder Gips und fördern die Entstehung zahlreicher Karsthöhlen oder schüsselförmiger Senken (Dolinen). In einem solchen Gelände könnten Kletterer sich gut vor Raubtieren auf die Felsen flüchten oder in den Senken nach Wasser suchen.
Nicht weit von der Höhle gibt es tiefe Schluchten und schroffe Felswände
Und nicht nur das. Nur 20 Kilometer weiter erheben sich die Megaliesberge, ein fast 200 Kilometer langer und bis mehr als 1800 Meter hoher Gebirgszug. Hier gibt es schroffe, dutzende Meter hohe Felswände und bis zu 100 Meter tiefe Klüfte. Kurzum: Ein Wesen, das steile Felswände erklimmen und sich in zerklüftete Höhlenabgründe sicher hinabbewegen konnte, hätte hier Überlebensvorteile, die nichts mit Wäldern und Bäumen zu tun haben. Jean-Luc Voisin ist daher überzeugt, bei Homo naledi handele es sich um einen hoch effektiven Felskletterer, wie er in der April-Ausgabe von Spektrum der Wissenschaft im Detail begründet.
Ist Homo naledi also ein übrig gebliebener Vormensch, der sich in dieser speziellen Umwelt eine Nische gesucht und nur ein wenig in Richtung Homo weiterentwickelt hat? Doch dagegen spricht, dass die körperlichen Merkmale dieser Kreatur eher wie ein Mosaik aus Merkmalen eines Homo und der Anpassung ans Klettern wirken. Voisin glaubt vielmehr, dass Homo naledi sich erst später entwickelte und er seine ganz speziellen Kletterfähigkeiten dabei als neue Anpassung erwarb.
Das neue Bild von der Evolution: Ein Flussdelta
Diese Sicht passt gut in das neue Bild von der Evolution der Menschen, nach dem die Entwicklung nicht wie in einem Stammbaum strikt von einer Art zu nächsten vorangeschritten ist. Vielmehr sehen die Forschenden der Paläoanthropologie die Evolution heute eher wie eine Art Busch oder auch wie ein Flussdelta, dessen Arme sich verzweigen und gelegentlich wieder zusammenführen. Denn es gab offensichtlich viele unterschiedliche Menschenarten, die jeweils an lokale Gegebenheiten angepasst waren, sich aber auch manchmal wieder vermischten und sich Erbgut von anderen einverleibten. Homo naledi könnte demnach in einem wechselseitigen Prozess aus Anpassung an seine Umgebung und Austausch von Genen mit anderen Homoarten entstanden sein – und so seine einzigartige Mixtur aus Kletterer und Homo entwickelt haben.
Und noch etwas lässt die These vom Felskletterer in neuem Licht erscheinen: Eine Menschenart, die in der Lage war, in die senkrechten, schlotförmigen Gänge von Höhlen einzudringen, um sich etwa vor Raubtieren in Sicherheit zu bringen, dort in der Trockenzeit Wasser zu suchen oder sich an heißen Tagen zu kühlen, dürfte sich in einem System wie den Rising-Star-Höhlen gut auskennen. Und das macht – auch in Zusammenhang mit den Erkenntnissen vom Gehirn Homo naledis – Lee Bergers Vermutung, hier könne es sich um die Bestattung von Verstorbenen handeln, um einiges wahrscheinlicher.