Evolution: Wie der Mensch zu seinem großen Gehirn kam und was die Schwangerschaft damit zu tun hat

Schnelles Wachstum im Mutterleib war ein entscheidender Schritt in der menschlichen Entwicklung und Voraussetzung für ein leistungsfähiges Denkorgan. Forschende aus den USA haben jetzt einen erstaunlichen Zusammenhang zwischen Schädelvolumen, Schwangerschaft und Zahngröße ermittelt, der ein neues Fenster in die Vergangenheit öffnet

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Vor einem Weizenfeld bei Sonnenuntergang ist eine hochschwangere Frau zu sehen. Sie trägt ein leichtes Sommerkleid und hält in der Hand des herabhängenden Arms einen Sonnenhut.

Sein großes, zu hoher Intelligenz fähiges Gehirn ist für den Homo sapiens charakteristisch wie kein anderes seiner Organe. Es erklärt, weshalb er sich über die gesamte Erde ausbreiten und sie stärker verändern konnte als jedes Lebewesen zuvor. Doch dieser evolutionäre Erfolg hat seinen Preis, denn das Denkorgan ist enorm energiehungrig. Obwohl es nur rund zwei Prozent des Körpergewichts ausmacht, verbraucht es etwa 20 Prozent aller Kalorien, die der menschliche Körper verfeuert. Und das sind noch nicht alle Kosten: Schwangerschaft und Geburt benötigen ebenfalls viel Energie und sind für menschliche Mütter kräftezehrend, mühsam, ja nicht selten gefährlich. Denn menschliche Babys wachsen im Mutterleib wesentlich schneller als die von Affen und sind bei der Geburt schwerer. Auch das hat mit dem großen Gehirn zu tun.

Wann aber setzte diese Entwicklung zu dem effektiven Denkorgan bei unseren Vorfahren ein? Und was waren die Gründe, die zu dem enormen Gehirnwachstum der menschlichen Linie führte? Fest steht, dass das große Gehirn nicht am Anfang der Entwicklung zum Menschen stand, sondern der aufrechte Gang. Das belegen Fossilien verschiedener Arten von Vormenschen, die vor etwa zweieinhalb bis sechs Millionen Jahren lebten: Sie beherrschten zwar bereits die Fortbewegung auf zwei Beinen, hatten jedoch relativ kleine Schädel und Gehirne, die kaum größer waren als die heutiger Schimpansen.

Ungeborene legen zwölf Gramm pro Tag an Gewicht zu

Eines allerdings machte die Erforschung bislang schwierig: Versteinerungen von Schädeln, anhand derer sich das Gehirnvolumen errechnen lässt, sind sehr selten. Und über den Verlauf einer Schwangerschaft besagen Funde fossiler Skelettbruchstücke überhaupt nichts. Schon länger aber wird vermutet, dass die hohe Wachstumsrate im Mutterleib etwas mit dem besonders leistungsfähigen Denkorgan zu tun hat. Und jetzt haben Forschende aus den USA eine völlig neue Möglichkeit gefunden, diese Fragen zu klären.

Vor schwarzem Hintergrund sind fünf verschiedene Schädel in bräunlichen und gelblichen Farben zu sehen, die den Betrachter anschauen. Zwei sind deutlich kleiner und wirken kindlich, am größten ist der Schädel eines Homo erectus in der Mitte. Deutlich sind bei allen die Zähne zu erkennen.
Beim Vergleich der Schädel von Affen und menschlichen Vorfahren entdeckten Forschende der Western Washington University überraschende Zusammenhänge (von links im Uhrzeigersinn: Kind und erwachsenes Exemplar der Vormenschengattung Australopithecus , erwachsener und junger Schimpanse, erwachsener Homo erectus)

Ein Team um die Anthropologin Tesla A. Monson von der Western Washington University in Bellingham (US-Bundestaat Washington) hatte zunächst die biologischen Merkmale verschiedener Affenarten sowie des Menschen miteinander verglichen und dabei erstaunliche Zusammenhänge entdeckt. Eines der Merkmale ist die Wachstumsrate des Kindes in der Gebärmutter (Uterus). Sie wird als durchschnittliche Gewichtszunahme des Ungeborenen pro Tag der Schwangerschaft angegeben. Menschliche Kinder legen im Mutterleib pro Tag 11, 58 Gramm zu. Bei ihren engsten Verwandten, den Schimpansen und Bonobos, sind es dagegen nur 7, 54 beziehungsweise 5, 95 Gramm pro Tag. Das Entscheidende aber: Die Wachstumsrate im Mutterleib hängt mit der Größe des Schädels und damit des Gehirns zusammen! Je größer das Denkorgan, desto rasanter wachsen die Ungeborenen.

Zähne werden schon im Mutterleib angelegt

Doch das ist nicht alles: Auch die Größe der Backenzähne ist sowohl mit der Schädelgröße als auch der Wachstumsgeschwindigkeit im Uterus gekoppelt. Wie Tesla Monson und ihre Kollegen ermittelten, lässt sich aus dem Größenverhältnis des ersten Backenzahns zum dritten Backenzahn (beim Menschen „Weisheitszahn“ genannt) auf die Schädelgröße schließen und ebenfalls auf die Wachstumsrate der Ungeborenen. Diesen zunächst erstaunlich anmutenden Zusammenhang erklärt die Anthropologin so:

„Zähne werden bereits im Mutterleib angelegt und beginnen zur gleichen Zeit zu wachsen wie andere Teile des Skeletts. Viele der genetischen Stoffwechselwege, die für das Wachstum im Uterus wichtig sind, spielen eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung des Schädels, des Gehirns und der Zähne. Zum Beispiel gibt es Wachstumsfaktoren wie den IGF-1, dessen Störung gleichermaßen zu kleinen Gehirnen, kleiner Körperstatur und kleinen Zähnen führt“.

Eine Frau mit langen dunklen Haaren und einem violetten Sakko hält den Kieferknochen eines Tieres in der Hand. Links und rechts von ihr sind Regale aus Metall, auf deren Ablagen Unmengen von Schädeln und Kartons mit Knochen lagern.
Die Anthropologin Tesla A. Monson – hier im Museum of Vertebrate Zoology der Universität Berkeley – ist darauf spezialisiert, Schädel und Zähne von Affen und menschlichen Vorfahren zu untersuchen

Wie Monson und ihre Kollegen in einer aktuellen Veröffentlichung in der Zeitschrift „Proceedings of the National Academy of Sciences“ (PNAS) belegen, gibt es diesen Zusammenhang zwischen Zahngröße, Wachstumsrate während der Schwangerschaft und Schädelvolumen bei vielen heutigen Affenarten und beim Homo sapiens. Zusätzlich bezogen die Forschenden Zahngrößen und Schädelvolumen von fossilen menschlichen Vorfahren und Verwandten ein (die Schwangerschaftsdauer ließ sich ja an den versteinerten Relikten bislang nicht ablesen). Und sie konnten auch hier den statistischen Zusammenhang bestätigen.

Forschende öffnen ein neues Fenster in die Vergangenheit

Damit öffnet sich ein neues Fenster in die Vergangenheit: Die Möglichkeit, allein anhand von versteinerten Zähnen sowohl die Gehirngrößen als auch die vorgeburtlichen Wachstumsraten in der menschlichen Vergangenheit abzuschätzen. Und da Zähne wegen ihrer großen Härte wesentlich häufiger fossil erhalten bleiben als andere Skelettteile, könnte das bald zu einer Flut weiterer Daten und Erkenntnisse führen.

Das Schwarzweiß-Foto zeigt die von oben angeleuchtete Silhouette eines Neugeborenen, das von zwei aufragenden Armen und Händen vor einem hellen Hintergrund hochgehalten wird.
Menschliche Babys sind bei der Geburt schwerer als die von Affen und haben ein größeres Gehirn. Dank der von Tesla Monson und ihren Kollegen entwickelten Methode lässt sich ermitteln, wann dieser Trend in der Evolution des Homo sapiens begann

Doch schon jetzt lassen sich anhand der neuen Methode wichtige Aussagen über die Evolution des Gehirns und der Schwangerschaft in der menschlichen Ahnenlinie machen. Vormenschen der Gattung Australopithecus – zu ihnen zählt etwa das populäre Fossil „Lucy“ – lagen sowohl von der Hirngröße als auch vom Schwangerschaftsverlauf her noch weitgehend im Bereich der Affen, etwa heutiger Schimpansen. Das änderte sich vor zwei bis anderthalb Millionen Jahren, als die ersten Vertreter der Gattung Homo auftauchten (etwa Homo habilis und Homo ergaster) und sowohl Hirnvolumen wie Wachstumsgeschwindigkeit im Mutterleib zunahmen. Die typisch menschlichen Schwangerschaftsverläufe aber gibt es erst seit weniger als einer Million Jahren mit Arten wie Homo heidelbergensis, dem Neandertaler und dem Homo sapiens, so die Ergebnisse aus der PNAS-Veröffentlichung.

Was das Nahrungsangebot mit der Gehirngröße zu tun hat

Im Verlauf der menschlichen Evolution haben also sowohl die Größe des Gehirns zugenommen als auch der energetische Aufwand, den die Mütter für die Entwicklung ihrer Babys während der Schwangerschaft hatten. Letztlich heißt das: Unsere Vorfahren verbrauchten mehr Nahrung, mehr Kalorien. Doch was war der Auslöser für diese Entwicklung? Für Tesla Monson steht eine Umweltveränderung damit in Zusammenhang. Denn damals breitete sich immer mehr Grasland aus, und die Zahl von Pflanzenfressern, also Nahrungsquellen für die Menschen, nahm zu. Gleichzeitig erlaubte das größere Gehirn, Fleisch als energiereiche Nahrungsquelle besser zu nutzen. Denn die frühen Menschen begannen Werkzeuge herzustellen, mit denen sie anfangs Aas aufschließen und später gezielt Tiere jagen konnten. Damit ergab sich eine positive Rückkoppelung: Die verbesserte Ernährungslage ermöglichte nochmals schnelleres Wachstum im Mutterleib und wieder größere, leistungsfähigere Gehirne.

Obwohl das Wachstum im Mutterleib beim Menschen schneller geht als bei jedem Affen und die Neugeborenen schwerer sind, kommen menschliche Babys noch unreif zur Welt. Ihr Gehirn hat erst 30 Prozent seines späteren Gewichts und der Aufwand ist auch nach der Geburt noch riesengroß, den die Mütter – und meist auch die Väter – für ihren Nachwuchs treiben. Das zusammen macht den Menschen einzigartig unter seinen äffischen Verwandten und dürfte ein wichtiger Teil seiner evolutionären Erfolgsgeschichte sein.

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