Hohes Cholesterin: Wie sinnvoll ist die Früherkennung für alle Kinder?
Fachleute widersprechen dem Entwurf von Bundesgesundheitsminister Lauterbachs Gesundes-Herz-Gesetz. Welche Argumente gibt es für und gegen ein Screening aller Kinder?

Geht es nach Bundesgesundheitsminister Lauterbach und der Bundesregierung, sollen demnächst alle gesetzlich versicherten Kinder und Jugendliche Anspruch auf eine neue Untersuchung haben. Das sieht der verabschiedete Kabinettsentwurf für das Gesunde-Herz-Gesetz vor, der demnächst im Bundestag beraten werden soll.
Die Untersuchung soll frühzeitig diejenigen identifizieren, die erblich bedingt zu hohe Cholesterinwerte haben. Fachleute sprechen dabei von einer familiären Hypercholesterinämie. Dabei haben Betroffene bereits als Kinder zu hohe Cholesterinwerte und können schon als junge Erwachsene einen Herzinfarkt bekommen. Die Idee hinter der Früherkennung: Wird die Veranlagung früh erkannt und behandelt, lassen sich Herzinfarkte und Todesfälle verhindern.
Das klingt erst einmal so, als wäre Früherkennung auf familiäre Hypercholesterinämie für alle eine gute Sache. So ist es auch geplant: Es soll ein allgemeines Screening für alle Menschen in jungen Jahren geben. Wenige Tage nach dem Kabinettsbeschluss veröffentlichte das Institut für Wirtschaftlichkeit und Qualität im Gesundheitswesen (IQWiG) jedoch ein Gutachten, das zu einem ganz anderen Schluss kommt: Ob ein allgemeines Screening nützt und wie viel es bringt, sei unklar. Sinnvoll sei es allerdings, Kinder genauer zu untersuchen, bei deren Eltern der Verdacht auf eine familiäre Hypercholesterinämie besteht oder diese schon bestätigt ist.
Wie kommt es zu den unterschiedlichen Einschätzungen?
Familiäre Hypercholesterinämie erkennen
Aktuell wird bei Kindern das Cholesterin nur gemessen, wenn Kinderarzt oder Kinderärztin Veränderungen auffallen, die auf hohe Werte hindeuten, etwa bestimmte Ablagerungen in der Haut oder im Auge. Bei der Jugenduntersuchung J1 im Alter von 13 bis 14 Jahren sollen die Kinderärzt:innen auch fragen, ob in der Familie Herzinfarkte in jungen oder mittleren Jahren vorgekommen sind oder bereits eine genetische Diagnose in der Familie bekannt ist. Dann können sie das Blut untersuchen lassen und bei unüblich hohen Cholesterinwerten eine genetische Abklärung veranlassen.
Allerdings wird das bisher in Kinderarztpraxen wohl uneinheitlich gehandhabt und nicht immer ist Eltern das eigene Risiko bekannt. Deshalb bleibt eine familiäre Hypercholesterinämie oft unentdeckt, bis es zu einem frühen Herzinfarkt kommt. Das Gesunde-Herz-Gesetz will deshalb die Blutuntersuchung bei allen Kindern zum Standard machen, unabhängig davon, ob es Auffälligkeiten in der Familie gibt.
Bei einem solchen allgemeinen Screening sind aber einige grundsätzliche Fragen zu bedenken:
- Wie gut ist der Nutzen belegt, also dass ein allgemeines Screening tatsächlich auch vorzeitige Herzinfarkte und Todesfälle verhindert?
- Welche Schäden sind möglich? Dazu gehören etwa die Belastungen durch die Blutabnahmen, die dann bei vielen Kindern nötig wären – auch bei denen, bei denen sich herausstellt, dass sie kein Risiko haben. Außerdem kann ein Screening Fälle übersehen oder umgekehrt zu Fehlalarmen führen.
Aus diesem Grund ist es nötig, vor der Einführung eines solchen Screenings die Datenlage zu diesen Fragen genauer anzusehen – genau das hat das IQWiG in seinem Gutachten gemacht.
Was Studien sagen
Die Studienlage zu Nutzen und Risiken eines allgemeinen Screenings ist allerdings ziemlich dünn. So gibt es keine Studien, die für die familiäre Hypercholesterinämie die positiven und negativen Folgen eines allgemeinen Screenings mit dem Vorgehen ohne Screening vergleichen. Deshalb hat das IQWiG-Team auch nach Studien gesucht, die bei Kindern mit familiärer Hypercholesterinämie einen frühen Therapiebeginn mit einem späteren Start der Behandlung vergleichen. Hier gibt es zwar Hinweise, dass eine frühe Therapie Vorteile haben könnte. Wie groß diese ausfallen, ist jedoch nicht gut abgesichert. Auch lasse sich laut Gutachten daraus nicht automatisch ableiten, dass die Gesamtabwägung für ein allgemeines Screening positiv ausfallen würde. Bezogen auf alle Kinder ist der Nutzen des Screenings also nicht gut belegt.
Das Gutachten hat sich auch angesehen, wie gut ein Screening mit Blutuntersuchung und bei Bedarf genetischer Testung Kinder mit familiärer Hypercholesterinämie identifizieren könnte. Ein Problem dabei: Bisher gibt es keinen allgemein anerkannten Schwellenwert für Cholesterin, ab dem eine genetische Testung erfolgen sollte. Bei zu niedrigen Schwellenwerten werden viele Kinder unnötig getestet, bei zu hohen Grenzwerten kann das Screening Fälle von familiärer Hypercholesterinämie übersehen und die Betroffenen fälschlich in Sicherheit wiegen. Mangels geeigneter Studien konnte das Gutachten auch keine Empfehlung abgeben, was der beste Schwellenwert wäre.
Schließlich ist es auch unklar, in welchem Alter eine Behandlung mit Medikamenten am besten beginnen sollte, um einerseits Herzinfarkte zu verhindern, andererseits Kinder auch nicht unnötig zu belasten. Hier wäre es auch deshalb wichtig, mehr zu wissen, weil die familiäre Hypercholesterinämie keine einheitliche Erkrankung ist, sondern es viele unterschiedliche Varianten gibt, die mit unterschiedlich hohen Risiken einhergehen.
Früherkennung – aber wie genau?
Weil zu den Konsequenzen eines allgemeinen Screenings so viele Fragen offen sind, spricht sich das IQWiG-Gutachten dagegen aus, macht aber einen alternativen Vorschlag: So könnte stattdessen ein sogenanntes Kaskaden-Screening eingeführt werden. Das könnte konkret so aussehen:
Wenn bei jungen Erwachsenen ab 18 Jahren familiäre Risiken wie frühe Herzinfarkte bekannt sind oder bei Gesundheitsuntersuchungen stark erhöhte Cholesterinwerte auffallen, sollten Ärzt:innen abklären, ob eine familiäre Hypercholesterinämie vorliegt. Falls sich der Verdacht durch genetische Tests bestätigt, sollten Familienmitglieder inklusive Kinder und Jugendliche das Angebot erhalten, sich ebenfalls testen zu lassen. Auf diese Weise wäre eine frühe Therapie ebenfalls möglich.
Im Vergleich zu einem allgemeinen Screening hätte ein solches Kaskaden-Screening den Vorteil, dass sich die Früherkennung auf Personen mit hohen Risiken konzentriert und nicht viele Kinder getestet werden müssen, von denen die allermeisten nur ein geringes Risiko haben.
Das IQWiG-Gutachten schlägt außerdem vor, die noch offene Frage zum optimalen Therapiebeginn in einer Studie zu klären, die die Einführung des Kaskaden-Screenings begleitet. In Bayern läuft derzeit noch ein Modellprojekt (Vroni), das ein allgemeines Screening bei Kindern im Schulalter testet. Nach Einschätzung des IQWiG werden sich wegen der Machart der Studie die im Gutachten identifizierten offenen Fragen damit allerdings nicht beantworten lassen.
Das Ergebnis des IQWiG-Gutachtens, dass Nutzen und Risiken eines allgemeinen Screenings unzureichend untersucht sind, stimmt mit der Einschätzung des US-amerikanischen Gremiums für Präventionsfragen (USPSTF) überein. In Europa gibt es nur einige wenige Länder mit einem allgemeinen Screening, dazu gehört Slowenien. Allerdings ist ein Kaskaden-Screening inzwischen in einigen Ländern erfolgreich etabliert, etwa in den Niederlanden. Im Vereinigten Königreich hatte sich eine Kommission 2020 gegen ein allgemeines Screening ausgesprochen.
Wie es jetzt weitergeht
Das IQWiG hat das Gutachten im Auftrag des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) erstellt, der in Deutschland über Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen entscheidet, etwa was in den U-Untersuchungen für Kinder getestet wird. Mit einer Entscheidung des G-BA, ob er das Screening einführen will, ist allerdings frühestens Mitte 2025 zu rechnen.
Der Gesetzesentwurf aus dem Bundesministerium grätscht also wieder in ein laufendes Verfahren des G-BA, ähnlich wie es bereits mit dem Krankenhaus-Transparenz-Gesetz der Fall war. Nach vielfachen Protesten aus medizinischen Fachkreisen gegen den Referentenentwurf des Gesetzes sieht die Kabinettsfassung zumindest die Einbeziehung des G-BA in dieser Frage vor.
Würde das Gesetz in der Kabinettsfassung in Kraft treten, hätte der G-BA allerdings nicht mehr die Möglichkeit, sich gegen das Screening zu entscheiden. Das Gremium könnte lediglich Details festlegen, etwa in welchem Alter die Früherkennung stattfinden soll und ab welchem Cholesterinwert eine weitere Abklärung erfolgen soll.
Allerdings haben Mitglieder des Bundestags bereits angekündigt, die vorgebrachten Argumente und das Gutachten des IQWiG im parlamentarischen Prozess zu berücksichtigen. Auch wird es dabei Anhörungen im Gesundheitsausschuss geben, zu denen etwa der G-BA und medizinische Fachgesellschaften Stellungnahmen abgeben können. Ob und welche Regelungen für die Früherkennung von familiärer Hypercholesterinämie das Gesundes-Herz-Gesetz nach der Verabschiedung im Bundestag dann noch enthält, bleibt abzuwarten.