- /
- /
Gefährliche Gerinnsel: Viele Menschen mit Covid-19 bekommen Thrombosen und Embolien. Erklärt das auch seltene Nebenwirkungen der Impfung?
Gefährliche Gerinnsel: Viele Menschen mit Covid-19 bekommen Thrombosen und Embolien. Erklärt das auch seltene Nebenwirkungen der Impfung?
Wissenschaftler fordern sorgfältiges Abwägen von Nutzen und Risiken der AstraZeneca-Vakzine und präsentieren erste Therapien der seltenen Thrombosen
Die Europäische Arzneimittelbehörde bleibt bei ihrer Einschätzung: Der AstraZeneca-Impfstoff gegen das Coronavirus sei sicher und wirksam, verkündete die Pharmazeutin und Direktorin der EMA, Emer Cooke, auf einer Pressekonferenz am Nachmittag des 18. März. Zuvor hatten Fachleute der Behörde und externe ExpertInnen die zum Teil tödlichen Thrombosefälle geprüft, die in den letzten Tagen in zeitlichem Zusammenhang mit der Impfung von AstraZeneca aufgetreten waren. Allgemein gebe es kein erhöhtes Risiko.
Dennoch sollen einige Fällen nun genauer untersucht werden, bei denen eine Verbindung zwischen den Thrombosen und der Impfung derzeit nicht ausgeschlossen werden kann. Studien, die diesen Zusammenhang untersuchen, würden fortgesetzt, außerdem eine Warnung vor möglichen Blutgerinnseln auf dem Beipackzettel vermerkt, so die EMA weiter.
Obwohl die Behörde also weiter hinter dem AstraZeneca Vakzine steht, könnte der Zeitpunkt für die problematischen Meldungen rund um die Vakzine nicht schlechter sein. Die Sorge, wir verbauten uns durch Übervorsichtigkeit den Weg aus der Pandemie, kollidiert mit der Sorge um Nebenwirkungen und einem generellen Vertrauensverlust in die Corona-Impfungen, der in Zukunft womöglich nicht mehr gut zu machen ist. Der Nutzen der Impfung würde die Risiken bei weitem übertreffen, heißt es bei den EU-Arzneimittelwächtern. Auch Vertreter der Weltgesundheitsorganisation WHO äußern sich so.
Nutzen versus Risiken – was heißt das für den konkreten Fall der Gefährdung durch Blutgerinnsel?
Hohes Risiko für Blutgerinnsel bei Covid-19
Thrombosen sind in der Pandemie nicht erst mit der aktuellen Diskussion um den Impfstoff ein Thema geworden. Der Erreger selbst sorgt in großer Zahl für Krankheits- und Todesfälle. Bereits seit dem Frühjahr 2020 häufen sich Berichte, dass das Virus Sars-CoV-2 und seine Aktivitäten im Körper die Blutgerinnung stark beeinflussen.
Komplikationen durch Blutgerinnsel bei Covid-19 sind verbreitet. Das in dieser Beziehung etwas nicht stimmt, merkten die Pathologen, die sich im Frühling des vergangenen Jahres die ersten Corona-Toten genauer anschauten, recht schnell. Zwar treten Blutgerinnsel auch sonst bei schweren Erkrankungen als Komplikation auf. Doch bei Covid-19 scheint das Risiko (im Vergleich etwa zur Grippe) äußerst hoch, nicht nur viele, sondern auch besondere, zum Teil gegen Blutverdünner „resistente“ Blutklümpchen zu bilden.
„In unserem Autopsie-Kollektiv finden sich vorwiegend kleine Blutgerinnsel überwiegend in der Lunge, in den Bein- und Beckenvenen, sowie mikroskopisch kleine Gerinnsel in den Kapillarschlingen der Nieren einiger Patienten“, sagt Kirsten Mertz vom Institut für Pathologie am Kantonsspital Baselland. Bei Covid-19 träten auch in der Lunge ungewöhnlich viele „Mikrothrombosen“ auf. Auch die Lungenembolien, die sich bei der Corona-Krankheit bilden und vielfach zum Tod führen, unterschieden sich von denjenigen, die man von anderen Erkrankungen kenne, sagt die Pathologin.
Nach den Zahlen einer aktuellen US-amerikanischen Studie kommt es bei 16 Prozent der Patientinnen, die wegen Covid-19 im Krankenhaus behandelt werden, zu einer unkontrollierten Blutgerinnung in den Gefäßen. Zum Vergleich: bei der Influenza-Pandemie im Jahr 2009, also während der Schweinegrippe, waren 6 Prozent der Infizierten von Blutgerinnseln betroffen.
Nicht nur schwere Covid-Fälle von Thrombosen betroffen
Solche Gerinnsel zeigen sich in Form einer tiefen Beinvenenthrombose, als Schlaganfall, Herzinfarkt oder einer Lungenembolie. Liegen die Covid-19-Patienten gar auf der Intensivstation, bekommen mehr als ein Viertel von ihnen Thrombosen. Das Tückische bei Covid-19: Nicht nur die offensichtlich schwer Erkrankten bekommen Probleme mit der Blutgerinnung. Auch diejenigen mit leichten Verläufen können betroffen sein.
Wie der 17 Jahre alte junge Mann, der mit starken linksseitigen Kopfschmerzen die Notaufnahme des Westchester Medical Center in New York aufsuchte. Zwei Wochen zuvor war er positiv auf Sars-CoV-2 getestet worden. Dabei litt er nicht an Husten, sondern an Kopfschmerzen und einem auffällig erhöhten Blutdruck. Seine akuten Kopfschmerzen hatten sich nach dem Aufwachen am Morgen permanent verstärkt, der Mann musste sich hin und wieder erbrechen. Wie die klinische Untersuchung ergab, hatte sich bei ihm eine sehr seltene Sinusvenenthrombose im Gehirn gebildet.
Die Sinusvenen durchziehen die Hirnhaut und transportieren das verbrauchte, sauerstoffarme Blut vom Gehirn Richtung Herz. Thrombosen in diesen großen Blutgefäßen im Gehirn sind sehr selten. Jährlich werden in den USA 2 bis 5 Fälle auf 1 Million Menschen festgestellt. Betroffen sind eher junge Menschen und eher Frauen. Häufig haben sie eine vererbte Gerinnungsstörung, eine Kopfverletzung oder Tumorerkrankung oder nehmen die „Pille“. Für den jungen Mann trafen keine der Risikofaktoren zu. Die gefährliche Gehirnthrombose, die in der Klinik erfolgreich behandelt werden konnte, schreiben seine ÄrztInnen der Infektion mit dem Coronavirus zu.
Blutgerinnung und Immunabwehr sind eng miteinander verknüpft
Warum gibt es dieses hohe Thromboserisiko, wodurch bringt Sars-CoV-2 die Blutgerinnung dermaßen aus dem Tritt? Ich frage Johannes Schmid von der Medizinischen Universität Wien, der sich als Experte besonders mit dem Zusammenhang zwischen Entzündungen und der Blutgerinnung auskennt. Der Forscher erklärt erst einmal Grundsätzliches. „Im Laufe der Evolution haben sich die Prozesse der Blutgerinnung und der Immunabwehr gemeinsam entwickelt“, sagt Schmid. Es mache Sinn, dass diese zwei mächtigen Funktionen des Körpers eng zusammenarbeiteten.
Wenn wir zum Beispiel mit dem Rad stürzen und mit einer Schürfwunde nach Hause humpeln, ist es gut, dass Abwehr und Gerinnung gemeinsam und aufeinander abgestimmt aktiv werden. Die Abwehr verhindert eine Ausbreitung von Krankheitserregern, die möglicherweise über die Wunde in den Körper gelangt sind. Die Gerinnung stoppt die Blutung und stößt an, dass die Verletzung schließlich heilen kann. Dabei erhöhen die Entzündungssignale aus dem Immunsystem die Gerinnungsneigung des Blutes.
Da Blutgerinnsel jedoch nicht „einfach so“ im Körper auftreten dürften, sei die Aktivierung der Gerinnungskaskade vielfach abgesichert, erklärt Schmid. Denn komme sie erst einmal in Gang, laufe sie unglaublich effizient und in rasender Geschwindigkeit ab. „In dem Moment noch gegenzusteuern, ist schwer.“
Überreaktion der Abwehr und andere Faktoren erhöhen die Gerinnungsneigung bei Covid-19
Bestimmte Situationen erhöhen die Gefahr der ungewollten Bildung von Gerinnseln: eine Operation, Bettlägerigkeit, eine schwere Infektion, eine Krebserkrankung. Bei Covid-19 ist das Risiko offenbar besonders hoch. Warum? Gerade bei schwerem Covid-19 gerät die Immunabwehr außer Rand und Band. „Diese überschießende Immunantwort ist verquickt mit einer überschießenden Blutgerinnung, Komplikationen in Form von Thrombosen machen daher wesentlich die Gefährlichkeit der Erkrankung aus“, erklärt Johannes Schmid.
Aber bei Covid-19 spielen wohl auch noch andere Faktoren eine Rolle. Sars-CoV-2 attackiert zum Beispiel direkt die innere Haut der Blutgefäße, das so genannte „Endothel“. Die Endothelzellen tragen die Virusrezeptoren auf ihrer Oberfläche und können selbst infiziert werden. Immunzellen eilen herbei, um den Schaden zu beheben, was die Gerinnungskaskade antreiben kann. Möglicherweise spielen auch Antikörper eine Rolle, die während der Infektion fälschlicherweise aktiviert werden und sich gegen körpereigene Blutbestandteile richten (16,22).
Das Virus und auch das Spike-Protein aktivieren die Blutplättchen
Auf einen interessanten Zusammenhang machten chinesische Wissenschaftler der Universität in Zhengzhou vergangenen September im Fachjournal „Hematology and Oncology“ aufmerksam. Sie konnten zum ersten Mal im Labor zeigen, das Sars-CoV-2 Viren nicht nur an die Blutplättchen – die Thrombozyten, die Hauptakteure der Blutgerinnung – binden, sondern sie auch in einen hyperaktiven Zustand bringen können. Brachten die Wissenschaftler menschliche Thrombozyten in der Laborschale mit den Viren zusammen, verklumpten die Blutplättchen zwar nicht. Das Virus versetzte sie jedoch in einen „angeregten“ Zustand, sodass die Wirkung anderer bekannter Auslöser der Gerinnung deutlich gesteigert war.
Nicht nur das Virus, sondern auch das Spike-Protein allein, das sie zum Eindringen in die Zelle nutzten und mit dem nun die Impfungen funktionieren, konnte auf dieses Weise die Gerinnselbildung im Labor steigern. Auch andere Viren (etwa HIV oder auch das Grippevirus) können Blutplättchen in einen aktivierten Zustand versetzen. Der Mechanismus bei Sars-CoV-2 scheint jedoch speziell, weil diese Aktivierung direkt über den ACE2-Rezeptor geschieht.
Impfung und Gerinnung
Das führt zu einer wichtigen Frage, die sich derzeit akut stellt: Könnten nicht nur Coronaviren Thrombosen auslösen, sondern in seltenen Fällen auch Impfungen gegen den Erreger?
Die hierzulande zurzeit verfügbaren Impfstoffe tragen den genetischen Bauplan für das Spike-Protein entweder als Boten-RNA oder mit Hilfe eines Adenovirus als Kurier in die Körperzellen hinein. Ein paar dieser Zellen produzieren in Folge für eine kurze Zeit das Virusprotein. Die Immunantwort reagiert und aktiviert schützende Abwehrzellen und Antikörper, die eine Covid-19-Erkrankung bei einem Kontakt mit dem echten Virus effektiv verhindern können.
Mitte März 2021 sind in mehr als 20 europäischen Ländern die Impfungen mit dem AstraZeneca-Vakzin vorübergehend eingestellt worden. Der Grund: Stand 10. März waren laut der EMA im europäischen Wirtschaftsraum 30 Fälle von thromboembolischen Ereignissen in zeitlichem Zusammenhang mit der Impfung von insgesamt mehr als 5 Millionen Menschen mit dem AstraZeneca-Produkt gemeldet worden.
Doch die Anzahl dieser Thrombosen liegt statistisch gesehen nicht über dem Wert, den man ohnehin in der Bevölkerung im betroffenen Zeitraum erwarten würde. „Thrombosen treten im Allgemeinen recht häufig auf und es ist darum zu erwarten, dass es Fälle geben wird, die im zeitlichen, aber dadurch nicht unbedingt ursächlichen Zusammenhang mit einer Impfung stehen“, sagte die Impfstoffexpertin Anke Huckriede von der Universität Groningen dem Science Media Center am 12. März.
Mehr seltene Hirnthrombosen nach Impfung als statistisch zu erwarten
Die Situation änderte sich am 15. März, als das Bundesgesundheitsministerium auf Empfehlung des Paul-Ehrlich-Instituts auch in Deutschland die Impfung mit AstraZeneca aussetzte. Sechs Frauen und ein Mann (20 bis 50 Jahre alt) waren vier bis 16 Tage nach der Astra-Impfung an einer Hirnvenenthrombose erkrankt, drei daran gestorben. Am Dienstag wurde ein weitere Fall gemeldet. Inzwischen gibt es in Deutschland laut tagesschau.de 13 gemeldete Fälle dieser Art Blutgerinnsel bei 1,7 Millionen Impfungen (Stand 18. März).
Die Experten sehen in den Fällen eine Häufung dieser seltenen Thrombose-Variante, bei der es neben den Blutklümpchen, die zum Teil im ganzen Körper verteilt sind, zu einem Mangel an Blutplättchen und inneren Blutungen kommt. Von der Statistik zu erwarten wären in der betreffenden Zeitspanne nicht 13, sondern lediglich 1 Fall. Es handele sich um eine sehr spezielle selten vorkommende Form von Thrombose, wovon nun kurz nach Impfung anscheinend einige Fälle aufgetreten seien, äußert sich Anke Huckriede am 15. März gegenüber dem SMC.
Gefahr durch das geimpfte Spike-Protein?
Fälle sind nicht nur in Deutschland, sondern in mindestens fünf Ländern, darunter Norwegen, gemeldet worden. „Das ist selbstverständlich schon verdächtig und sollte untersucht werden. Fakt bleibt aber, dass diese Thrombosen sehr selten beobachtet werden nach einer Impfung mit dem AstraZeneca-Vakzin“, so Impfexpertin Huckriede.
Wenn das Spike-Protein die Thrombozyten aktivieren kann, wie es die chinesischen Forscher gezeigt haben, könnte dann das Gleiche nicht auch nach einer Impfung geschehen, wo ja genau dieses Protein die schützende Immunantwort auslöst? Gerinnungsexperte Johannes Schmid teilt meine Sorge nicht: „Würde ein grundsätzliches Problem mit der Impfung bezogen auf die Blutgerinnung bestehen, wären bisher weitaus mehr Thrombosen aufgetreten“, sagt er.
Die Zellen, die nach der Impfung das Spike-Protein bilden, sollten prinzipiell nicht mit dem Blutkreislauf und den Thrombozyten in direktem Kontakt stehen – aber das Protein den Abwehrzellen „präsentieren“, was dann die Antikörper-Bildung in Gang setzt.
13 Lungenembolien bei mehr als 17 Millionen mit dem AstraZenecaVakzin Geimpften in Großbritannien und der EU, zeigen deutlich, dass es keine Häufung der Blutgerinnung durch die Impfung gebe. 15 Lungenembolien in zeitlichem Zusammenhang mit etwa 10 Millionen Biontech-Impfungen in Großbritannien und keine Thrombosen in den Zulassungsstudien sind weitere schlagkräftige Hinweisen, dass bei der Impfung kein grundsätzliches Problem mit dem Spike-Protein und der Gerinnung besteht.
Weitere Tests nötig, doch es fehlt die Zeit
Der Druck ist unglaublich hoch, die dritte Welle und die Virusmutanten sind da. Trotzdem muss sorgfältig untersucht werden, ob ein ursächlicher Zusammenhang zwischen den Gerinnselbildungen und der Impfung besteht. Auch, wenn es unwahrscheinlich sein sollte. Impfungen können nur dann ein Ausweg aus der Pandemie sein, wenn sie das volle Vertrauen der Bevölkerung genießen. Sonst drohen sich Zweifel in der Bevölkerung zu verselbständigen.
Die klinischen Tests und vielen Millionen bereits verabreichten Impfdosen zeigen deutlich: Die Vakzinen sind für die allermeisten von uns sicher. Die akuten, aber rasch vorübergehenden Impfreaktionen sind teilweise etwas stärker, als wir das von anderen Routine-Impfungen kennen. Dafür erzeugt die Impfung eine gute Aktivierung von Antikörperproduktion und anderen wichtigen Immunzellen, die in hohem Prozentsatz vor der Erkrankung Covid-19 schützen – auch bei alten Menschen, deren Immunabwehr sonst eher träge auf Impfungen reagiert.
Der Blick nach Israel zeigt diese Schutzwirkung eindrücklich. In der Gruppe der Menschen, die älter als 60 Jahre sind und die dort nach dem Höhepunkt der Infektionswelle Mitte Januar als erste geimpft wurden, gab es laut Eran Segal, einem Systembiologen am Weizmann Institut of Science in Rechovot, 86 Prozent weniger Covid-Kranke und 91 Prozent weniger Todesfälle.
Auch wenn es kein grundsätzliches Problem mit der Impfung gibt, könnte es sein, dass einige wenige Menschen die Impfung nicht gut vertragen. Ob und warum das so ist, weiß zurzeit noch keiner so genau. Aber einen Verdacht gibt es schon. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ zitiert den Greifswalder Mediziner Andreas Greinacher, der meint, den Mechanismus hinter den sehr seltenen Thrombose-Fällen nach der AstraZeneca-Impfung gefunden zu haben. Beteiligt seien Antikörper, die sich an eine Struktur auf den Blutplättchen anhefteten. Warum dieses Phänomen ausgerechnet bei der AstraZeneca-Vakzine auftritt, ist noch nicht geklärt. „Wir können sagen: Es wird sehr, sehr selten jemand diese Komplikation entwickeln, “ so Greinacher in der FAZ. Die gute Nachricht dabei: die Betroffenen könnten gezielt behandelt werden.
Arnold Ganser, ein Hämatologe von der Medizinischen Hochschule Hannover, behandelt dort eine ältere Frau, die innerhalb weniger Tage nach der Impfung eine Hirnvenenthrombose bekam. Die etwas über 60-Jährige spricht offenbar gut auf eine Therapie (mit dem therapeutischen Antikörper „Eculizumab“) an, die das so genannte Complement-System des Körpers blockiert – ein komplexer molekularer Schutzschirm des Körpers, der die Zerstörung von Krankheitserregern durch Abwehrzellen steigert. Ganser hält es im übrigen für denkbar, dass die beobachteten Thrombose-Fälle nach Covid-19 oder nach der Impfung nur die Spitze des Eisberges sein könnten. Womöglich seien mehr Menschen von Gerinnungsstörungen betroffen, es würde nur nicht auffallen, weil sie keine oder nur milde Symptome hätten.
Verschiedene Entstehungswege, verschiedene Behandlungen der Hirnthrombose
Die möglichen Zusammenhänge zwischen Impfung und den lebensgefährlichen Thrombosen müssen schleunigst abgeklärt werden. Nur so können mögliche Risikogruppen identifiziert und vorgewarnt werden. Johannes Oldenburg vom Institut für Experimentelle Hämatologie und Transfusionsmedizin am Universitätsklinikum Bonn ist mit Andreas Greinacher einer Meinung, dass man zumindest gute Behandlungschance habe, wenn die schwere Thrombose auftrete.
Es gäbe inzwischen eindeutige Hinweise, dass die Sinusvenenthrombose immunologisch verursacht werde, sagt er dem Science Media Center. „Sollten vier Tage oder später nach der Impfung mit dem AstraZeneca-Impfstoff Kopfschmerzen bei Geimpften auftreten, sollte im Blutbild überprüft werden, ob ein Mangel an Blutplättchen besteht.“ Dann könnte ein Screeningtest auf gewisse Antikörper durchgeführt werden, der die immunologische Ursache der Sinusvenenthrombose anzeigt. In den allermeisten Fällen der Sinusthrombose würde dieser Test dann positiv sein. Das Krankheitsgeschehen könne dann durch die Gabe von hochdosierten intravenösen Immunglobulinen unterbrochen werden, sagt Oldenburg.
Dies hätte der Patientin, die an der Medizinischen Hochschule Hannover behandelt wird, nicht geholfen, schreibt mir Arnold Ganser in einer Mail. Bei ihr war der (von Johannes Oldenburg postulierte) Krankheitsmechanismus ausgeschlossen worden. „Es scheinen also durchaus verschiedene Pathomechanismen zur Sinusvenenthrombose zu führen“, schreibt Ganser. Wichtig sei, den Mechanismus vor Therapiebeginn abzuklären.
Wie es jetzt weitergehen könnte
Auch wenn wir Sars-CoV-2 erst gut ein Jahr kennen, wissen wir schon sehr viel. Viel, aber noch lange nicht alles. Das Coronavirus bringt das Gerinnungssystem gehörig durcheinander. Dafür gibt es schon jetzt allerhand Erklärungen, wie wir gesehen haben. Doch was genau abläuft, muss noch weiter untersucht werden, zum Beispiel auch in geeigneten Tiermodellen. Das braucht Zeit. Zeit, die wir anscheinend gerade nicht haben.
Wissenschaftler wie der Virologe Stephen Griffin von der britischen University of Leeds befürchten, dass der Schaden, der dadurch entstehe, wenn man den Menschen den AstraZeneca-Impfstoff trotz der EMA-Empfehlungen vorenthalte, weitaus größer sei. Das gilt für ihn selbst im schlimmsten Fall, wenn tatsächlich eine Verbindung zwischen der Gerinnungsstörung und der Impfung gefunden werden sollte.
Auch Johannes Schmid von der Medizinischen Universität Wien beurteilt die zeitweise Aussetzung kritisch. „Wir sind mitten in der Pandemie und haben keine Zeit zu verlieren.“ Die Verfügbarkeit der Impfstoffe sei begrenzt, und „eigentlich müssten wir alles nutzen, was da ist“. Schmid, der selber schon einmal mit dem AstraZeneca-Impfstoff geimpft ist, sorgt sich, wie seine Mitmenschen auf die neuen Nachrichten reagierten. „Risiken müssen gegen den Nutzen abgewogen werden.“ Eine Thrombose nach einer Infektion sei wesentlich wahrscheinlicher als nach einer Impfung.
Doch auch dieses Argument hat seine Grenzen, denn der von den schwerwiegenden Hirnvenenthrombosen betroffene Personenkreis in jüngerem bis mittlerem Alter ist nicht der Personenkreis, der von einem hohen Risiko für einen schweren oder gar tödlichen COVID-19-Verlauf betroffen ist. Was das Paul-Ehrlich-Institut auf seiner Webseite nüchtern beschreibt, birgt eine potenziell schwierige ethische Frage. Da die Sinusthrombose offenbar bei jungen Frauen häufiger auftritt als bei älteren Personen und Männern, könnte man darüber nachdenken, den AstraZeneca-Impfstoff besonders bei älteren Personen einzusetzen, sagt Johannes Oldenburg. Doch nach derzeitigem Stand würde er den Impfstoff im Einklang mit der EMA mit dem Warnhinweis versehen bei allen Altersgruppen empfehlen: „Die Impfung ist so wichtig, dass sie keiner Personengruppe vorenthalten werden sollte.“
Die Recherchen zu diesem Beitrag wurden über die Riff freie Medien gGmbH aus Mitteln der Klaus Tschira Stiftung gefördert.