Wie kamen die Gene der Neandertaler nach Afrika?
Einer neuen Studie zufolge tragen Menschen auf dem Schwarzen Kontinent DNA der europäischen Urmenschen in sich
Bislang hieß es, dass nur die Völker außerhalb von Afrika Bruchstücke der Erbsubstanz des ausgestorbenen Neandertalers in sich tragen – jenes Urmenschen, der einst vor allem Europa bewohnte. Forscher kommen jetzt in einer Analyse zu einem anderen Ergebnis. Und liefern die Erklärung gleich mit
Schon mehrfach haben die modernen genetischen Methoden überraschende Erkenntnisse über die Entwicklung und Ausbreitung des Menschen geliefert. Eine von ihnen lautete: Als die ersten modernen Menschen Afrika verließen und in den Nahen Osten vordrangen, haben sie sich dort vor rund 55.000 Jahren mit Neandertalern vermischt. Dann sind die Angehörigen des modernen Homo sapiens weiter gezogen und haben sich – mitsamt einigen Prozent Neandertaler-DNA in ihrem Erbgut – über den ganzen Rest der Erdkugel ausgebreitet. Aus diesem Grund, so hieß es, fänden sich nur in den Populationen außerhalb Afrikas die Gene der Neandertaler. Denn diese Urmenschen bewohnten selbst nie den Schwarzen Kontinent, sondern lebten in Europa, in Teilen Asiens und zeitweilig auch im Nahen Osten. Doch eine neue Studie zeigt: Das kann nicht die ganze Wahrheit gewesen sein.
Erbgut aus 50.000 Jahre alten Urmenschen-Knochen als Referenz
Zu diesem Schluss kommt jedenfalls eine Forschergruppe um Joshua Akey von der Princeton University im US-Bundesstaat New Jersey. Die Wissenschaftler haben in den Genomen von 2504 modernen Menschen mit einer neuen statistischen Methode nach Neandertaler-Ähnlichkeiten gefahndet. Als Referenz für die Urmenschen hatten sie das vollständige Erbgut einer Neandertalerin aus dem Altai-Gebirge zur Verfügung. Die rund 50.000 Jahre alte, gut erhaltene Neandertaler-DNA war zuvor vom Team um Kay Prüfer und Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig entziffert worden. Die genetischen Daten der heute lebenden Menschen dagegen entstammten dem sogenannten „1000-Genom-Projekt“ – einem internationalen Projekt, dessen Ziel es ist, die genetische Vielfalt der modernen Menschheit zu ermitteln. Das überraschende Ergebnis der jetzt in dem Fachblatt „Cell“ veröffentlichten Analyse: Etwa 0,3 Prozent der Gene von afrikanischen Menschen stammen ursprünglich von Neandertalern.
In Afrika haben die Neandertaler nie gelebt
Das ist zwar nicht viel, aber dennoch verwunderlich. Wie und wann konnte die Neandertaler-DNA nach Afrika gelangen, wo doch diese Urmenschen selbst nie dort gelebt haben? Aus den Daten glauben die Forscher, die Lösung herauslesen zu können. Es hat demnach Rückwanderungsbewegungen von Homo-sapiens-Leuten gegeben, deren Vorfahren Afrika verlassen hatten und die sich dann im Exil mit dem Neandertaler vermischten.
Doch die Geschichte wird dadurch kompliziert, dass es offenbar zwei (möglicherweise sogar noch mehr) Auswanderungswellen von modernen Menschen gegeben hat. Auch das können die Wissenschaftler aus dem Erbgut herauslesen. Die ältere dieser Wellen schwappte wohl schon vor mehr als 100.000, vielleicht sogar 200.000 Jahren aus Afrika hinaus und hinterließ genetische Spuren in den europäischen Neandertalern, weil manche von ihnen sexuelle Kontakte mit den Einwanderern aus dem Schwarzen Kontinent hatten.
Moderne Menschen verließen mehrfach den Schwarzen Kontinent
Als dann vor 50.000 bis 70.000 Jahren erneut moderne Menschen Afrika verließen, kreuzten auch diese sich mit Neandertalern – und erhielten dadurch nicht nur Genmaterial der Neandertaler, sondern auch jener Homo-sapiens-Leute, die sich während der ersten Auswanderungswelle mit den Urmenschen sexuell eingelassen hatten. Es war also ein genetischer Austausch zwischen Homo sapiens und Neandertalern, der in beide Richtungen verlief.
Einige Angehörige jener Homo sapiens-Leute, die sich nun während der jüngeren Auswanderungswelle im Nahen Osten mit den Neandertalern vermischt hatten, aber kehrten innerhalb der letzten 20.000 Jahre wieder zurück nach Afrika. Und damit brachten sie sowohl ihre eigenen als auch die Neandertaler-Gene in den Schwarzen Erdteil.
Manche Neandertaler-Gene waren für den Homo sapiens von Vorteil
All diese Wanderungsbewegungen hinterließen Spuren, die sich in den Genomen der heutigen Menschen nachweisen lassen. Doch die Wissenschaftler können noch mehr aus dem Erbgut herauslesen. Einige Gene aus dem Neandertaler-Erbe auf dem Schwarzen Kontinent haben zum Beispiel mit der Empfindlichkeit für UV-Strahlen zu tun, andere sind wichtig für die Funktion des Immunsystems. Sie sind nur deshalb noch vorhanden, weil sie für die modernen Afrikaner einen Überlebensvorteil gehabt haben, glauben die Forscher.
Nützliche genetische Varianten aus solchen Kreuzungen haben sich also durchgesetzt und bis heute erhalten. Wie die Forscher inzwischen am Erbgut nachweisen können, ist die Geschichte der Menschheit von immer wieder vorkommenden genetischen Durchmischungen geprägt, die ihre Spuren in die DNA schrieben. Dass sich der moderne Homo sapiens auf seinem Weg in die Welt hinaus nicht nur mit dem Neandertaler, sondern auch mit dem Denisova-Menschen vermischte, ist ja schon länger bekannt. Doch auch die afrikanische Geschichte ist vielfältiger als bislang angenommen – nicht nur wegen der Rückkehrer mit dem Neandertaler-Erbgut.
Das Rätsel der „Geisterpopulation“
Denn die modernen Menschen Afrikas haben sich auch mit älteren, auf dem Schwarzen Kontinent lebenden Menschenformen vermischt. Dies ermittelten zwei Teams, eines um Forscher von der Universität Pompeu Fabra in Barcelona und eines von der University of California in Los Angeles. Das spanische Team untersuchte die Genome von Menschen aus Afrika südlich der Sahara – etwa Angehörige der Khoisan, der Mbuti-Pygmäen und dem Volk der Mandinka. Das US-Team analysierte das Erbgut von 50 Yoruba, die in Westafrika leben. Beide Forschergruppen entdeckten genetische Spuren von bislang unbekannten, sehr alten menschlichen Vorfahren, die sich offenbar mit den modernen Afrikanern vermischt hatten und heute ausgestorben sind. Was für archaische Menschen das waren, ist bislang rätselhaft – deshalb sprechen die Forscher von einer „Geisterpopulation“.
Wenig ist auch darüber bekannt, welche Wirkung die archaischen Gene in der heutigen Bevölkerung haben. Zumindest einige dürften von Nutzen sein, vermuten die Forscher, weil sie sonst verschwunden wären. Bei den Yoruba fand sich etwa eine importierte Genvariante, die für die Tumorabwehr wichtig ist und dem Träger wohl einen gesundheitlichen Vorteil verschafft.
In Zukunft werden die Wissenschaftler noch viel mehr darüber herausfinden, welche Rolle das Erbmaterial älterer Populationen in uns heutigen Menschen spielt. Rätselhaft ist zum Beispiel, weshalb ein Neandertaler-Gen im Erbgut von Europäern und Menschen in Südasien eine Infektion mit dem neuen Coronavirus oft schwerer verlaufen lässt. Forschende vermuten, dass die Genvariante auch einen bislang unbekannten Vorteil haben müsse; möglicherweise macht sie das Immunsystem besonders aktiv.
Die neuen genetischen Methoden aber können noch mehr: Weil sie zeigen, wer sich wann mit wem vermischt hat, und wie sich Gensequenzen im Lauf der Zeit ändern, lassen sie die Ausbreitungsgeschichte des modernen Homo sapiens über die Erde immer besser erkennen. Und dabei wird es sicher noch manche Überraschung geben.