Resilienz: Wie Rituale und Rhythmen unsere Psyche stärken
Vom Seelenschmerz zum Seelenglück. Der Psychotherapeut Harald Krauß ermuntert in seinem Buch zu mehr Eigensinn. Ein Lesetipp für ruhige Urlaubstage.
Die letzten zwei Pandemie-Jahre haben Spuren hinterlassen. Mehr Menschen leiden oder litten unter Ängsten, Stress und Sorgen und suchen Hilfe bei niedergelassenen Psychotherapeuten. „Während der Corona-Pandemie sind oder waren viele Menschen besonderen Herausforderungen ausgesetzt“, sagt Harald Krauß, Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie und Chefarzt der Klinik für Seelische Gesundheit am Marien Hospital Dortmund.
In der Klinik hat Krauß es tagtäglich mit Betroffenen zu tun. Auch im privaten Umfeld erreichen ihn Anfragen. Das Anliegen, bei den einen wie bei den anderen: wie kann ich psychisch gesund werden. Oder was kann ich tun, um trotz einer besonderen Stressbelastung gar nicht erst krank zu werden.
Krauß hat eine Art Handbuch, ein Arbeitsbuch zum Thema geschrieben. In „Willkommen in der Welt für seelische Gesundheit“, erschienen im August 2021, finden Leserinnen und Leser eine Fülle an Tipps, Anregungen, Fragen und Selbsttest für eine individuelle Kurskorrektur.
Gibt es eine solche Ratgeberliteratur nicht schon in Hülle uns Fülle? Was ist das Besondere an Krauß Buch?
Der Verlust des persönlichen Fixsterns
Ein Leitgedanke des Experten zieht sich durch das ganze Buch und macht nachdenklich. Krauß meint, der „Verlust des persönlichen Fixsterns“, bringe das Leben aus der Balance. „Obwohl wir nie zuvor freier und sicherer lebten als heute, obwohl sich uns nie zuvor mehr Chancen zur persönlichen Lebensgestaltung boten, verlieren viele Menschen ihre persönlichen Perspektiven. Als wäre ihr Fixstern im Leben abhanden gekommen“, heißt es schon im Klappentext des Ratgebers.
Und gleich im ersten Kapitel hilft uns Harald Krauß dann dabei, den eigenen Verankerungspunkt wieder zu entdecken, sollte er aus dem Blick geraten sein. Jeder Mensch auf der Welt trage einen Fixstern in sich. „Er leuchtet über Ihrem Gedanken- und Wertehimmel. Er ist Ihre Orientierung im Leben und weist Ihnen den Weg zu Ihrem höchstpersönlichen Glück. Wo Ihre Talente, Werte und Träume zusammentreffen, dort finden Sie ihn. Er steht also hoch am Himmel, weit über all Ihren beruflichen und private Zielen.“ Die Wiederentdeckung und das Verfolgen des persönlichen Fixsterns, einer Metapher für das, was uns antreibt, kann uns den Weg bereiten vom Seelenschmerz zum Seelenglück.
Das Buch enthält jede Menge Anregungen, um die Dunstglocke aus Traurigkeit zu lüften und die persönlichen Perspektiven wieder sichtbar zu machen. Es gilt, wieder selbst das Heft in die Hand zu nehmen: sich leiten zu lassen von den eigenen Begabungen, Werten und Träumen, statt das Leben eines anderen zu leben im Wirrwarr der Möglichkeiten in dieser Welt. Der Fixstern könne nach Schicksalsschlägen zwar aus dem Blick geraten. Untergehen aber würde er nie, macht der Dortmunder Therapeut Mut.
Werkzeugkasten für das Trainieren der Widerstandskraft
Krauß gibt seinen LeserInnen so etwas wie einen Werkzeugkasten mit allerlei Gerät in die Hand, um die eigene Widerstandskraft zu trainieren. Dazu zählt zum Beispiel ein simpler Stift und die Aufforderung ihn täglich zur Hand zu nehmen, um kurz zu notieren, welche Belastungen (Schmerz, Zweifel, Ängste, Sorgen) sich auf Leib und Seele gelegt haben. Zur Entgiftung, empfiehlt Krauß eine Dankbarkeitsübung, die man mit dem Atemrhythmus verknüpft.
Der Therapeut rät, aus dem Einerlei der ständigen Verfügbarkeit aufzutauchen. Sich abzuwenden von der permanenten Fülle, hin zu einem Wechsel aus Genuss und Verzicht. Das gilt auch und besonders für unser Ernährungsverhalten. Was und wieviel wir wann essen, beeinflusst unsere psychische Gesundheit.
Der menschliche Körper und die Seele bilden eine Einheit. Sie beide sind für den Wechsel konstruiert. Wer diesen Wechsel zwischen Tag und Nacht, zwischen Ruhe und Aktivität mitgeht, Pausen macht und nicht ständig verfügbar ist, ständig alles will, trainiert die körperlichen und seelischen Widerstandskräfte.
Leben in natürlichen Rhythmen hält gesund
„Der Mensch ist ein zutiefst rhythmisches Wesen“, sagt Harald Krauß. Viele Faktoren in unserem Leben arbeiten gegen die natürlichen Rhythmen an. Wenn es nach Facebook, Google und Co geht, soll der Mensch am besten gar nicht mehr schlafen. „Die Entrhytmisierung spielt eine große Rolle, wenn Menschen seelisch krank werden“, so Krauß.
Ein Klassiker mit Suchtpotenzial ist die Serie. Längst nicht mehr nur zu bestimmten Zeiten im TV verfügbar, sondern ständig und immer in Mediatheken oder Streamingdiensten. „Das Serienschauen reizt ungemein. Aber wenn ich mich einmal ehrlich frage: was verändert sich in meinem Leben dadurch, dass ich Serien schaue? Nichts!“, so Krauß nüchtern. Was sich verändert und im ungünstigen Fall leidet, ist der Schlaf, dem sich der Psychotherapeut im Buch ausführlich widmet.
Wer dauerhaft zu wenig schläft, wird krank
Die Welt des Schlafes reagiere sehr empfindlich auf äußere Einflüsse. „Zu viel Stress, zu viel Gift aus Alkohol und Nikotin, zu viel Lautstärke und Helligkeit fügen der schützenden atmosphärischen Schicht (eines friedvollen Schlafes) Risse zu.“ Schlaf entgiftet, Schlaf revitalisiert nicht nur den Körper auch die Seele. Wer dauerhaft zu wenig schläft, wird krank. Nicht nur Kinder auch Erwachsene bräuchten Rituale, um in einen geruhsamen Schlaf zu finden. „Sich bis 22 Uhr aufregen und um 22.15 Uhr einschlafen, das wird nicht funktionieren“, erklärt Krauß. Anregungen zur Schlafhygiene befinden sich ebenfalls in dem Ratgeber wie Fragenkataloge, die helfen, individuellen Stressfaktoren und ihrem störenden Einfluss auf die nächtliche Ruhe auf die Schliche zu kommen.
Selbstbestimmung über das eigene Leben zurückerobern
Wer sich weniger Stress im Leben wünscht, sollte die Selbstbestimmung über das eigene Leben zurückerobern. Muss ich auf jede Mail antworten? Muss ich sofort antworten? Muss ich zu dieser Konferenz gehen? Wer sagt, dass ich nicht auch früher gehen kann, wenn ich merke, dass das Thema für mich unbedeutend ist?
Zum großen Themenkreis „Selbstbestimmung“ gehört auch, anzunehmen, dass es in jedem Leben ein emotionales Auf und Ab gibt. Wir erleben freudige und weniger freudige Dinge. Wir haben schöne und weniger schöne Gefühle. Doch auch die gehören dazu. Wir brauchen den Ärger, um Grenzen zu setzen. Wir brauchen die Trauer, um uns von etwas oder jemandem verabschieden zu können. Nicht rückwärtsgewandt steckenbleiben, sondern „auf eine Gegenwart blicken, die Sie eigenverantwortlich verändern können“, dazu ermuntert Krauß. Selbst wenn ich schwer oder chronisch erkranke, nimmt mir das nicht die Möglichkeit zu handeln. „Wie ich mit der Krankheit umgehe, was ich damit mache, liegt in meiner Hand“, sagt der Therapeut.
Die Krauß’sche Glücksformel
Glück ist die Summe aus Akzeptanz, Verantwortung, Mut und Disziplin zur Veränderung. Das mag jetzt ein wenig abgedroschen klingen und natürlich gibt es nicht den Weg aus der Krise. Doch Krauß Buch setzt sich wohltuend ab von anderen Ratgebern. Das liegt nicht nur am „Fixstern-Gedanken“ („Was treibt mich an?“), sondern auch am Ton, den der Therapeut anschlägt. Man spürt, da ist nicht jemand, der einem von oben herab sagt, wo es lang geht. Da ist vielmehr einer, der die Dunkelheiten des Lebens kennt und weiß, was helfen kann, Kopf und Körper wieder aufzurichten: „Aufzublühen, auf Dauer zufrieden zu sein, das geschieht, wenn Sie Ihre Seele gesund erhalten, weil Sie Ihre Werte, Stärken, Ihren Eigensinn vor die Belange der anderen stellen.“