Massengräber in Syrien: Den Toten einen Namen geben und Beweise sichern

Syrien steht vor einer gigantischen Aufgabe. Weit mehr als 100.000 Menschen gelten als vermisst, viele von ihnen werden als Opfer des Assad-Regimes in Massengräbern vermutet. Neue Verfahren der DNA-Analyse sollen helfen, die Toten zu identifizieren. Doch bis die Morde aufgeklärt sind und die Familien Gerechtigkeit erfahren, ist es noch ein langer Weg.

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Ein paar beschriftete Steine markieren in der Nähe der syrischen Stadt Aleppo eine Fläche, wo ein Massengrab vermutet wird.,

Es ist diese grausame Ungewissheit, die viele Familien in Syrien quält. Die Wohnung liegt in Trümmern, die wirtschaftliche Zukunft sieht düster aus – vor allem aber fehlt jede Spur von einem Angehörigen. Zwischen 100.000 und 200.000 Menschen sind nach Expertenschätzungen während der Herrschaft der syrischen Diktatorenfamilie der Assad spurlos verschwunden. Die Gefängnisse in Syrien waren voll mit politischen Gefangenen. Die Regimegegner wurden Opfer von Folterungen und Machtgehabe eines Personals, das jedes Maß und jede Menschlichkeit verloren hatte. Die wenigen Überlebenden schildern Grausamkeiten jenseits des Vorstellungsvermögens.

Als die neuen Machthaber geführt von Ahmed al-Scharaa das Regime stürzten, befreiten sie auch die Gefangenen. Die Bilder völlig verstörter und verwahrloster Menschen, die zum Teil seit Jahrzehnten kein Tageslicht gesehen hatten, gingen um die Welt. In Syrien kursieren Listen mit den Namen und Fotos der Inhaftierten, die in dieser unübersichtlichen Situation befreit wurden. Sie sind die letzte Hoffnung vieler Angehöriger, auch von Geflüchteten in Deutschland, dass seit Jahren verschwundene Menschen doch noch am Leben sind. Allmählich aber müssen sich immer mehr Familien mit dem Gedanken abfinden, dass ihre Angehörigen in einem der unzähligen Massengräber liegen, die im ganzen Land verteilt sind.

Assads Morde sollen vor Gericht

Diese Morde und Menschenrechtsverletzungen schreien nach Aufklärung und nach einer Aufarbeitung vor Gericht. Doch die Suche nach bis zu 200.000 Vermissten und die Sammlung von gerichtsfesten Beweisen ist eine gewaltige Aufgabe und nicht ohne professionelle Strukturen zu bewältigen. Syrien benötigt dafür internationale Hilfe. „Wir führen die ersten Gespräche mit der neuen syrischen Regierung“, sagt Andreas Kleiser. Der Jurist kennt sich mit diesen Dimensionen der Gewalt aus. Er arbeitet als Director for Policy and Cooperation bei der Internationalen Kommission für vermisste Personen (ICMP).

Die Organisation ist Spezialistin für Situationen, in denen tausende Vermisste beklagt werden, etwa nach Kriegen, aber auch nach Naturkatastrophen und Unglücken. Die ICMP wurde unter dem Eindruck des Genozids in Srebrenica gegründet und half bei der Aufklärung der Verbrechen während der Kriege in Ex-Jugoslawien. Die Expertenteams aus ArchäologInnen, forensischen AnthropologInnen und DNA-AnalytikerInnen haben dort rund 3000 Massengräber untersucht. Sie konnten 75 Prozent der 40.000 vermissten Personen finden und identifizieren, darunter auch fast 8.000 Menschen in den Gräbern Srebrenicas. In mehr als 30 Fällen stützen sich die Urteile nationaler und internationaler Gerichte wegen Mord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völkermord auf Beweismittel, die von der ICMP geliefert wurden.

Bereits 30.000 Vermisste in der Datenbank

Mit Syrien hat die in Den Haag ansässige Kommission schon einige Erfahrung. Sie bietet seit 2017 ein Online-Formular, mit dem Menschen ihre Angehörigen als vermisst melden können. „Wir haben die Berichte von etwa 80.000 Familienmitgliedern zusammengetragen, über 30.000 Personen sind in unserer Datenbank recht ausführlich dokumentiert“, sagt Andreas Kleiser. Eine gewaltige Zahl. Auch zur Lage der Massengräber ist schon einiges bekannt. Die Menschen in Syrien haben ihr Wissen teils unter Lebensgefahr weitergeben, damit die Toten der Diktatur nicht vergessen werden. „Wir haben eine lange Liste“, sagt Kleiser.

Damit könnte eine Arbeit beginnen, die schreckliche Bilder liefern wird, aber von naturwissenschaftlicher und juristischer Präzision geprägt ist. Die Leichen müssen exhumiert und anhand von Genanalysen identifiziert werden. Aber so weit ist es noch nicht. Bisher sammelt die ICMP Blutproben der Angehörigen und analysiert deren genetische Profile, damit die Vermissten anhand von kleinsten DNA-Resten aus Knochen identifiziert werden können. Von vielen Geflüchteten liegen diese Proben bereits vor. In Syrien hingegen durfte die ICMP während der Assad-Diktatur nicht arbeiten, sondern kooperierte in begrenztem Maße mit Organisationen vor Ort.

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