Die Zukunft Syriens und der Geflüchteten sind Wahlkampfthemen, doch viele Forderungen sind unseriös
Der Beginn des Jahres 2025 steht im Zeichen des Wahlkampfs. Eines der großen Themen ist der Umgang mit Geflüchteten aus Syrien. Populisten wollen eine sachliche Debatte verhindern. Eine Analyse, was für eine zielführende Diskussion wichtig ist.
Das (vorläufige) Ende des Terrors
Am 8. Dezember erlebte Syrien einen historischen Moment. Die Machtübernahme der islamistischen Miliz Hayat Tahrir al-Schams (HTS) beendete eine blutige, von hemmungsloser Brutalität geprägte Diktatur. Ahmed al-Scharaa, der Führer der HTS, ist der neue starke Mann. Die Familie al-Assad, die das Land mehr als 50 Jahre lang in einer Diktatur-Dynastie terrorisiert hatte, musste Syrien fluchtartig verlassen. Während ihrer Herrschaft verschwanden mehr als 100.000 Syrerïnnen in Gefängnissen, erlitten Folter, wurden in Massengräbern verscharrt. In den Regionen, in denen der Diktator während des Bürgerkriegs seine Macht verloren hatte, ließ er die Infrastruktur zerstören und sorgte damit für Hunger und fehlendes Trinkwasser. Der Diktator Bashar al-Assad setzte Chemiewaffen gegen die eigene Bevölkerung ein und finanzierte den Staatsterror mit Geldern aus einem weltweiten Imperium mit der synthetischen Droge Captagon, das der Tyrannenfamilie ein Milliardenvermögen einbrachte.
Am 8. Dezember war die syrische Bevölkerung deshalb geeint wie nie zuvor. Im Land leben viele verschiedene Bevölkerungsgruppen. Aber über alle Unterschiede hinweg, teilten viele Menschen das gleiche Schicksal, nämlich die brutale Verfolgung durch die Präsidentenfamilie. Sie feierten auf den Straßen gemeinsam das Ende der Ära Assad, das Ende des gemeinsamen Feindes.
Populisten für sofortige Rückkehr der Geflüchteten
Für einige VertreterInnen der deutschen Politik war das ein Signal, die Geflüchteten sofort in ihre Heimat zurückzuschicken. CDU-Vize Jens Spahn schlug schon wenige Stunden nach dem Machtwechsel vor, die Bundesregierung möge Charterflüge einrichten und eine Rückkehrprämie von 1000 Euro zahlen. Der menschenrechtspolitische Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion, Jürgen Braun, sagte, zehntausende jubelnde Syrer müssten sofort nach Hause zurückkehren. Es gebe kein Menschenrecht, dauerhaft in einem fernen Land zu leben und dessen Sozialleistungen zu kassieren, meinte Braun. Beide Politiker wollten mit ihren populistischen Äußerungen offenbar ausloten, wie tief das Niveau einer Debatte sinken kann und ob plumpe „Ausländer-raus“-Rufe im Wahlkampf mehrheitsfähig sind.
Dass Schreihälse einfachen Populismus als Testballon auf der mediale Bühne tanzen lassen, ist mittlerweile leider ein geübtes Mittel der Politik. Jens Spahn ist zurückgerudert. Wie die meisten ExpertInnen schlägt auch er nun vor, die Entwicklung in Syrien zunächst abzuwarten.
Dennoch hören derartige Forderungen nicht auf. So stellt CDU-Fraktionschef Thorsten Frei Bedingungen an einen Aufenthalt in Deutschland. „Arbeit allein reicht nicht“, sagt er. „Wer dauerhaft im Land bleiben will, muss so viel verdienen, dass sich eine Rente ergibt, die oberhalb der Grundsicherung im Alter liegt“, forderte Frei. Diese Anforderungen erfüllen heutzutage schon viele Deutsche nicht, obwohl sie den Arbeitsmarkt gut kennen. Und es ist kaum möglich, bereits beim Berufseinstieg der Geflüchteten zu erkennen, welche Rentenperspektive die Menschen einmal haben werden. Freis Forderung ist nicht mit Fakten untermauert, sondern Populismus.
Bevölkerung sieht Lage in Syrien differenzierter
Es ist beruhigend zu sehen, dass die Menschen in Deutschland nicht so leicht mit solchen Pseudo-Argumentationen zu fangen sind. Bei einer Umfrage des ZDF-Politbarometers vom 20. Dezember glauben 63 Prozent der Befragten nicht, dass in Syrien nach dem Machtwechsel stabile Verhältnisse entstehen werden. Konsequenterweise fehlt das Verständnis für eine populistische Syrer-raus-Strategie. Lediglich sechs Prozent aller Befragten sind der Meinung, dass alle syrischen Flüchtlinge, die wegen des Bürgerkriegs nach Deutschland gekommen sind, so schnell wie möglich zurückkehren müssen. Nur 27 Prozent der Befragten wollen, das diejenigen gehen müssen, die hier keinen Job haben. Eine Mehrheit von 64 Prozent teilt die realistische Einschätzung, mit der Entscheidung abzuwarten, bis in Syrien stabile, friedliche Verhältnisse herrschen.
Für eine sachliche Diskussion gibt es also einen soliden Boden. Es wäre gut, wenn im Wahlkampf solche Argumente zählen würden.
Syriens Zukunft ist ungewiss
Und die Debatte wird auch künftig nicht ganz so einfach, wie es manche Politiker glauben lassen. Denn die rechtliche Situation des Großteils der syrischen Geflüchteten ist geklärt und lässt sich nicht so einfach verändern. Von den etwa eine Millionen SyrerInnen in Deutschland haben 60 Prozent eine befristete Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, die bis zu drei Jahre erteilt wird und verlängert werden kann. Diese große Gruppe Menschen hat also ein Recht vorerst in Deutschland zu bleiben. Der Schutz aus humanitären Gründen kann auch ohne einen Asylantrag gewährt werden. Er basiert häufig (334.000 Geflüchtete) auf dem Genfer Flüchtlingsabkommen, das vor einer Verfolgung im Heimatland schützen soll oder auf subsidiären Schutz (266.000 Menschen), der eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (beispielsweise einen Bürgerkrieg) als Basis hat.
Geflüchtete SyrerInnen haben Rechte
„Wer einen Schutzstatus vom BAMF erhalten hat, sollte sich von der derzeitigen populistischen Debatte nicht verunsichern lassen“, rät deshalb Pro Asyl, ein Verein, der sich für die Rechte von Geflüchteten in Europa einsetzt. Eine baldige Abschiebung oder Rückkehr sei in diesen Fällen unmöglich. Zuständig ist das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), dass zunächst prüfen muss, ob die Veränderung der Umstände im Herkunftsland „erheblich“ sind und nicht nur vorübergehend. Dass diese Prüfung Zeit benötigt, liegt in der Natur der Sache. Auch wenn der Sturz des Assad-Regimes im rechtlichen Sinne sicher eine erhebliche Veränderung ist, lässt die aktuelle unübersichtliche Situation nicht erkennen, für wen es in Syrien künftig sicher ist und für wen nicht.
Selbst wenn das BAMF eine Rückkehr nach Syrien oder in Teile des Landes als sicher bewerten würde, müssen die Betroffenen Gelegenheit zur Stellungnahme bekommen und können die Entscheidung vor Gericht überprüfen lassen. „Angesichts der schon jetzt stark belasteten Verwaltungsgerichte würden die Gerichtsentscheidungen absehbar monate- bis jahrelang dauern“, heißt es in der Stellungnahme von Pro Asyl. Im Sommer 2024 waren 38.759 Widerrufsprüfverfahren nicht entschieden.
Damit wird klar, dass die PolitikerInnen, die im Wahlkampf eine schnelle Abschiebung aller syrischen Geflüchteten ankündigen, entweder die rechtliche Situation nicht kennen oder die WählerInnen bewusst täuschen.
Viele haben sozialversicherungspflichtige Jobs
Neben den schon beschriebenen 60 Prozent der Geflüchteten werden drei weitere Gruppen de facto länger in Deutschland bleiben. 5317 Menschen waren mit ihren Asylanträgen in Deutschland erfolgreich. Mehr als 80.000 Geflüchtete besitzen eine unbefristete Niederlassungserlaubnis, weil sie den eigenen Lebensunterhalt in einer sozialversicherungspflichtigen Arbeit bestreiten können und über ausreichend Deutschkenntnisse verfügen. Hinzu kommen mehr als 7000, die eine Berufsausbildung angefangen haben oder zur Schule gehen. Rechnet man dann noch die knapp 100.000 Menschen hinzu, die in Deutschland bleiben dürfen, weil ihre Familien hier sind, so wird spätestens dann deutlich, dass der Forderung der schnellen und massenhaften Abschiebung die Grundlage fehlt.
Der lange Weg bis zur Verfassung
Die Situation in Syrien wird die Ausländerbehörden – und damit auch die PolitikerInnen – noch über Jahre beschäftigen. Denn auch nach dem Ende des Schreckensregimes ist längst nicht klar, ob eine neue Regierung die verschiedenen Bevölkerungsgruppen schützen wird. Und ob sie es überhaupt will. Syrien ist ein Land mit vielen Minderheiten, ein Vielvölkerstaat, der zudem eine Reihe von religiösen Gruppen integrieren oder zumindest tolerieren müsste. Syrien kennt weder Freiheit, eine gerechte Verfassung noch Demokratie. Ahmed al-Scharaa hat angekündigt, es werde insgesamt rund drei Jahre bis zum Entwurf für eine neue Verfassung brauchen und dann ein weiteres Jahr, um Wahlen abzuhalten. Für „aussagekräftige Wahlen“ sei zunächst ein umfassender Konsens in der syrischen Bevölkerung notwendig.
Nachbarstaaten machen Druck
Und gleichzeitig wird sich die neue Regierung schwertun, die Sicherheit im Staat zu garantieren. Syrien könnte zum Spielball anderer Mächte werden. Denn der Einfluss anderer Länder ist groß, er wird auch unter Einsatz von Gewalt umgesetzt. An der südwestlichen Grenze zu Israel hat Syrien die Golanhöhen als besetztes Gebiet an den Nachbarn verloren. Israel hat angekündigt, seinen Einfluss in dem 60 Kilometer langen und 25 Kilometer breiten Areal mit weiteren Siedlungen durch die Verdoppelung der Bevölkerung zu erhöhen. Premierminister Netanjahu sagte, die annektierten Golanhöhen würden „für alle Ewigkeit“ israelisch sein. Der zukünftige US-Präsident Trump hat die Golanhöhen bereits als Teil Israels bezeichnet, obwohl die Annexion international nicht anerkannt wird.
Russland hatte bisher wichtige Militärbasen im Land, deren Zukunft noch offen ist. Moskau solle seine Präsenz auf syrischem Territorium und seine Interessen überdenken, forderte der Sprecher der syrischen Übergangsregierung. Die Syrer hätten nicht vergessen, dass Russlands Interessen eng mit dem kriminellen Assad-Regime verbunden gewesen seien.
Sicherheit der KurdInnen ist ungeklärt
Auch die US-Armee hat etwa 2000 SoldatInnen in Syrien stationiert. Sie kämpfen seit mehr als zehn Jahren an der Seite der kurdischen Milizen der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDK) gegen die Terrorgruppe des selbsternannten Islamischen Staats (IS). Die Kurden haben eine selbstverwaltete Region im Nordosten des Landes erreicht, die wirtschaftlich aber kaum überlebensfähig ist. Seit vielen Dekaden erleben KurdInnen Gewalt, Vertreibung, Stellvertreterkriege und ethnische Säuberungen – genug um zu wissen, dass der Weg zum Frieden in Syrien noch lang sein wird. Doch ihr provisorischer Kurdenstaat im Norden Syriens ist für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan eine Provokation. In der Türkei gelten die Kurden als Terroristen, Erdoğan hat in den vergangenen Tagen sein Militär erneut massiv gegen sie eingesetzt und damit einen neuen Flüchtlingsstrom ausgelöst. Ob diese Offensive von den USA oder der Nato, zu der die Türkei gehört, beendet werden kann, ist kaum einzuschätzen. In Deutschland lebende kurdische Syrer werden deshalb wohl noch länger mindestens subsidiären Schutz bekommen können.
Auch der Iran hat seinen bisher großen Einfluss auf Syrien noch nicht aufgegeben. Das geistliche Oberhaupt Ajatollah Ali Chamenei hat die syrische Jugend offen aufgefordert, „mit fester Entschlossenheit gegen diejenigen zu stehen, die diese Unsicherheit orchestriert und herbeigeführt haben.“ Das würde bedeuten, der Bürgerkrieg im Land könnte beispielsweise mit Terrorattacken und andere Aktionen zur Destabilisierung der Übergangsregierung weitergehen.
Ahmed al-Scharaa braucht Hilfe
Der neue Machthaber Ahmed al-Scharaa, der Führer der HTS, hat inzwischen die Nachbarstaaten aufgefordert, Syrien die Möglichkeit der eigenen Entwicklung zu geben und um Frieden geworben. Wenn dieser Plan gelingen soll, wird al-Scharaa nicht nur viel diplomatisches Geschick benötigen, sondern auch die Hilfe anderer Staaten, auch der Europäischen Union.
Wer also Syrien stabilisieren will – und damit die Rückkehr der Geflüchteten erleichtern will – müsste in dieser Logik dem neuen Syrien und damit der HTS seine Unterstützung anbieten. Doch ob das politisch gewollt ist, steht in den Sternen, denn der Name Ahmed al-Scharaa steht noch immer auf internationalen Listen von gesuchten Terroristen. So könnte die Hilfe schon daran scheitern, dass niemand ihm niemand die Hand schütteln möchte.
Und selbst wenn dieser schwere Schritt gegangen würde, bliebe völlig offen, wofür das neue Syrien eigentlich steht. Ahmed al-Scharaa äußert sich zwar gemäßigt und tolerant, aber niemand will der Steigbügelhalter für eine islamisch geprägte Diktatur sein, die sich aus der Übergangsregierung entwickeln könnte. Der Übergangsregierung gehören jedenfalls keine Frauen an, womöglich weil diese „wegen ihrer biologischen Natur dafür nicht geeignet seien“, wie ein Sprecher der Regierung sagte.
Das Schicksal Syriens ist eine spannende Frage für 2025 und die Jahre darüber hinaus. Es könnte irgendwo zwischen einer Auszeichnung mit dem Friedensnobelpreis, einem strengen islamistisch geprägten Regime und einem unregierbaren, politisch zerfallenen Staat landen. Wohin es geht, wird Auswirkungen auf den Umgang mit syrischen Geflüchteten in Deutschland haben. Doch so einfach, wie manche PolitikerInnen uns glaubhaft machen wollen, wird es nicht werden.