Die seltsamen Totenrituale der Steinzeitjäger
Wie Menschen vor rund 30.000 Jahren ihre Verstorbenen behandelten und in einer Höhle bestatteten
In der Grotte de Cussac im Südwesten Frankreichs erkundete ein Forscherteam die Grabstätten von steinzeitlichen Bewohnern und entdeckte dabei Überraschendes: Offenbar hatten die Menschen schon in der Vorzeit komplexe Vorstellungen von der Welt der Toten. Sie bearbeiteten die Gebeine ihrer Verstorbenen auf spezielle Weise und betteten sie in rätselhaften Arrangements zur letzten Ruhe.
Menschen sind vermutlich die einzigen Lebewesen, die um ihre eigene Vergänglichkeit wissen. Sie trauern nicht nur um ihre verstorbenen Angehörigen. Das tun sicher auch manche Tiere, wie Elefanten oder Schimpansen. Menschen bestatten ihre Angehörigen in aufwendigen Zeremonien, kommunizieren mit ihnen über den Tod hinaus und glauben an ein Weiterleben jenseits der körperlichen Existenz. Doch seit wann ist das so? Und was mögen die Menschen der Steinzeit beim Anblick ihrer verstorbenen Angehörigen empfunden haben?
Eine Toten-Fürsorge gab es sehr früh unter Menschen
Schon die Neandertaler haben Gestorbene nicht einfach sich selbst oder wilden Tieren zum Fraß überlassen. Sie haben sie – zumindest manchmal – sorgfältig zur letzten Ruhe gebettet und mit Erde bedeckt: Vielleicht haben sie auch mit roter Farbe bestreut. Darauf weisen jedenfalls einige Befunde hin. Mit dem modernen Menschen allerdings kamen immer komplexere, aufwendigere Bestattungsrituale auf.
Die ersten Gruppen der Art Homo sapiens – also des modernen Menschen – erreichten Europa vor rund 45.000 Jahren. Mit ihnen tauchten schlagartig kulturelle Veränderungen auf, insbesondere neue Techniken für die Herstellung von Steinwerkzeugen. Schon wenige Jahrtausende später waren die Umwälzungen auf dem ganzen Kontinent so groß, dass Archäologen von einer neuen Epoche sprechen: Dem Aurignacien – benannt nach dem Dorf Aurignac in der Nähe von Toulouse. Typisch für diese Kultur sind lange, schmale, sehr fein bearbeitete Klingen aus Feuerstein, aber auch Werkzeuge aus Knochen. Auch Schmuck etwa aus durchbohrten Muschelschalen oder Zähnen, Musikinstrumente (Flöten), Höhlenmalereien, geschnitzte Figuren und der massive Gebrauch des Farbstoffs Ocker charakterisieren diese Epoche. Und eben eine ausgeprägte Totenfürsorge, denn erstmals sind regelmäßige Bestattungen zu verzeichnen.
Die Vielfalt der Begräbnisformen nahm enorm zu
Vor gut 30.000 Jahren – die Zeitangaben dazu schwanken etwas – geht diese Epoche in das Gravettien über, benannt nach dem Fundplatz La Gravette im Department Dordogne im Südwesten Frankreichs. Typisch für diese Kultur sind neben einer eigenen Steinbearbeitungstechnik Frauenstatuetten wie die berühmte „Venus von Willendorf“. Nachgewiesen sind ebenso besonders vielfältige, zum Teil sehr aufwendige Beisetzungen von Toten, darunter auch häufige Doppel-Bestattungen.
In diese Epoche des Gravettien fallen erstaunliche Befunde aus der französischen Grotte de Cussac, über die ein internationales Team nun berichtet. Die Höhle wurde im Jahr 2000 entdeckt und liegt nur rund zehn Kilometer Luftlinie von La Gravette entfernt. Sie besteht aus einer einzigen langen, gewundenen Röhre, in deren Mitte etwa der Eingang liegt: Von ihm aus geht der Höhlenverlauf zum einen rund 1000 Meter weit nach Südosten, zum anderen etwa 600 Meter in die entgegengesetzte Richtung. In der Höhle fanden sich sterbliche Überreste von mindestens sechs verschiedenen Menschen, darunter das vollständige Skelett eines jungen Mannes. Diese Relikte haben jetzt Forschende um die Anthropologen Sacha Kacki und Sébastien Villotte von der Université de Bordeaux in Pessac sowie Erik Trinkaus von der Washington University in St. Louis mit zerstörungsfreien Analysemethoden untersucht.
Schlafkuhlen von Höhlenbären als letzte Ruhestätte
Auffällig ist, dass manche der Knochenrelikte in Schlafmulden von Höhlenbären lagern – darunter das Skelett des jungen Mannes. Bären überwinterten in jener Zeit gerne in solchen Kuhlen im Inneren von Höhlen. Kratzspuren sowie Marker von Klauen belegen, dass die Tiere die Grotte de Cussac tatsächlich genutzt hatten – jedoch vor den Menschen. Noch nie allerdings hatten Archäologen menschliche Gebeine in den Bären-Schlafmulden gefunden. Ungewöhnlich ist auch, wie tief diese Grabstätten im Inneren der Höhle liegen: rund 150 Meter vom Eingang entfernt. Zuvor waren nur Begräbnisse an offenen Stellen, unter Felsdächern oder in der Nähe von Höhleneingängen bekannt.
Noch 80 Meter tiefer in der Höhle gibt es eine zweite Fundstelle von Gebeinen. Doch hier lagern die Knochen nicht in Bärenmulden, sondern weiter oben: In kleinen Vertiefungen der Höhlenwand oder auch verstreut auf einem kleinen abfallenden Hang darunter. Neben den Gräbern fanden sich mehr als 800 menschliche Felsritzungen in der Höhle. Es sind meistens Umrisse von Bisons, Mammuts, Rindern und Pferden, aber auch menschliche Darstellungen – etwa von weiblichen Silhouetten und von männlichen sowie weiblichen Genitalien. Auch eine solche reichhaltige Kunst ist unüblich für Begräbnisstätten in Höhlen und macht die Grotte de Cussac zu etwas Besonderem. Des Weiteren wurden Fußspuren und Spuren von Fackeln an den Wänden sowie drei Steinartefakte und ein bearbeitetes Rentier-Geweih entdeckt.
Die Datierung von Holzkohle des Höhlenbodens ergab ein Alter zwischen 29.704 und 28.714 Jahren vor heute, die eines menschlichen Rippenfragments ein Alter zwischen 29.500 und 28.835 Jahren. Diese Altersangaben passen zu den Kunstdarstellungen in der Höhle, die auf das mittlere Gravettien hinweisen. Damit fügt sich das Ensemble der Grotte de Cussac reibungslos in jene Kulturepoche ein. Es passt auch in jene Zeit, dass die Gebeine mit rotem Farbstoff bestreut worden waren. Einige weitere Befunde allerdings sind einmalig und für die Forschenden schwer zu deuten.
Ein rätselhafter Mischmasch an Knochen
So ist lediglich beim Skelett des jungen Mannes in der Bärenmulde ein Schädel vorhanden. Nirgendwo sonst in der Höhle finden sich Knochen des Haupts. Doch weshalb? Hatte der junge Mann vielleicht einen besonderen sozialen Status? Noch erstaunlicher: Dort, wo die Steinzeitmenschen die Gebeine in kleinen Vertiefungen der Höhlenwände deponiert haben, sind die Knochen nach Ober- und Unterkörper getrennt sortiert. Zudem wurden die Gebeine verschiedener Individuen durcheinandergewürfelt.
Das Neu-Arrangieren und Vermischen der Gebeine verschiedener Individuen könnte die verschwundene Individualität nach dem Tod betonen, vermuten die Forschenden. Ebenso das Entfernen der Schädel. Und womöglich gab es damals in der Grotte gemeinsame Begräbniszeremonien, bei denen Künstler vor den anderen Clan-Mitgliedern Zeichnungen in die Felsen ritzten.
Ob die Steinzeitleute ihre Verstorbenen zunächst komplett in die Höhle brachten und manche Knochen – etwa die Schädel – erst nach dem Verwesen entfernten oder ob sie von vornherein nur Teile des Körpers in der Höhle bestattet haben, lasse sich nicht sagen, stellen Kacki, Villotte und Trinkaus in ihrer Studie fest, die in der Wissenschaftszeitschrift PNAS erschien. Fest stehe jedoch, dass die Anordnung der Gebeine nicht natürlich sei, sondern dass sie von den Menschen absichtlich manipuliert wurde.
Komplexe Interaktionen zwischen Lebenden und Toten
Den Anthropologinnen und Anthropologen geben die Begräbnisrituale somit einen tiefen Einblick in die soziale Vielfalt der damaligen Jäger und Sammler und in die komplexen Interaktionen zwischen Lebenden und Toten. Ganz offensichtlich haben sich die vor 30.000 Jahren im Südwesten Frankreichs lebenden Menschen viele Gedanken um die Welt der Verstorbenen und ihre Beziehung zu ihnen gemacht.
Welche genauen Gründe die Steinzeitmenschen dazu bewogen haben, ihre Toten auf diese Weise zu bestatten, was sie dabei dachten und empfanden, werden wir wohl nie erfahren. Konnten sie die Vorstellung, dass der Mensch vergänglich ist, nicht ertragen? Wollten sie mit ihren Ahnen verbunden bleiben? Hat der Umgang mit den Verstorbenen ihre eigene Angst vor dem Tod gelindert? Stärkte der Ahnenkult den Zusammenhalt einer Gruppe? Spekulieren lässt sich viel. Eines aber ist klar: Der moderne Homo sapiens hatte als erste Menschenform eine ausgeprägte Begräbniskultur, einen Ahnenkult und die Vorstellung von einer jenseitigen Welt. Und vermutlich liegt darin zumindest ein Teil seines weltweiten Erfolgs.