Angriff auf Amerika: Wenn der Wind bizarre Ballone mit gefährlicher Fracht bringt
Mehrere Tage lang flog ein chinesischer Spionage-Ballon über den USA, bis er abgeschossen wurde. Der Wind als Transportweg ist kein ganz neuer Gedanke: Im Zweiten Weltkrieg ließ Japan Ballons gen Amerika driften – die mit Bomben bestückt waren.
Mehrere Tage flog ein chinesischer Ballon wohl zu Spionagezwecken über Nordamerika – bis er von einem US-Kampfjet abgeschossen wurde. Es war wohl nicht das erste Mal, dass China Ballons für geheime Missionen im Luftraum anderer Länder nutzte. Und es ist nicht das erste Mal, dass der pazifische Jetstream, ein extrem starkes und stabiles Windband, gefährliche Fracht nach Amerika bringt. Im Zweiten Weltkrieg kamen Ballons mit Brandbomben aus Japan – als tödliche Rache eines mysteriösen Herrschers.
Tödliche Quallen am Himmel
Damals, am 3. November 1944, stiegen von einem dünn besiedelten Küstenort in Japan aus erstmals riesige Ballons in die Höhe. Die Militäraktion war geheim, konnte der Bevölkerung aber nicht verborgen bleiben. Ein überraschter Beobachter verglich die halb aufgeblasenen Ballons, die lange Schnüre hinter sich herzogen, mit gigantischen Quallen, die am blassen Himmel schweben. Aber diese Windschiffe waren mit Brandbomben bestückt und trugen Japans tödliche Rache über den Pazifik.
Das Land war den USA im Zweiten Weltkrieg hoffnungslos unterlegen. Als die Hauptinseln von amerikanischen Fliegern bombardiert wurden, forderte der japanische Kaiser vom eigenen Militär eine Waffe für den Sieg. Es sollte auch auf Amerika Bomben regnen, aber die Strecke war für japanische Flugzeuge zu weit.
Irgendjemand muss sich erinnert haben, dass eine obskure und lang vergessene wissenschaftliche Schrift von gewaltigen Luftströmen sprach, die in rund 10.000 Metern Höhe von West nach Ost fließen und Asien mit den USA verbinden. Diese Jetstreams könnten eine neuartige Interkontinentalwaffe transportieren, so die Überlegungen.
Handgenähte Ballons aus Rindenpapier
Fu-Go wurden die Ballons mit einem Durchmesser von zehn Metern genannt, die innerhalb von zwei Jahren aus leichtem und doch reißfestem Papier gefertigt und dann beschichtet wurden: Handgeschöpft aus der Rinde des Maulbeerbaums Kōzo und vernäht von Schulmädchen, die, ohne von dem Projekt zu ahnen, ihrer zarten Finger wegen ausgewählt worden waren. Mehr als 9000 mit Wasserstoff gefüllte und mit je einer Brandbombe beladene Ballons wurden nach und nach über Monate auf die Reise geschickt, um die amerikanische Bevölkerung in Terror zu versetzen.
Den Befehl zur Aktion hatte Kaiser Hirohito (1901–1989) gegeben, ein zwiespältiger Mann. Bis heute gilt der Kriegsherr als umstritten. War Hirohito ein weltfremder Herrscher und einfacher Handlanger seiner Generäle, so wie die Amerikaner ihn damals charakterisierten? Oder wurde dieses Bild nur von den amerikanischen Besatzern nach dem Krieg gezeichnet, weil er ihnen als kaiserliche Marionette nützlicher war denn als Angeklagter vor dem Kriegsgericht?
Ein Meeresforscher im kaiserlichen Palast
Die Rolle als Oberbefehlshaber passte ohnehin nicht so richtig zu Hirohitos eigentlicher Leidenschaft: Seit seiner Jugend war er von der Ozeanografie begeistert, fischte jede Woche in der Sagami-Bucht südlich von Tokio schleimige Meerestiere aus dem Wasser, um sie in seinem Labor im kaiserlichen Palast Akasaka zu untersuchen.
Hirohitos Liebe galt den Hydrozoen, einer großen Klasse ganz unterschiedlicher Nesseltiere. Der harmlose Süßwasserpolyp Hydra gehört ebenso dazu wie die Portugiesische Galeere, eine Staatsqualle, die sich aus rund tausend unterschiedlich spezialisierten Polypen zusammensetzt. Manche bilden die hochgiftigen Tentakel, während ein einzelner Polyp die Schwimmblase hervorbringt, mit deren Hilfe Physalia physalis an der Oberfläche des Ozeans treibt: wunderschön und tödlich gefährlich, fast wie ein Fu-Go.
Die vergessenen Kriegsopfer
Einige der japanischen Ballons schafften tatsächlich den Weg über den Pazifik und mehrere hundert von ihnen gingen an der amerikanischen Westküste zwischen Alaska und Mexiko nieder. Militärisch schien die Aktion aber trotzdem und in mehrfacher Hinsicht ein Fehlschlag. Zum einen entzündeten sich die winterlich feuchten Wälder nicht. Zum anderen hatte das US-Militär eine strenge Nachrichtensperre verhängt. Hirohito und seine Generäle erfuhren nicht einmal, dass so mancher Ballon sein Ziel erreicht hatte.
Die Geheimhaltungspflicht galt aber auch gegenüber der amerikanischen Bevölkerung, die nichts von den Ballons und den Bomben wusste. Diese Ahnungslosigkeit führte am Mount Gearhart in Oregon zur Katastrophe.
An einem lauen Frühlingstag, dem 5. Mai 1945, wollte Pastor Archie Mitchell aus dem kleinen Ort Bly mit seiner Frau Elsie und fünf Kindern aus der Sonntagsschule ein Picknick machen, im Fluss fischen und Kuchen essen. Der Krieg war schließlich weit weg. Elsie lief mit den Kindern voraus und konnte ihrem Mann gerade noch zurufen, dass sie etwas gefunden hatten, als es eine gewaltige Explosion gab. Die Kinder waren sofort tot, die schwangere Elsie starb wenig später.
Sie waren die einzigen Amerikaner, die im Zweiten Weltkrieg durch Kriegsgegner auf dem Festland der USA getötet wurden. Aber die Geschichte von Mount Gearhart ist auch in den USA weitgehend vergessen. Selbst als US-Präsident George W. Bush viele Jahre nach dem terroristischen Angriff vom 11. September 2001 von Kriegsopfern auf dem amerikanischen Festland sprach, blieben die Opfer der japanischen Brandbombe unerwähnt.