Vom Weltgeist zum Machthebel: Wie Geopolitik die Wissenschaft verändert

Die angespannte internationale Lage führt zu einer Neuausrichtung der Wissenschaftspolitik. Wo früher Kooperation selbstverständlich war, herrscht nun Misstrauen. Die Angst vor Spionage geht um, ganze Technologiebereiche werden abgeschirmt

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EIn Wissenschaftler in weißem Schutzanzug schaut auf ein kompliziertes metallisches Gebilde.

Als die Bundesregierung vor drei Jahren dem Bundestag darlegte, wie sie die Rolle der deutschen Wissenschaft in der Welt beurteilt, war dies noch von Idealismus geprägt: Die internationale Zusammenarbeit basiere „auf dem Enthusiasmus und dem Engagement einzelner Menschen und Organisationen, die wichtige Impulse setzen, um den Geist der Aufklärung und der weltweiten Verständigung sowie die gemeinsame Bewältigung globaler Herausforderungen in die Tat umzusetzen“, hieß es zur Einleitung. Der vor kurzem veröffentlichte neue „Bericht der Bundesregierung zur internationalen Kooperation in Bildung, Wissenschaft und Forschung“ schlägt andere Töne an: „Systemrivalitäten erhöhen das Risiko widerrechtlicher Aneignung und Verwendung von Forschungsergebnissen“, ist gleich zu Beginn zu lesen. Auch Versuche externer politischer Einflussnahme gefährdeten die Freiheit von Bildung, Wissenschaft und Forschung in Deutschland.

Wer beispielsweise als Gefahrenquelle gemeint ist, hat Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger mehrfach ungeschminkt formuliert. „Hinter jedem chinesischen Forscher kann sich die kommunistische Partei verbergen, darüber müssen wir uns klar sein“, sagte Bettina Stark-Watzinger 2023 über Gastwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler. War früher Kooperation ein Selbstzweck, so fordert das Bundesforschungsministerin (BMBF) die deutsche Wissenschaft inzwischen zu Wachsamkeit und Distanz auf. China werde „gerade in Wissenschaft und Forschung immer mehr zum Wettbewerber und systemischen Rivalen“, teilt das Forschungsministerium auf Anfrage mit, „deshalb dürfen wir im Umgang mit dem Land nicht naiv sein.“

Die Angst vor Spionage geht um

Insbesondere bei technologischen Themen gelte es, „klar die Risiken des ungewollten Know-how-Abflusses und der durch die chinesische Regierung vorangetriebenen Strategie der zivil-militärischen Fusion und das mit letzterer einhergehende Dual-Use-Risiko zu berücksichtigen, auch in der Grundlagenforschung.“ „Ungewollten Wissensabfluss“ müsse man vermeiden. Insbesondere bei sensiblen Dual-Use-Technologien und bei Technologien, die zu Überwachung und Repression genutzt werden können, sei Zurückhaltung und eine vertiefte Prüfung notwendig. Dies schließe die Überprüfung bestehender Kooperationsbeziehungen ein. Das Ministerium hebt hervor, dass auch die Wissenschaft den Regeln der Exportkontrolle für sensible Güter unterliegt – eine Warnung an Forschungsorganisationen, bei jedem nach China ausgeführten Computerchip und Konstruktionsplan genau hinzusehen.

Nicht nur im Umgang mit China, sondern auch in vielen anderen Bereichen von Wissenschaft und Forschung vollzieht sich gerade ein grundlegender Wandel: Statt des Geistes internationaler Zusammenarbeit beschwören Forschungspolitikerinnen und -politiker zunehmend das nationale Interesse. Internationale Kooperationsvereinbarungen kommen auf den Prüfstand. Ganze Wissenschaftsbereiche werden als „kritisch“ und „sensibel“ deklariert. Die Angst vor Spionage und vor Sabotage geht um. Forschungspolitik wird zunehmend als verlängerter Arm der Geopolitik eingesetzt. Die über Jahrzehnte wortreich beschworene „weltumspannende Wissenschaft“ muss sich derzeit der Rückbesinnung auf nationale Interessen beugen.

Schon früher wurde Wissenschaft in den Dienst nationaler Interessen gestellt

Im Namen ihrer 27 Mitgliedsstaaten hat die Europäische Kommission im Oktober 2023 eine Liste von zehn sensiblen Technologiebereichen veröffentlicht, für die das Risiko wissenschaftlich-technischer Kooperationen nun grundsätzlich geprüft werden soll.

Dazu zählen fortschrittliche Halbleitertechnologien – also etwa Mikroelektronik, Photonik, Hochfrequenzchips – Technologien der künstlichen Intelligenz samt Hochleistungsrechnern, Cloud-Computing, maschinellem Sehen, Sprachverarbeitung, Objekterkennung, Quantentechnologien und Biotechnologien wie etwa neue genomische Verfahren und synthetische Biologie. „Technologie steht derzeit im Mittelpunkt des geopolitischen Wettbewerbs, und die EU möchte darin Spieler sein, nicht Spielfeld“, sagte die Vizepräsidentin der Kommission, Věra Jourová, dazu. Die EU wolle ein offener und berechenbarer globaler Partner bleiben, doch müsse man „den eigenen technologischen Vorsprung fördern und Abhängigkeiten beenden.“ Das wird tief in bisher selbstverständlich praktizierte Kooperationen in Wissenschaft und Forschung eingreifen.

In den liberalen Demokratien nimmt die Angst zu, dass Autokratien ihre Machtexpansion unter dem Deckmantel der Wissenschaft betreiben. Neu ist das nicht. Schon häufig diente Wissenschaft nicht so sehr der Aufklärung und dem Geist weltweiten Wissenszugewinns, sondern nationalen, nicht selten brutalen Interessen. Früher ging die Gefahr eher von Europa aus. Das war während der Kolonialzeit der Fall, als Forscher in alle Welt ausgesandt wurden, um neue Territorien nicht nur zu erkunden, sondern auch für ihre Heimatländer oder Auftraggeber zu reklamieren.

Der aktuelle Grenzkonflikt zwischen Venezuela und Guyana etwa dreht sich um eine Linie, die der Naturforscher und Botaniker Robert Hermann von Schomburgk im Auftrag der Royal Geographic Society dort 1840 nach einer Expedition zog, um britische Gebietsansprüche zu markieren. Der deutsche Chemiker Fritz Haber stellte sein Wissen komplett in den Dienst der deutschen Kriegsführung im Ersten Weltkrieg, baute das Giftgasprogramm auf und leitete persönlich an der Westfront die ersten Einsätze von Chlorgas als Waffe mittels dem von ihm ersonnenen „Blasverfahren“. Die Verwicklung der deutschen Wissenschaft in die nationalsozialistischen Verbrechen ist ausführlich dokumentiert.

Doch es hat auch eine lange Tradition, dass Wissenschaft als Brücke zwischen den Nationen und Weltmächten fungiert. Bereits Anfang der 1760er Jahre führte der vorhergesagte Transit der Venus vor der Sonne zum wohl ersten global koordinierten Forschungsprojekt, als Wissenschaftler mehrerer Nationen zwischen Arktis und Südpazifik Messungen anstellten, mit denen der Abstand der Erde zur Sonne bestimmt werden sollte. 1902 entstand mit dem Internationalen Rat für Meeresforschung eine bis heute aktive Einrichtung, die viele Nationen zusammenbringt. Selbst im Kalten Krieg wurde die internationale Kooperation hochgehalten.

Manche Vorzeigeprojekte stammen aus dem Kalten Krieg

Eine Großbaustelle im südfranzösischen Cadarache, in die viele Milliarden Euro fließen, bringt bis heute den internationalen Geist von Forschung zum Ausdruck. Die dort entstehende internationale Versuchsanlage für Kernfusion, ITER genannt, geht auf das Jahr 1985 zurück. Um zwischen den USA und der Sowjetunion eine positive Verbindung zu schaffen, unterzeichneten US-Präsident Ronald Reagan und der damalige Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow die Absichtserklärung, bei der friedlichen Nutzung der Kernfusion zusammenzuarbeiten. Dabei sei „eine möglichst weitgehende Entwicklung der internationalen Zusammenarbeit (…) zum Nutzen der gesamten Menschheit“ wichtig.

Die Ministerin steht am Mikrofon und spricht.
Bundesministerin für Bildung und Forschung, Bettina Stark-Watzinger (FDP) am 30. November 2022 im Deutschen Bundestag.

Zwar leidet ITER unter Verzögerungen und Kostensteigerungen. Doch allen Widrigkeiten zum Trotz arbeiten Ingenieure und Forscher aus inzwischen 35 Nationen weiter mit Hochdruck zusammen am großen Ziel einer unerschöpflichen Energiequelle. Für den Ausschluss eines Landes – etwa Russland – gibt es in den Verträgen noch nicht einmal eine Klausel.

Die deutsche Wissenschaft hat sich über Jahrzehnte in grenzenloser Kooperationsbereitschaft geübt, auch als Lehre aus der NS-Zeit. In einer Welt der Spannungen, Dauerkrisen und neuen Machtverteilungen wachsen nun Misstrauen und Vorsicht. In der ganzen westlichen Forschungspolitik steht die Angst vor dem Expansionismus Chinas und vor der asymmetrischen Kriegsführung Russlands im Vordergrund.

Hatten deutsche Wissenschaftler noch vor wenigen Jahren keine Scheu, ein Kooperationsprojekt „Cremlin-Plus“ zu nennen (für Connecting Russian and European Measures for Large-scale Research Infrastructures), änderte der russische Überfall auf die Ukraine alles. Seitdem liegt zum Beispiel die russische Beteiligung an zwei wichtigen neuen Großanlagen der physikalischen Grundlagenforschung – dem europäischen Röntgenlaser X-FEL in Hamburg und dem Teilchenbeschleuniger FAIR in Darmstadt – weitgehend auf Eis. „Es ist unvorstellbar, die Wissenschafts- und Forschungszusammenarbeit mit Russland wiederaufzunehmen, solange der Krieg andauert“, erklärt das Bundesforschungsministerium. Die Bundesregierung wirkte daran mit, Russland aus dem Kreis der Teilhaber des internationalen Forschungszentrums CERN bei Genf zu entfernen. „Das CERN steht wie kein anderes Forschungszentrum für friedliche internationale Zusammenarbeit“, erklärt das BMBF dazu. Mit der Kündigung setze das CERN „ein wichtiges Zeichen gegenüber Russland, da der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine nicht mit diesem Ziel vereinbar ist.“

Chinesischer Anruf beim BMBF

Stark-Watzinger demonstriert auch gegenüber China, dass Forschung ein gewichtiger Faktor für die Außenpolitik sein kann. Im März 2023 brachte sie Unterstützung für Taiwan zum Ausdruck, als sie als erstes deutsches Kabinettsmitglied seit 25 Jahren die Insel besuchte, um ein „Arrangement on Scientific and Technological Cooperation“ zu unterzeichnen. Es geht um Halbleiter, Batterien, Wasserstoff und Künstliche Intelligenz. Prompt beschwerte sich die chinesische Botschaft in Berlin telefonisch beim BMBF – ein höchst ungewöhnlicher Vorgang für ein Ministerium, das sonst eher am Rande des harten Ringens der Weltpolitik steht.

Nicht nur in der Forschungs-Außenpolitik spiegelt sich die volatile neue Weltlage wider. Vor dem Hintergrund der Debatte, wie Deutschland in den Worten von Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius wieder „kriegstüchtig“ werden kann, steht auch eine lang gepflegte Grundregel der deutschen Wissenschaft zur Disposition – die sogenannte „Zivilklausel“. Diese freiwillige Selbstverpflichtung hat ihren Ursprung im Kalten Krieg. 1986 legte die Universität Bremen als erste fest, dass „jede Beteiligung von Wissenschaft und Forschung mit militärischer Nutzung bzw. Zielsetzung“ ausgeschlossen sein müsse. Die Mitglieder der Universität wurden aufgefordert, „Forschungsthemen und -mittel abzulehnen, die Rüstungszwecken dienen können.“ Ähnliche Festlegungen gibt es an rund 75 deutschen Hochschulen.

Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine forderte als erster Jan Wörner, der frühere Vorsitzende des Deutschen Luft- und Raumfahrtzentrums (DLR) und heutige Präsident der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech), einen Kurswechsel: „Die Hochschulen sollten darüber nachdenken, ob ihre Zivilklauseln noch zeitgemäß sind oder im Verständnis einer friedlich ausgerichteten Verteidigungspolitik neu formuliert werden sollten“, sagte er in einem Interview. Noch konkreter wurde die Expertenkommission Forschung und Innovation, deren Aufgabe es ist, die Bundesregierung zu beraten: „Vor dem Hintergrund der Zeitenwende empfiehlt die Expertenkommission der Bundesregierung, bei ihrer eigenen F&I-Förderung (Anm.: Forschungs- und Innovationsförderung) mögliche Synergien zwischen militärischer und ziviler Forschung in den Blick zu nehmen“, heißt es im Jahresgutachten 2023 des Gremiums. Darüber hinaus sollten die Akteure in Forschung und Innovation „ihre Selbstverpflichtungen und Regulierungen, die auf eine strikte Trennung zwischen militärischer und ziviler Forschung abstellen, einer Prüfung unterziehen“.

Eingefrorene oder gekündigte Forschungspartnerschaften, als sensibel eingestufte Technologien, institutionelles Misstrauen, Wissenschaftsdiplomatie als Teil der Machtpolitik – was lange unvorstellbar war, wird inmitten der mehr als angespannten Weltlage immer mehr zum Normalfall. Dass Deutschland sich weiter zu einer „vernetzten, offenen und globalen Wissensgesellschaft“ bekennt, wie das Bundesforschungsministerium betont, wäre noch vor kurzem eine bedeutungslose Floskel gewesen. Inzwischen klingt es eher wie eine Reminiszenz an weniger gefährliche Zeiten.

Eine frühere Version dieses Textes istzuerst in der Zeitschrift für Internationale Politik erschienen.

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