Lasst doch mal die Gene im Dorf
Wann werden wir es endlich lernen? Wir sind nicht die Marionetten unserer Gene.
Studien zur Genetik komplexer Eigenschaften wie dem Schulerfolg werden immer aufwändiger. Das liefert spannende Erkenntnisse – und falsche Schlagzeilen. Ein Kommentar.
Neulich war es mal wieder so weit: Eine dieser ach so bahnbrechenden genetischen Studien war erschienen. Dieses Mal hatten mehr als zweihundert Wissenschaftler die Daten von 1,1 Millionen Menschen analysiert und mit dem schulischen Erfolg dieser Menschen verknüpft (James J. Lee et al.: Nature Genetics 2018). Die Bildung hängt also an den Genen. Im Ernst?
Journalisten aus aller Welt wurden selbstverständlich schon vorab in satten Pressemitteilungen informiert. Herausposaunt wurden dabei aber weniger die spannenden Details der vollkommen zu Recht so hochrangig publizierten Studie, sondern eher simple, erwartbare Botschaften, Schlussfolgerungen, die gängige Klischees vom Determinismus der Gene bestätigen. Schlagzeilengaranten eben.
Den Forscher*innen, Instituten und Fachzeitschriften mitsamt ihren Pressesprecher*innen kann man dabei kaum einen Vorwurf machen. Wissenschaft ist – zumindest zu einem wichtigen Teil – halt auch nur ein Geschäft. Es geht um Aufmerksamkeit, Ruhm und Forschungsgelder. Aber warum haben die Medien die Botschaften nicht hinterfragt? Warum dichten sie immer weiter am Narrativ der schicksalhaften Macht der Gene? Warum formulieren sie Schlagzeilen wie „Schlau geerbt“ (Zeit-Online), „Die Macht der Gene“ (wissenschaft.de), „Wenn der Schulabschluss vom Erbgut abhängt“ (Süddeutsche Zeitung), „Gene beeinflussen Schulabschluss“ (Südwestrundfunk) oder – das krasseste Beispiel – „Bildungs-Gene identifiziert“ (Scinexx.de)?
Hat denn niemand den Fachartikel durchgelesen? Haben alle nur die Pressemitteilungen bemüht und vielleicht noch den Abstract und die Diskussion überflogen? Es sind bestimmt keine isoliert einkreisbaren Gene oder Genvarianten, die unsere Eltern einst als Schicksalsboten in ihre Keimzellen packten und die uns nun mitteilen, wie lange wir es auf der Schule aushalten werden. Es gibt keine Bildungs-Gene! Es gibt auch keine mehr oder weniger große Gruppe solcher Gene.
Die Forscher selbst weisen in ihrem Artikel mehrfach darauf hin, dass ihre Resultate keine Determinanten identifizieren, sondern lediglich Hinweise liefern auf einzelne Mitspieler im hochkomplexen und unentwirrbaren Gemeinschaftsgefüge aus Erbe, Umwelt und Vergangenheit. Wenn wir tatsächlich ein biologisches Substrat dafür suchen, wie gut wir in der Schule abschneiden, dann können das keine Genvarianten oder Gengruppen alleine sein, auch nicht zu irgendeinem berechneten Prozentsatz. Unser Schicksal ergibt sich immer aus der Regulation tausender Gene in Billionen Zellen unseres Körpers zugleich. Und über diese Regulation bestimmt die Genetik nun mal immer nur zu einem gewissen Teil. Es gibt kein Übergewichts-Gen, keine Depressions-, Langlebigkeits-, Fitness- oder Intelligenz-Gene. Die Fußballer des aktuellen Deutschen Meisters haben – anders als viele Sportreporter meinen – ja auch kein Bayern-Gen. Genvarianten bestimmen über unsere Eigenschaften immer nur in Abhängigkeit von Umwelteinflüssen. So, wie umgekehrt der Text der Gene natürlich auch unseren Lebensstil und damit unsere Umwelt manipuliert.
Zu den wichtigsten Erkenntnissen der neuen Studie gehört es, Gene und Proteine identifiziert zu haben, an denen es sich lohnt, weiter zu forschen.
Die aktuelle Studie versucht, dieses Zusammenspiel weiter aufzuklären: Es handelt sich um eine so genannte genomweite Assoziationsstudie. Sie stellt eine statistische Beziehung her zwischen Variationen im Text des Erbgutmoleküls DNA und dem Bildungserfolg der analysierten Menschen. Das liefert den Forschern wiederum Hinweise auf 1.838 Gene, deren Regulation für den Bildungserfolg dieser Menschen offenbar eine gewisse Bedeutung hat. Es wundert kaum, dass die meisten dieser Gene Proteine mit wichtigen Funktionen bei der Arbeit und der Entwicklung des Nervensystems kodieren. Bildung ist vor allem Kopfsache. So gesehen ist es auch keine Überraschung, dass Variationen an oder in der Nähe dieser Gene den Bildungserfolg beeinflussen.
Zu den wichtigsten Erkenntnissen der neuen Studie gehört es also, Gene und Proteine identifiziert zu haben, an denen es sich lohnt, weiter zu forschen. Nicht etwa, weil ihre Varianten den Bildungserfolg vorhersagen könnten – das können sie nämlich nicht -, sondern weil es nun Hinweise auf ihre biologische Funktion gibt. Darauf gehen die Pressemitteilungen und Medienberichte aber leider nicht ein. Genauso wenig wie auf den mindestens ebenso spannenden Befund, dass kein einziges der eingekreisten Gene am Aufbau der Neuroglia genannten Isolierschicht zwischen den Nervenzellen beteiligt ist. Diese entscheidet nicht zuletzt über das Tempo, mit dem das Gehirn Daten überträgt, und es ist schon eine Überraschung, dass das den Schulerfolg nicht zu beeinflussen scheint.
Wie kamen die Forscher den Genen auf die Schliche? Sie stehen in enger Beziehung zu exakt 1.271 Stellen im 3,3 Milliarden Nukleotid-Basen langen DNA-Text, die die Forscher statistisch einkreisen konnten. Es handelt sich um singuläre Nukleotid-Polymorphismen, kurz SNPs genannt. Die SNPs verändern also die Regulation oder die Wirksamkeit von 1.838 Genen und das korreliert mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit mit der Dauer der Schullaufbahn der untersuchten Menschen.
Die Aussagekraft jedes einzelnen SNPs ist verschwindend gering.
Die Aussagekraft jedes einzelnen SNPs ist indes verschwindend gering. Genau deshalb war eine der umfangreichsten genetischen Analysen der Geschichte nötig, um überhaupt neue Daten zu gewinnen. In harten Zahlen ausgedrückt, lassen sich mit den von zahlreichen Forschern in zig Laboren und mit trickreichen Statistiken mühsam herausgefilterten 1.271 SNPs insgesamt gerade mal vier Prozent der Unterschiede im Bildungserfolg der 1,1 Millionen analysierten Menschen korrelieren. Ob die genetischen Varianten die Unterschiede zwischen den Menschen an diesem speziellen Punkt auch tatsächlich in diesem äußerst geringen Maß verantworten, ist dabei noch nicht mal gezeigt. Für kausale Zusammenhänge ist die Statistik in einer Studie dieser Art nämlich grundsätzlich blind.
Auf diesen Punkt weisen die Forscher um Co-Erstautor James Lee von der University of Minnesota Twin Cities übrigens selbst hin. Es scheint, als wollten sie sich auf gar keinen Fall dem Verdacht aussetzen, ihr Riesenaufwand diene der Wiederauferstehung des Gendeterminismus. Sie zitieren eine Studie, über die auch in dieser RiffReporter-Koralle Erbe&Umwelt bereits berichtet wurde (Eltern-Gene wirken sogar, wenn sie nicht vererbt werden). Der isländische Genetiker Kari Stefansson konnte darin mit Kolleg*innen Anfang des Jahres zeigen, dass die rein genetische Vorhersagekraft der Eltern für den Bildungserfolg ihrer Kinder zu rund 30 Prozent auf solche Genvarianten zurückgeht, die die Eltern gar nicht an ihre Kinder weitergeben. (Wir vererben ja nur einen einfachen Chromosomensatz und damit etwa die Hälfte unserer Gene.) Offenbar bestimmen diese Genvarianten das Verhalten der Eltern, und das hat wiederum ausschließlich als Umwelteinfluss eine Wirkung auf die Kinder. Es liegt also nahe, dass auch ein knappes Drittel der Wirkung der vererbten Genvarianten gar nicht auf den direkten biologischen Einfluss der Gene zurückzuführen ist, sondern auf den indirekten Einfluss über den genetisch mitbestimmten Lebensstil der Eltern.
In genomweiten Assoziationsstudien wie der hier besprochenen, kann man dazwischen nicht unterscheiden. Doch wer will das heutzutage überhaupt noch, außer vielleicht die Titelzeilenschreiber in den Medien, die um die Aufmerksamkeit ihrer Leser buhlen und der auf schnellen Zuwachs angewiesene Wissenschaftsbetrieb? Unser Bildungserfolg hängt immer zugleich vom Text der DNA ab, den wir von den Eltern geerbt haben, von der Umwelt, in der wir aufwachsen und die dabei unsere Gene sozusagen permanent neu interpretiert, und natürlich auch von den genetischen Prägungen des Erbguts aus einer Zeit, die vermutlich schon vor der Zeugung begann und sich über die Phase im Mutterleib bis in die ersten Lebensjahre hinein fortsetzt. Solche epi- oder nebengenetischen Effekte entscheiden, wie gut die involvierte Zelle die einzelnen Gene überhaupt benutzen kann.
Anders als man früher dachte und auch anders als bei vergleichsweise einfachen Merkmalen wie der Augen- oder Haarfarbe, sind komplexe Merkmale nicht das Resultat einer Addition aus Erbe und Umwelt. Sie entstehen als Produkt zahlreicher Komponenten. Das merkt man am besten daran, dass schon der Ausfall einer dieser Komponenten genügt, um den Einfluss der anderen spürbar mit herunterzureißen. Viele bemitleidenswerte Kinder von schwerst alkoholkranken schwangeren Müttern können hier als Beispiele dienen. Ihre genetischen Voraussetzungen mögen noch so optimal sein, ihre Chancen sind es nicht.
„Es würde komplett in die Irre führen, unsere Resultate so zu schildern, als hätten wir Gene für die Bildung gefunden“, sagt deshalb auch der Co-Autor Daniel Benjamin von der University of Southern California in einer Pressemitteilung der University of Colorado. Dumm nur, dass der Titel der Pressemitteilung eben dieses suggeriert. Er spricht von 1.200 Genen, die mit dem Bildungsabschluss verbunden seien. Dass an dieser Stelle SNPs und Gene verwechselt wurden: geschenkt. Aber dass ein Expertenstatement in der eigenen Meldung dem Titel widerspricht, das sorgte dann doch für einiges Schmunzeln in der Szene. „When your headline doesn`t get the memo“ twitterte Antonio Regalado, Biomedizin-Redakteur des MIT Technology Rewiew: „Wenn die Botschaft des Textes deinen Titel nicht erreicht.”
Immerhin hilft die gleiche Pressemitteilung dann doch noch bei der entscheidenden Interpretation der neuen Daten. „Sie bewegen uns klarer in eine Richtung, wie wir die genetische Architektur komplexer Verhaltensweisen besser verstehen“, wird Robbee Wedow von der University of Colorado und ebenfalls Co-Erstautor der Studie zitiert. Es geht also vor allem darum, das Handwerk zu erlernen, mit dem man komplexe Eigenschaften – von der Lebenserwartung über das Depressionsrisiko bis zur Intelligenz und dem Bildungserfolg – eines Tages auf der maßgeblichen Ebene ganzer Genregulationsnetzwerke erfassen kann.
Und genau hier kommt die wichtigste Erkenntnis der neuen Studie zum Tragen. Den Forschern gelang es nämlich, ihre an 1.271 SNPs gemessenen Erkenntnisse auf eine sehr viel höhere Zahl theoretisch damit assoziierter genetischer Veränderungen hochzurechnen. Sie ermittelten einen so genannten polygenen Wert – einen polygenic score. Je nach Methode gelang es mit diesem Wert, aus den ermittelten rein genetischen Daten indirekt die Unterschiede im Bildungserfolg zwischen den untersuchten Menschen zu 11 bis 13 Prozent vorherzusagen. (Einen kausalen Zusammenhang zwischen den Genvarianten und dem unterschiedlichen Bildungserfolg der Menschen kann man so, anders als viele Kolleg*innen suggerierten, natürlich nicht nachweisen.) Das ist schon mal eine andere Hausnummer als vier Prozent. Und es ist auch der Auslöser für die enthusiastischen Schlagzeilen über angebliche Bildungs-Gene und die Abhängigkeit des Schulabschlusses vom Erbgut.
Ein nicht ganz unwichtiges, äußerst optimistisch stimmendes Fazit aus diesem Resultat wurde in der Berichterstattung allenfalls verschämt am Rande präsentiert: Wenn maximal 13 Prozent des Bildungserfolgs nach jetzigem Wissensstand in irgendeiner Weise mit den genetisch geerbten Varianten im Text der DNA zusammenhängen, dann tun es mindestens 87 Prozent – stand heute – NICHT. Das heißt aber auch: Vergesst die Gene! Selbst wenn man in noch größer angelegten Studien noch eine Menge weiterer SNPs finden wird, die den polygenen Wert sicher verbessern werden: Wir haben den Bildungserfolg natürlich immer auch selbst in der Hand. Ändert die Lebensbedingungen der Menschen. Ändert bereits die Lebensbedingungen ihrer Eltern. Sorgt für mehr Wohlstand, bessere Schulen, gut ausgebildete Pädagog*innen. Verringert das Risiko, dass die frühkindliche Bindung zwischen Eltern und Kind scheitert. Verringert das Risiko, dass Kinder Gewalterfahrungen machen oder vernachlässigt werden. Schickt Hebammen in die jungen Familien, um Eltern unberechtigte Sorgen zu nehmen. Kümmert euch um traumatisierte Kriegsflüchtlinge und ihre Kinder. Und so fort.
„Wir sollten ändern wie wir leben – nicht, wie wir sind.“ (Steve Jones)
Auf die Frage, wie wir wohl am besten in eine möglichst gute Zukunft gelangten, antwortete der bekannte Londoner Genetiker Steve Jones einmal: „We don`t change the way we are. We change the way we live.“ Wir sollten ändern wie wir leben – nicht, wie wir sind. Die neue Studie von den eingebildeten Bildungs-Genen gibt ihm mehr als Recht: Anders als es uns das Zeitalter der Genetik lehrte, sind es eben nicht die Gene, die uns Macht über komplexe Eigenschaften verleihen. Es hilft kein Rassenwahn, keine Fremdenfeindlichkeit, keine Eugenik. Wir sind, wie wir sind, und der genetische Einfluss auf die Genregulation ist so komplex, so unfassbar breit gefächert, und ganz nebenbei offenbar auch noch so gering, dass diesbezüglich alle Menschen irgendwie gleich sind.
Jaja: Es ist die alte, langweilige Machtfrage. Haben die Gene Macht über uns, können wir uns diese Macht aneignen? Nein. Wenn angesichts des Begriffs der Bildungs-Gene manche Menschen jetzt wieder davon träumen, man könne mit der Gentechnik eines Tages supergebildete Menschen erzeugen, so müssen die neuen Resultate sie enttäuschen. Aus der Traum.
Wenn wir die sensationellen neuen Erkenntnisse der Genetik nämlich richtig interpretieren, begreifen wir: Es wird auf immer und ewig unmöglich sein, die DNA an vielen tausend Basen zugleich gezielt zu verändern und somit die genetische Macht über komplexe Eigenschaften zu gewinnen. Vor allem aber: Der ganze Aufwand lohnt sich nicht. Selbst wenn es gelänge, könnte man auf der Basis des heutigen genetischen Wissens damit bestenfalls 13 Prozent des Bildungserfolgs manipulieren. Ändern wir hingegen wie wir leben, haben wir theoretisch Zugriff auf das gesamte Genregulationsmuster in sämtlichen beteiligten Körperzellen zugleich. Wir schrauben auf diesem Weg – überspitzt formuliert – an hundert Prozent des Bildungserfolgs, denn wir verändern ja auch die Regulation jener Gene, an denen gerade erst die vermeintlich maßgeblichen SNPs entdeckt wurden. (Wer gerade denkt, ich könnte nicht rechnen, sei auf das Ende dieses Kommentars verwiesen.)
Schade eigentlich, dass diese Erkenntnis in der Öffentlichkeit nicht ankommt, weil sie von den Medien nicht transportiert wird – vermutlich aus dem einfachen Grund, weil sie ziemlich kompliziert ist.
Schade eigentlich, dass diese Erkenntnis in der Öffentlichkeit nicht ankommt, weil sie von den Medien nicht transportiert wird – vermutlich aus dem einfachen Grund, weil sie ziemlich kompliziert ist. Dabei haben die Wissenschaftler in ihrem eigenen Beitrag darauf hingewiesen, dass es eine Menge zusätzlicher Limitierungen gibt, dass der Einfluss des sozialen Umfelds auf die Bildungschancen zum Beispiel noch viel größer sein dürfte, wenn man die Gesamtbevölkerung betrachtet.
Der bislang ermittelte polygene Wert gilt nämlich nur für Menschen europäischer Abstammung. In anderen Gruppen, etwa Amerikanern afrikanischer Herkunft, sinkt seine Vorhersagekraft, vermutlich weil dort andere soziale Bedingungen herrschen. Aus der Intelligenzforschung ist dieser Effekt schon lange bekannt: Angaben zur Erblichkeit von Merkmalen wie der Intelligenz gelten immer nur für die Gruppe, in der sie getestet wurden. In wohlhabenden Schichten ist die Erblichkeit in aller Regel deutlich größer als im armen Teil der Bevölkerung. Die Wahrscheinlichkeit, dass die untersuchten Menschen optimal gefördert wurden, ist bei Reichen schlicht größer. Die Umwelten der Proband*innen sind ähnlicher. Der statistisch ermittelte Umwelteinfluss sinkt. Der Einfluss der Gene steigt entsprechend, aber auch hier nur statistisch. Absolut betrachtet bleibt die Wirkung der Genvarianten gering: Sie beeinflussen den IQ der Probanden nur um wenige Punkte.
Doch warum erklären uns all das die Zeitungen und Internet-Portale nicht? Warum titeln sie von Bildungs-Genen und tun so, als würden sie nicht wissen, dass es einen gewaltigen Unterschied macht, ob man sich Erbkrankheiten wie Mukoviszidose, Chorea Huntington oder familiären Brustkrebs anschaut, bei denen tatsächlich eine oder zwei mutierte Gene Schicksal spielen, oder hochkomplexe Wesenszüge wie Intelligenz, Bildungserfolg, Wohlbefinden? Klar finden sich in den Texten ein paar Relativierungen. Sie ändern aber nichts an der Grundbotschaft: Die Gene haben die Macht!
Liegt es vielleicht daran, dass die Leser sich vor allem über Beiträge freuen, die ihr Weltbild bekräftigen?
Liegt es vielleicht an etwas, was wir Wissenschaftsjournalist*innen – und da nehme ich mich selbst jetzt gar nicht aus – zutiefst verinnerlicht haben: Dass die Leser sich vor allem über Beiträge freuen, die ihr Weltbild bekräftigen? Der Blick in den passenden Artikel bei ZEIT-Online scheint das mehr als zu untermauern. Der eigentlich lächerlich geringe Wert von 11 bis 13 Prozent, der sich noch dazu als theoretischer Prognosefaktor aus den genetischen Daten von 1,1 Millionen Menschen ergibt, wird von ZEIT-Online uminterpretiert in ein Resultat, das „den Einfluss des Erbguts auf die Intelligenz und den Bildungserfolg“ bestätigt.
„Die Wissenschaft“ sei sich „heute weitgehend einig“, dass unser Erbgut „erheblichen Einfluss“ darauf habe, wie intelligent wir seien, beginnt der Artikel. Unterschiede in der Intelligenz seien „zu mindestens 50 Prozent genetisch determiniert“. „Vermutlich“ seien sie „sogar zu 80 oder 90 Prozent auf Gene zurückzuführen“. Klar: Wenn man so fest von etwas überzeugt ist, fällt es auch schwer, Indizien für das Gegenteil zu registrieren.
Die bisherigen Zahlen über die Genetik der Intelligenz stammen überwiegend aus Zwillingsstudien. Diese haben methodische Schwächen, und sie gelten wie erklärt immer nur für die Gruppe, die auch untersucht wurde. (Darauf bin ich im Kapitel Intelligenz und Erbe im Buch Gesundheit ist kein Zufall ausführlich eingegangen.) Was also, wenn es demnächst eine riesengroße genomweite Assoziationsstudie zur statistischen Beziehung zwischen den zahllosen menschlichen Genvarianten und der Intelligenz gibt? Was also, wenn die Zahlen für die Gendeterministen ähnlich ernüchternd sein dürften wie jene aus der aktuellen Studie zum Bildungserfolg? Müssen wir dann eine noch größere Studie aufsetzen? Werden wir uns dann irgendwann den 50 bis 80 oder gar 90 Prozent aus manchen Zwillingsstudien annähern?
Ich wage das ehrlich gesagt sehr zu bezweifeln. Sicher werden die polygenen Werte für Bildungserfolg oder Intelligenz weiter steigen. Aber extrem hohe Werte werden wir immer nur bekommen, wenn die Gruppen relativ einheitlich sind. Je unterschiedlicher die Lebensumstände der untersuchten Menschen sein werden, desto weniger mächtig wird die Genetik erscheinen. Und die Werte aus den Zwillingsstudien werden ohnehin nie erreicht werden. Nicht nur, weil diese Studien Schwächen haben, sondern vor allem deshalb, weil wir den neuesten Erkenntnissen der Epigenetik zufolge neben dem Text der Gene auch Anweisungen zur Regulation dieser Gene vererben.
Wir sollten also endlich aufhören, die Einflüsse der Umwelt und des genetischen Erbes gegeneinander aufzurechnen und zu hundert Prozent zusammenzuaddieren. Wir sollten akzeptieren, dass komplexe Eigenschaften immer zu hundert Prozent vom Text der Gene und zugleich zu hundert Prozent von der Umwelt inklusive der prägenden Einflüsse aus der Vergangenheit bestimmt werden. Merkmale sind das Produkt aus Erbe, Umwelt und Vergangenheit, nicht die Summe. Was wir sehen, wenn wir das Wunder Mensch betrachten, ist nicht etwa das Resultat eines Wettkampfs zweier Einflussgrößen – Gene und Umwelt -, sondern immer das Ergebnis ihrer permanenten Kooperation.
Eigentlich wäre das ein Grund zur Freude. Denn es hieße, wir hätten auch unsere Intelligenz zum Großteil selbst in der Hand. Nur: Wird das die Öffentlichkeit überhaupt mitbekommen?