Genetiker machen immer mehr genomweite Assoziationsstudien und berechnen polygene Werte. So wollen sie auch unsere komplexesten Merkmale wie Intelligenz und Bildungserfolg vorhersagen. Die Medien sind begeistert. Doch was ist wirklich dran am Hype? Ein Kommentar.
Eine Titelgeschichte in der ZEIT, ein Aufmacher im Wissen der Süddeutschen Zeitung. Veröffentlichungen des bekannten britischen Verhaltensgenetikers Robert Plomin in Fach- und Publikumszeitschriften und viele weitere Artikel in diesen und anderen populären Medien lassen keinen Zweifel aufkommen: Die Gen-Deterministen schlagen zurück. Dem aufmerksamen, naturwissenschaftlich interessierten Leser kann in diesem Sommer und Herbst nicht entgangen sein, aus welcher Richtung gerade der biologische Wind weht. Die Gene sind wieder an der Macht. „Eine neue Genetik der Intelligenz" hat Robert Plomin gar versprochen.
Wenn es um die Frage geht, was unser Schicksal bestimmt, lautet die hippste Antwort derzeit: Es sind die Varianten von tausenden Genen zugleich. Jede einzelne hat nur einen winzig kleinen Einfluss, aber in der Summe sind sie Determinanten. Polygene Werte können das quantifizieren – und immer bessere und größere Zwillingsstudien auch. Was nun?
Gerade erst hatten wir uns von den völlig übertriebenen Versprechungen erholt, die uns im Zuge des Humangenomprojekts gemacht worden waren. Die Lebenserwartung sollte um 25 Jahre steigen, allein deshalb, weil wir den Text der Gene lesen lernten. Das hatte uns US-Präsident Bill Clinton im Jahr 2000 versprochen. Im Nachhinein waren solche Aussagen den beteiligten Forschern wie zum Beispiel Craig Venter schlicht „peinlich". Das Fachblatt Nature schrieb Jahre später, man habe damals ganz vergessen, dass nur eine Hand befreit worden sei. Die andere Hand, die Erforschung der Genregulation, sei weiter auf dem Rücken gefesselt gewesen.
Seitdem durften wir also mühsam lernen, dass die ewige Konkurrenz von Erbe und Umwelt ausgesorgt hat, dass der Text der Gene für sich selbst genommen wenig bedeutet, dass er eben nicht alles ist – genauso wenig wie der Umwelteinfluss, den man vor dem Zeitalter der Genetik zum Maß aller Wesens-Dinge erklärt hatte. Die Genregulation ist mindestens genauso wichtig wie die Gene selbst. Wir brauchen beide Hände. Und damit auch die Umwelt. Denn bei der maßgeblichen Entscheidung, welches Gen wann, wo, in welcher Zelle und unter welchen äußeren Umständen abgelesen werden kann und welches nicht, hat die Umwelt ein gewichtiges Wörtchen mitzureden.
Komplexe Merkmale sind das Produkt von Erbe, Umwelt und Vergangenheit
Komplexe Merkmale wie Gesundheit, Intelligenz, Lebenserwartung, Bildungserfolg oder Persönlichkeit sind deshalb immer das untrennbare Resultat aus der Summe der individuellen Varianten tausender geerbter Gene und der Umwelteinflüsse und Lebensstilfaktoren, die mit diesen Genen kooperieren, die sie antreiben – und die ein Stück weit auch von diesen Genen angetrieben werden. Es gilt mittlerweile als müßig, wenn nicht gar als gestrig, den Anteil von Erbe und Umwelt an einem komplexen Merkmal in Prozentzahlen ausdrücken zu wollen. Schon im August habe ich an dieser Stelle in einem Kommentar, der sich mit einer aktuellen Studie zum polygenen Wert des Bildungserfolgs beschäftigt, darauf hingewiesen, dass Erbe und Umwelt zu solchen Merkmalen letztlich beide zu je hundert Prozent beitragen. Dieser Kommentar ist ab jetzt kostenlos zu lesen.
Wen es interessiert, der wird auch eine Menge Hintergrundinfos zum Thema in meinem Buch Gesundheit ist kein Zufall. Wie das Leben unsere Gene prägt finden (DVA 2017). Nicht umsonst heißt der erste von drei Teilen des Buchs „Mehr als Lebensstil plus Gene: Der neue Blick auf Volkskrankheiten". Und das erste Kapitel heißt: „Vergesst die Gene! Vergesst die Umwelt!"
So weit so gut. Folgen wir nun dem aktuellen Hype um Plomin und Co., dürfen wir all das wieder vergessen. Die für unsere Gesundheit und Persönlichkeit maßgeblichen Botschaften stecken angeblich größtenteils im Text der Gene. Auch komplexe Merkmale sind danach zu weiten Teilen schlicht genetisch determiniert. Determinanten sind allerdings nicht mehr einige wenige Intelligenz-, Übergewichts- oder Depressions-Gene, wie man früher dachte. Sondern es ist die Kombination aus den Varianten von tausenden Genen zugleich, die den neuen Gen-Deterministen zufolge unser Schicksal bestimmt.
Man müsse nur möglichst viele Menschen genomisch analysieren, am besten die DNA von mehreren Millionen Menschen miteinander vergleichen, dann finde man schon genügend Korrelationen zwischen im Idealfall abertausenden winzigen genetischen Unterschieden und hochkomplexen Merkmalen wie Bildungserfolg, Intelligenz oder dem Hang zu Persönlichkeitsstörungen oder Übergewicht. Aus diesen Korrelationen könne man dann sogar Werte berechnen – polygene Werte -, die zuverlässige statistische Prognosen erlauben, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein gewisses Merkmal – Hauptschulabschluss oder Promotion zum Beispiel – eintreten werde.
Bitte nicht falsch verstehen: Polygene Werte sind sicher ein fantastisches Werkzeug. Erstmals haben Forscher eine vernünftige, zielführende Strategie, wie sie berechnen können, wie hoch der Anteil der streng genetisch erblichen Variablen im menschlichen DNA-Code an komplexen Persönlichkeitsmerkmalen und dem Risiko vieler Volkskrankheiten tatsächlich ist. Wir sollten aber nicht den Fehler machen, diesen Umstand erneut zur Schicksals- oder gar Machtfrage zu stilisieren. Niemand wird jemals einen Gentest bei einem Säugling machen können und zuverlässig vorhersagen können, mit welcher Wahrscheinlichkeit dieser Mensch eines Tages das Abitur macht oder einen Typ-2-Diabetes bekommt. Dazu ist die Sache schlichtweg zu komplex. Die Sache ist das Leben!
Auch nicht vererbte Gene wirken
Wenn zum Beispiel ein bestimmter Mix aus Genvarianten tatsächlich dafür sorgt, dass sich Eltern gerne viele gehaltvolle Bücher ins Regal stellen, dann werden diese Genvarianten indirekt auch die Bildungschancen der Kinder erhöhen. Denn die Kinder werden vermutlich früher vernünftige Literatur lesen als andere Kinder. Da die Kinder ungefähr jeweils die Hälfte der Genvarianten ihrer Eltern erben, wird man also nun auch aus ihrem eigenen Gentext gewisse Rückschlüsse auf ihre Bildungschancen ziehen können. Aber: Ganz abgesehen davon, dass es hier die Gene der Eltern sind, die wirken, wäre es nicht sehr viel einfacher, schlicht zu zählen, wie viele Bücher im Regal der Eltern stehen? Und wäre es dann nicht die richtige Konsequenz, ganz allgemein dafür zu sorgen, dass Menschen mehr Bücher lesen und sich mehr Bücher kaufen können?
Was ist hier der Umwelteinfluss, was die Wirkung der Gene? Und vor allem: Wie erreiche ich für die Zukunft mehr: Indem ich die Gene ändere? (By the way: das will niemand, und es geht auf polygener Ebene gar nicht.) Oder indem ich die Umweltbedingungen verbessere?
An anderer Stelle wurde hier bei Erbe&Umwelt bereits darauf hingewiesen, dass genomweite Assoziationsstudien, aus deren Resultaten die polygenen Werte berechnet werden, nur Korrelationen messen. Sie belegen keinen kausalen Zusammenhang in dem Sinn, dass ein bestimmter Mix aus Genvarianten ein bestimmtes Merkmal direkt verursacht. Im obigen Beispiel ist der eigentliche Auslöser des Bildungserfolgs der Kinder die Benutzung der elterlichen Bibliothek. Schließen die Eltern den Zugang zu ihren Büchern ab, damit die Kinder sie nicht lesen können, bringen ihre bücherfreundlichen Genvarianten den Kindern gar nichts. Sehr gut veranschaulicht dieses Paradox der Umstand, dass Genvarianten der Eltern auch dann die Eigenschaften ihrer Kinder prägen können, wenn sie gar nicht an diese vererbt worden sind.
Die anderen Studien, die immer wieder bemüht werden, wenn es um die Erblichkeit von Merkmalen geht, sind Zwillingsstudien. In ihnen kommen oft erstaunlich hohe Werte heraus, die weit höher liegen als die Resultate, die aus genomischen Daten ermittelt wurden. Da die Gen-Deterministen annehmen, dass sie in den Zwillingsstudien tatsächlich exakt den Anteil der streng genetischen Erblichkeit messen, gehen sie felsenfest davon aus, man könne diese Lücke alleine dadurch schließen, dass man immer mehr Menschen in die genomweiten Assoziationsstudien einschließt. Nach dieser Theorie müsste man nur das Genom sämtlicher Erdenbewohner lesen und Korrelationen zwischen DNA-Varianten und einem bestimmten Merkmal berechnen, schon bestätige sich das Resultat aus den Zwillingsstudien.
Doch was wäre, wenn man zusätzlich alle Zwillinge dieser Welt in einer riesigen Zwillingsstudie untersuchte? Dann würde mit Sicherheit der ermittelte Wert der Erblichkeit der allermeisten Merkmale deutlich zurückgehen. (Und es würde ganz nebenbei das Ausmaß der tatsächlichen Unterschiede zwischen den Menschen deutlich steigen.) Die Resultate beider Ansätze – der genomischen Analysen und der Zwillingsstudien – würden sich irgendwo in der Mitte treffen. Viele Gen-Deterministen übersehen nämlich, dass die Resultate aus genetischen Studien inklusive Zwillingsstudien immer nur für jene Gruppe gelten, in der sie gemessen wurden. Und man kann noch so sehr versuchen, störende Einflüsse durch mehr oder weniger gewollte ähnliche Umweltbedingungen herauszurechnen, es wird nie ganz gelingen. Wird eine untersuchte Gruppe also immer größer, werden auch die Unterschiede in der Umwelt größer und damit zwangsläufig auch deren Einfluss auf Gesundheit und Persönlichkeit.
Und dann gibt es noch die epigenetische Vererbung
Noch gar nicht berücksichtigt ist bei dieser Einschätzung, dass die Prägung durch Umwelteinflüsse – vor allem auch die biologische, epigenetisch gespeicherte Prägung – lange vor unserer Geburt beginnt. Immer mehr Hinweise zeigen, dass bereits die Erfahrungen der Eltern, vielleicht sogar der Groß- und Urgroßeltern das Wesen unserer komplexen Eigenschaften mitbestimmen. Erst in diesen Wochen haben Forscher Resultate veröffentlicht, nach denen traumatische Erlebnisse, die Mäuse kurz nach ihrer Geburt durchmachen müssen, einen messbaren Einfluss bei ihren Urenkeln hinterlassen. Wenn Anweisungen zur Genregulation aber tatsächlich auch beim Menschen über mindestens drei Generationen vererbt werden, dann ist klar: Unsere Keimbahn – die Ei- und Samenzellen – transportiert mehr Informationen als den bloßen Text der Gene. Sie enthält auch Anweisungen, wie das kommende Leben diese Gene vor dem Hintergrund einer bestimmten Umwelt interpretiert. Diese Vorstellung dürfte den Gen-Deterministen Schauer des Entsetzens über den Rücken jagen.
Lesen Sie in diesem nur für Erbe&Umwelt-Abonnenten oder nach einer Einmalzahlung vollständig sichtbaren Beitrag mehr über die neuesten Entwicklungen bei der Erforschung der so genannten transgenerationellen epigenetischen Vererbung bei Mäusen:
Und was lernen wir aus alledem? Natürlich sind genomische Studien wichtig. Und auch Zwillingsstudien verraten uns viele spannende Details. Aber wir sollten endlich damit aufhören, unser Schicksal – oder auch nur einen gewissen Prozentsatz davon – nur in den Genen zu verorten. Jeder Teil von uns entsteht aus dem, was biologische Programme in gegenseitiger Wechselwirkung mit der Umwelt aus dem Text unserer individuellen Gene machen. Es ist nun mal nur das Leben, das wir leben. Wir leben nicht unsere Gene.
Selbst wenn sich eines Tages herausstellt, dass tatsächlich wichtige komplexe Merkmale existieren, auf die die Umwelt einen vergleichsweise geringen Einfluss hat, so bleibt uns dennoch nichts anderes, als am Rädchen soziales Umfeld und Lebensstil zu drehen. Nur die Komplexität des Lebens wird der Komplexität des Lebens gerecht.