Das Amselsterben ist in Norddeutschland angekommen

Das Usutu-Virus rafft massenweise Amseln dahin. Jetzt taucht ein weiterer Erreger auf

vom Recherche-Kollektiv Flugbegleiter:
7 Minuten
Eine tote Amsel liegt im Gras.

Als Hanna Jöst im Jahr 2010 ein paar Mücken der Gattung Culex im Garten ihrer Eltern in Weinheim bei Heidelberg sammelte, ahnte die Biologin nicht, dass die Insekten für Schlagzeilen sorgen würden. Die Biologin sammelte für die „Kommunale Arbeitsgemeinschaft zur Bekämpfung der Schnakenplage“ (Kabs), die am Oberrhein Stechmücken überwacht und bekämpft, und für das Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin (BNI) in Hamburg hunderttausende Mücken. Für ihre Doktorarbeit schaute sie sich in verschiedenen Gebieten Deutschlands an, welche Krankheitserreger die Stecher in sich tragen. Und wurde fündig.

Acht Jahre später steht das Telefon bei Marco Sommerfeld nicht still. Der Referent für Vogelschutz beim Hamburger Landesverband des Naturschutzbundes Deutschland (Nabu) bekommt seit drei Wochen täglich Anrufe und Mails von Menschen, die kranke oder tote Amseln gefunden haben – 5000 Meldungen mit 10.000 Vögeln hat der Nabu-Bundesverband registriert. Besonders betroffen sind in diesem Jahr Hamburg und das westliche Niedersachsen, aber auch Bremen und Schleswig-Holstein. „Es wurden zwar auch andere Arten wie Blaumeisen, Gimpel, Zaunkönig, Rotkehlchen oder Heckenbraunelle gemeldet, aber gerade bei den Amseln haben wir sofort an das Usutu-Virus gedacht, weil dieses Virus ja schon seit 2011/12 in Südwestdeutschland viele dieser Vögel getötet hat.“

Eine Amsel mit müden Augen sitzt auf einem Stein.
Apathisch und krank: Eine am Usutu-Virus erkrankte Amsel sieht gerupft aus und wirkt blass.

Vögel können sich nicht direkt bei Artgenossen anstecken. Es ist die Hausmücke Culex pipiens, die das Virus überträgt. Die Symptome: Die Vögel wirken apathisch, sie fliehen nicht mehr, wenn sich Menschen ihnen nähern, und sterben binnen weniger Tage.

Die Ursache ist inzwischen bekannt: Hanna Jöst wies mit ihren Doktorarbeitsbetreuern Norbert Becker und Jonas Schmidt-Chanasit in den Mücken aus dem Garten in Weinheim das Usutu-Virus nach. Der Erreger war kein Unbekannter. Forscher fanden ihn erstmals in den 50er Jahren an den Ufern des Usutu-Flusses in Swasiland in Südafrika. Vom Jahr 2001 an fiel Wissenschaftlern und Naturschützern in Österreich auf, dass vermehrt Wildvögel starben, unter ihnen besonders viele Amseln. Ihr Bestand schrumpfte lokal um etwa 90 Prozent. Wissenschaftler fanden das Usutu-Virus, und bei Untersuchungen älterer Tierkadaver stellte sich heraus, das schon 1996 ein Vogelsterben in Italien auf diesen Erreger zurückzuführen war.

Im Sommer 2011 starben im Raum Heidelberg Tausende Amseln

„Durch den Fund aus Weinheim waren wir gut vorbereitet“, erinnert sich Jonas Schmidt-Chanasit, „und als dann die ersten Vögel gestorben sind, lag die Vermutung nahe: Ah, das könnte das Usutu-Virus sein.“ Der Verdacht bestätigte sich. In jenem Spätsommer starben zwischen Heidelberg, Mannheim und Karlsruhe Schätzungen zufolge 40.000 Amseln.

Ein Bartkauz lugt hinter einem Baumstamm hervor und blickt in die Kamera.
Neben Amseln sind Bartkäuze besonders anfällig für Erkrankungen mit dem Usutu-Virus. In einem solchen Vogel aus Halle an der Saale fanden Experten des Friedrich-Loeffler-Instituts für Tiergesundheit auf der Insel Riems jetzt das West-Nil-Virus – ein Novum für Deutschland.

Jetzt im Spätsommer herrschen schwere Zeiten für Amseln: Die anstrengende Brutsaison ist vorbei, die Tiere machen die Mauser durch, wechseln also ihr Federkleid. „In dieser Phase sind die Tiere besonders anfällig für Infektionen“, sagt Jonas Schmidt-Chanasit. Und die Stechmücke, die das Virus überträgt, die Hausmücke Culex pipiens, ist ein Stadtbewohner – genau wie die Amsel. Die Mücken sind um diese Jahreszeit vollgepackt mit Viren und übertragen die Erreger besonders effektiv.

Was genau die Tiere so anfällig macht, wissen die Forscher noch nicht. Auch in Haussperlingen und Staren haben sie das Virus gefunden, doch diese Vögel wurden nicht häufiger verendet gefunden. Anders bei einer weiteren äußerst anfälligen Art: dem Bartkauz. In freier Wildbahn kommen diese Vögel nur in Skandinavien vor, aber hierzulande und in Österreich zum Beispiel werden sie in Wildparks und Zoos gehalten. Schon beim Ausbruch in Österreich beobachteten Ornithologen, dass in solchen Parks und Zoos vermehrt tote Bartkauze gefunden wurden. In Deutschland wiederholte sich das – zum Beispiel in Berlin, einer Stadt, die ansosnten. „Sogar in Gebieten, wo nur sehr wenig Mücken mit dem Virus infiziert sind, ist der Bartkauz sofort betroffen“, sagt Jonas Schmidt-Chanasit.

Forscher finden erstmals das West-Nil-Virus in Deutschland

Jetzt kommt ein weiterer Erreger hinzu: Wie das Friedrich-Loeffler-Institut für Tiergesundheit (FLI) am 29. August 2018 meldete, haben die Wissenschaftler einen weiteren Erreger entdeckt, der für Deutschland neu ist: das West-Nil-Virus. Auch im Referenzlabor für diese Viren auf der Insel Riems bei Greifswald untersuchen Wissenschaftler dieser Tage tote Vögel. In einem Bartkauz, der in Halle an der Saale tot in seiner Voliere gefunden wurde, konnten sie den Erreger nachweisen.

West-Nil und Usutu sind nahe verwandt. Sie gehören beide zu den Flavi-Viren. Die Erreger sind so ähnlich, dass Tests, mit denen Forscher zum Beispiel routinemäßig Blutspenden auf das West-Nil-Virus untersuchen, auch auf Usutu ansprechen. Die Experten sprechen dabei von Kreuzreaktivität. Denn die beiden Viren können auch Menschen infizieren. Zwar bemerken die wenigsten überhaupt etwas von einer Ansteckung oder kommen mit Grippesymptomen davon. Bei Patienten mit schwachem Immunsystem können die Erreger aber schwerwiegende Komplikationen hervorrufen – bis zu Gehirnentzündungen. „Hier waren wir sicherlich auf einem Auge blind in den letzten Jahren“, räumt Jonas Schmidt-Chanasit ein: „Wir müssen aufpassen, dass uns auf Ebene der humanen Infektionen nicht etwas durch die Lappen geht, sowohl was Transplantationen und Blutspenden anbetrifft als auch die klinisch auffälligen Fälle zum Beispiel mit einer Gehirnentzündung, wo wir eben in den letzten Jahren nicht an Usutu gedacht haben.“

Wie der Fund des West-Nil-Virus die Lage verändert, lässt sich noch nicht zuverlässig sagen. Bislang ist nicht einmal bekannt, woher der Erreger stammt. Das West-Nil-Virus kommt in Afrika und verschiedenen europäischen Ländern vor allem rund um das Mittelmeer schon seit Jahrzehnten immer wieder vor. So schlimm wie bei seiner Einschleppung in die USA im Jahr 1999 dürfte es nach Einschätzung der Experten allerdings nicht werden: Damals sorgte das Virus unter den Vögeln in den Vereinigten Staaten für ein Massensterben. Im Central Park in New York City fielen tote Vögel von den Bäumen. In Wellen breitete sich West-Nil über den ganzen Kontinent aus und hinterließ auf seinem Weg massenweise tote Vögel. Denn kein Tier war jemals zuvor mit dem Erreger in Kontakt gekommen. Das ist in Deutschland anders: Forscher vermuten, dass Zugvögel aus Afrika den Erreger immer wieder nach Deutschland eingeschleppt haben. Die Wissenschaftler haben ihn lediglich noch nie nachweisen können.

Ein schwarzer Vogel liegt auf der Seite auf dem Asphalt.
Vor allem in Städten in Norddeutschland finden Menschen zurzeit viele tote Amseln.

Usutu ist eine Krankheit der Städte

Was Beobachter bei Usutu verwundert: Außerhalb von Städten fehlen Meldungen über tote Amseln oder Eulen. Das könnte nach Jonas Schmidt-Chanasits Ansicht verschiedene Gründe haben: Möglicherweise hängt es damit zusammen, dass die Überträgermücke in Menschennähe lebt und im Wald andere Mückenarten vorherrschen, die das Virus schlechter weitergeben können. Oder es kommt vom Flugverhalten der Mücken: „Wenn eine Eule sich in 20 Meter Höhe aufhält, und die Mücken, die das Virus übertragen, können gar nicht so hoch fliegen, dann ist die Eule sicher“, sagt der Virologe vom BNI: „Eine Amsel, die eher in Gebüschen nach Regenwürmern pickt, ist vielleicht dem Überträger viel stärker ausgesetzt.“ Die Zusammenhänge seien ausgesprochen komplex, und vieles ist bislang ganz einfach unbekannt.

Marco Sommerfeld vom Nabu schätzt, dass beim aktuellen Usutu-Ausbruch in Norddeutschland mehr Vögel betroffen sind als bei vorangegangenen Ausbrüchen. Von 2010 an hat sich der Erreger entlang des Rheins nach Norden und Süden ausgebreitet. Doch erst 2016 gab es erneut ein großes Amselsterben. Aus der Umgebung sind zwar wieder Amseln eingewandert. Doch Renke Lühken vom BNI hat in einer Studie ermittelt, dass die Amselpopulation in den Epidemie-Gebieten dauerhaft um 15 Prozent geschrumpft ist.

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Interessanterweise haben die Ereignisse aber weder in den Amsel-Zahlen für Baden-Württemberg noch für die ganze Bundesrepublik Spuren hinterlassen. Zwar wurden bei der bundesweiten „Stunde der Gartenvögel“ und der „Stunde der Wintervögel“ des Nabu lokale Rückgänge verzeichnet. Doch Dachverband Deutscher Avifaunisten hat in seinen Erhebungen, die bis zum Jahr 2016 ausgewertet sind, keinen Effekt festgestellt. Im Gegenteil: Dem DDA-Monitoring zufolge wachsen die Amselbestände in Deutschland.

Nabu-Aufruf: Senden Sie tote Vögel nach Hamburg

Um die Situation in Norddeutschland besser untersuchen zu können, bitten Nabu und BNI Menschen, die tote Vogel finden, das Tier ins Labor nach Hamburg zu schicken. Gut 130 Tiere haben Jonas Schmidt-Chanasit und seine Mitarbeiter dieses Jahr bislang erhalten. In rund einem Drittel fanden sie Usutu. Finder sollten sich mit Handschuhen oder einer umgestülpten Plastiktüte schützen, wenn sie tote Vögel anfassen. Wie genau die Tiere zu handhaben und der Versand zu organisieren ist, lässt sich auf den Websites von Nabu und BNI nachlesen. Marco Sommerfeld bittet aber, von Anrufen abzusehen, weil er sich vor Anfragen kaum retten kann.

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